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Die Rekonstruktionen der tödlichen Abfolgen

Gedenken an vergessene Deportierte

FH-Studenten bringen ein dunkles Kapitel der Stadtgeschichte ans Licht. Ihre Recherchen belegen „Krankenmorde“ an Bethel-Patienten im Nationalsozialismus. Schulen sind jetzt aufgerufen, dazu zu forschen.

Von Christine Panhorst | NW

Ein Stolperstein erinnert an die aus Bethel deportierte Jüdin Olga Laubheim. Für weitere deportierte Bethel-Patienten soll es nun eine vergleichbare Gedenkkultur in der Stadt geben, das hofft die Forschungsgruppe an der Fachhochschule Bielefeld.
Foto: Wolfgang Rudolf





26 Schicksale gerieten in Vergessenheit. Es sind die Schicksale von Bielefelderinnen und Bielefeldern, die in der Zeit des Nationalsozialismus deportiert, später gezielt getötet wurden oder an den Folgen menschenunwürdiger Lebensbedingungen verstarben. Die Gemeinsamkeit: Sie waren nicht jüdischen Glaubens und galten als „unheilbar krank“. Durch neue Recherchen hat eine Gruppe Studenten um FH-Professor Claus Melter und die Studentin Sevim Dik nun aufgedeckt, wer diese Opfer von „Krankenmorden“ waren. Viele waren Bethel-Patienten. Heute, auf den Tag genau 75 Jahre nach Weltkriegsende, gibt es für sie noch immer keine Gedenkkultur. Das soll sich ändern.
  • Die Bielefelderin Hedwig Möller, am 21. November 1941 aus Bethel nach Gütersloh verlegt, zwei Jahre später als „ungeheilt“ in die Heilanstalt Meseritz deportiert und dort nach elf Tagen im Alter von 37 Jahren verstorben.
Seit 2017 gibt es die Forschungsgruppe an der Fachhochschule Bielefeld, die Bielefelds und Bethels Geschichte im Nationalsozialismus erforscht. Immer wieder geht es dabei um das Thema Euthanasie. Jetzt sind Melter und seine Studenten durch intensive Recherchen im Münsteraner Archiv des Landesverbands Westfalen-Lippe (LWL) auf weitere Opfer gestoßen. „Bei unseren Forschungen zum Betheler Kinderkrankenhaus sind wir darauf gekommen, dass auch Erwachsene in Zwischenanstalten deportiert wurden“, berichtet der Wissenschaftler von der Fachhochschule Bielefeld. 22 ehemalige Bethel-Patienten seien in andere „Heilanstalten“ verlegt worden, galten als „ungeheilt“ und kamen daraufhin in der NS-Zeit ums Leben. „Diese drei Kriterien lassen auf sogenannte Krankenmorde schließen, die wir weiter erforschen wollen.“
  • Die Bielefelderin Elfriede Droste, am 21. November 1941 aus Bethel „ungeheilt“ in die Heilanstalt Gütersloh verlegt, am 14. August 1942 im Alter von 29 Jahren dort verstorben.
Laut Melter war es für die Patienten oft eine Deportation in Etappen. Das belegen unter anderem akribisch geführte „Ein- und Ausgangslisten“ der Heilanstalten in der NS-Zeit. „Einige Opfer wurden so zunächst in Heilanstalten in Gütersloh und Lengerich verlegt, von dort weiter nach Münster, bevor sie in Marsberg getötet wurden“, erklärt Melter. Dort habe es neben einer sogenannten „Kinderfachabteilung“ auch eine LWL-Klinik für erwachsene Psychiatrie-Patienten gegeben. „Hier sind Menschen vermehrt zum Sterben hingeschickt worden.“ In beiden Anstalten sei im Nationalsozialismus entschieden worden: Wer wird am Leben gelassen, wer getötet?
  • Gustav Kleinert aus Bielefeld, am 12. November 1941 aus Bethel in die Heilanstalt Gütersloh verlegt, dort als „ungeheilt“ am 19. Juli 1942 mit 49 Jahren verstorben.
25 Männer und 23 Frauen sind so laut den intensiven Recherchen der FH-Studenten 1941 aus Bethel in die Heilanstalt Lengerich „verlegt“ worden. In fünf Fällen konnte ihr Weg in den Tod nachgezeichnet werden: Alle fünf wurden im Dezember 1944 aus Bethel als „ungeheilt“ entlassen. Alle starben in den Jahren 1944 und 1945 in Marsberg.
  • Ernst Bäcker, am 2. November 1941 „ungeheilt“ aus Bethel verlegt, am 14. Oktober 1944 im Alter von 16 Jahren in Marsberg gestorben.
Im Bielefelder Stadtarchiv sei die studentische Forschungsgruppe zudem auf Akten von Personen gestoßen, deren Urnen nach Bielefeld an das städtische Polizeipräsidium geschickt wurden oder direkt an den Sennefriedhof, berichtet Melter. „Der genaue Bezug nach Bielefeld, warum ihre Urnen hierher verschickt wurden, ist in diesen vier Fällen noch nicht ganz eindeutig.“ Waren auch sie zu einem Zeitpunkt Bethel-Patienten oder hatten Familie in Bielefeld? Alle vier wurden in der Tötungsanstalt Hadamar in Hessen ermordet, zwei über Zwischenstation in Marsberg. In Hadamar wurden laut heutigem Forschungsstand mehr als 14.000 Menschen mit Behinderungen und psychiatrischen Erkrankungen im Nationalsozialismus ermordet.

Claus Melter von der Fachhochschule hat mit seinen Studenten zur Euthanasie an Bethel-Patienten geforscht.
Foto: BARBARA FRANKE



  • Anna Almodt wird am 22. Juli 1941 mit 50 weiteren Patienten ins Tötungsanstalt Hadamar gebracht und ermordet. Ihre Asche wird nach Bielefeld geschickt.
Die Aufarbeitung habe erst begonnen, sagt Melter. „Für diese Menschen gibt es keine Stolpersteine, ihre Namen stehen nicht bei denen der Deportierten auf der Steele am Bielefelder Hauptbahnhof, zu ihnen gibt es keinen Ausstellungen, keine Erinnerungsprojekte.“ Noch nicht. „Unser Anliegen ist es, diesen Menschen durch einen gemeinsamen Gedenkprozess in Bielefeld und in Bethel und durch die Namensnennung die Menschenwürde zurückzugeben.“

  • Ein wichtiger Baustein könnten dabei Projekte an Bielefelder Schulen sein. „Dazu möchten wir aufrufen“, so Melter. Schulprojekte könnten zu den Schicksalen der einzelnen Personen forschen, ihre Geschichten erzählen, herausfinden, ob es noch Nachfahren gibt, und Stolperstein-Initiativen für die aus Bethel deportierten Personen anstoßen.
  • Von der Forschungsgruppe zu Bethel im Nationalsozialismus werde die Begleitung solcher Projekte angeboten. „Wir geben Tipps für die Recherche, erklären, wie man in Archiven fündig wird“, so Melter. Interessierte Studenten, Schüler, Lehrer können sich bei ihm per E-Mail melden unter claus.melter@fh-bieleld.de.
Text & Bilder: NEUE WESTFÄLISCHE v. 08.05.2020, S. 14, Lokalteil Bielefeld

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das wird ja ein echt spannendes projekt, dass da von fh-professor claus melter und seinen studenten ins leben gerufen wird: denn ein paar lebens-"end-stationen" in den benannten anstalten und einrichtungen der im text vorgestellten ungeklärten lebensschicksale sind nach meinem dafürhalten als ausgemachte ns-"euthanasie"-stätten bisher noch gar nicht in erscheinung getreten, sondern eher als "zwischenanstalten", von wo dann die deportationen in die endgültigen vernichtungsanstalten erfolgten.

insofern ist schon zu fragen, ob die für meinen geschmack etwas salopp formulierten annahmen der forschungsgruppe um prof. melter auch einer tatsächlichen fakten-überprüfung und forschung standhalten werden - etwa wenn da geschrieben steht:
  • "22 ehemalige Bethel-Patienten seien in andere „Heilanstalten“ verlegt worden, galten als „ungeheilt“ und kamen daraufhin in der NS-Zeit ums Leben. „Diese drei Kriterien lassen auf sogenannte Krankenmorde schließen, die wir weiter erforschen wollen.“ - oder
  • „Einige Opfer wurden so zunächst in Heilanstalten in Gütersloh und Lengerich verlegt, von dort weiter nach Münster, bevor sie in Marsberg getötet wurden“, erklärt Melter. Dort habe es neben einer sogenannten „Kinderfachabteilung“ auch eine LWL-Klinik für erwachsene Psychiatrie-Patienten gegeben. „Hier sind Menschen vermehrt zum Sterben hingeschickt worden.“ In beiden Anstalten sei im Nationalsozialismus entschieden worden: Wer wird am Leben gelassen, wer getötet?"
die genannten scheinbar "drei kriterien": 

1. aus bethel "in eine andere heilanstalt" verlegt zu werden - 
2. als "ungeheilt" zu gelten - und 
3. "daraufhin in der ns-zeit ums leben zu kommen" 

lassen so lapidar noch nicht auf tatsächlich vorsätzliche (!) "sogenannte krankenmorde" schließen - eben - wie gesagt - einfach auch, weil die anstalten, die in den beispieltexten als letztendliche stationen  genannt  werden, bisher in der seit fast 40 jahren andauernden "ns-"euthanasie"-erforschung als so organisierte tötungsanstalten bisher nicht auftauchen und benannt werden -

das gilt auch für die sogenannte "wilde euthanasie", die ab 1942 - dezentral von berlin - vornehmlich in eigenverantwortung der einzelnen bezirke und reichsprovinzen in dortigen provinzial-heilanstalten vororganisiert wurden - zum abtransport und zur deportation in die tatsächlichen vernichtungsanstalten.
hier wurde noch "gezielt" deportiert (etwa zum "freiräumen" benötigter lazarettbetten wegen der immer zahlreicher werdenden uniformierten und zivilen kriegsverletzten) - zumeist aus dem reich in die okkupierten östlich angesiedelten anstalten - in jedem fall aber möglichst außerhalb des beobachtungs-fokus der kirchen (protest kardinal graf v. galen in münster und pastor braune in freistatt/bethel) und der tatsächlich betroffenen und auch z. t. widerstrebenden familienangehörigen. 

die "kinderfachabteilung" im genannten marsberg als stätte der dort tatsächlich auch durchgeführten kinder-euthanasie-morde wurde wohl bereits 1941 geschlossen, nach protesten aus der bevölkerung und den angehörigen. in dortmund-aplerbeck wurde diese abteilung dann weitergeführt.  

man deportierte die "ausgesuchten" ns-euthanasie-mordpatienten ab 1942/43 gezielt in die weitere "peripherie", um "gerede & gerüchte" zu vermeiden und das tödliche tun zu vertuschen - und schützte sich prophylaktisch so auch vor einer zu erwartenden späteren verfolgung, denn ab ende 1943 war eigentlich jedem klar, dass dieser krieg verloren war - und die ns-ideologie zum scheitern kommt - und ein grundständiges unrechtsbewusstsein meldete sich ja im gewissen wieder an...

insgesamt war die "euthanasie"-tötung so industriell kleinteilig durchorganisiert, dass eine in straffer abfolge von zunächst von "täter-ketten" nichtssagenden "handlanger"-verrichtungen schließlich von wechselnden diensthabenden die letztendliche "tödliche dosis" verabreicht wurde - und so aber ein "täternamen" - eine person - nicht mehr auszumachen war und habhaft gemacht werden konnte - oder nur unter großer recherche-anstrengung.

in den provinz-anstalten hier im alten reichsgebiet war nach derzeitigen kenntnissen zur fraglichen zeit eine solche "gezielte" abfolge gar nicht mehr aufgrund der kriegswirren und zerstörungen organisierbar und durchführbar oder erfolgreich nach "außen" hin zu verbergen...

die neue forschungsinitiative von professor melter mit seinen studenten hin zu schulen, die zum mittun aufgerufen sind, ist natürlich zu begrüßen, um noch mehr licht in das geschehen tatsächlich zu bringen - und die geschilderten "blinen flecken" aufzuarbeiten.

ich bin gespannt und hoffe auf eine rege rückmeldung von schulen und lehrenden... 
     


die zeitgemäße modifizierung der wissenschaftlich betriebenen "euthanasie"...

AUF DIESER IMMER SCHIEFER WERDENDEN EBENE GIBT ES KEINEN HALT MEHR...


Erst die Marktwirtschaft, dann der Schutz der Hochrisikogruppen? Menschenschlange in einem israelischen Ikea-Markt, der letzte Woche wiedereröffnet hat. Bearbeitetes Foto von REUTERS





Lockerungen in der Corona-Krise 

Vor steilen Abhängen

Von Shimon Stein und Moshe Zimmermann. tagesspiegel


Die Debatte um die Lockerung der Pandemie-Maßnahmen: Werden Risikogruppen im Unterbewusstsein von vielen schon wieder zu „Ballastexistenzen“?

Die Schwachstelle der Corona-Pandemie war früh zu identifizieren, in Italien, in Spanien und nun in Israel – die Altersgruppe Ü65. Diese Gruppe trifft die Pandemie am tödlichsten, und die Kapazitäten der Krankenhäuser sind vor allem wegen dieser Schwachstelle überfordert. Was in den Altersheimen vieler Länder passierte, führte zum Protest.

Wieso reichten die Kapazitäten nicht aus? Wieso versagen die Gesundheitssysteme? Doch es gibt immer mehr Befürworter einer entgegengesetzten Kritik: Kritik am Staat, der, um die Kurve abzuflachen, also vor allem um ältere Leute vor einer Infektion zu schützen, die Mehrheit der Gesellschaft fatal trifft. Wenn es um die Verteilung und Knappheit der Ressourcen, um das Entweder-Oder geht, meinen diese Kritiker, darf man von der Rücksicht auf die Hochrisikogruppe zurückrudern.

Beim Versuch, mit diesem Dilemma zu hadern, fällt einem geschichtsbewussten Israeli auch der Vergleich mit der schlimmsten Katastrophe ein. Absurd, aber wahr: Der Nationalsozialismus scheint, gleichsam als Negativkompass, meist relevant zu sein.

Die NS-Zeit bietet sich für Analogien an, egal ob es um Rassismus, Rechtsextremismus, Hyper-Nationalismus, Menschenrechte geht. Zwar wird der allzu häufige Griff zu derart Vergleichen mit Recht kritisiert – aber oft kann er als Denkanstoß konstruktiv sein.


Wird in Fragen von Leben und Tod jetzt ausgewählt?

Solche Vergleiche gibt es, in Israel allemal. Ein Vergleich mit dem Teufel, der automatisch als Provokation gedacht oder bewertet wird, ist außerordentlich effektiv. Auch in der gegenwärtigen Debatte um die Regierungs- und Verfassungskrise in Israel wird dieser Vergleich häufig bemüht, beim Thema Demokratie, Gewaltenteilung oder Notverordnungen.

Es kann also nicht überraschen, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie Assoziationen mit der NS-Zeit wecken. Umso mehr beim israelischen Beobachter, bei dem das Thema Katastrophe die pawlowsche Reaktion hervorruft, nämlich die Erinnerung an den Holocaust.

Die Welt, mit wenigen Ausnahmen, entschied sich in der jetzigen Krise für die soziale Distanzierung, um die Pandemie zu bekämpfen und die Infizierten-Kurve abzuflachen. Diese Entscheidung verfolgt im Endeffekt zwei praktische Ziele: der Überbelastung der Krankenhäuser zuvorzukommen und den Massentod in der Hochrisiko-Gruppe zu verhindern.

Es ist die Kontroverse um eben diese Ziele und Maßnahmen, die eine NS-relevante Assoziation zulässt, ja, provoziert: Menschenleben retten um jeden Preis? Oder in Zeiten der Not bei Fragen von Leben und Tod eine Auswahl treffen?

Damals ging es vor allem um den Krieg als Herausforderung. Die Antwort im Namen der sogenannten Volksgemeinschaft hieß: Um diese Gemeinschaft in Zeiten der Not und Knappheit zu ernähren, dürfen Menschen, die nicht zu ihr gehören, ausgestoßen werden. Im Hintergrund stand die Erfahrung der Not des Ersten Weltkrieges.

Das NS-System entschied sich entsprechend für die „Euthanasie“ und die Ausrottung von „Ballastexistenzen“. Mit Hilfe der Eugenik und der Rassenlehre gab es eine angeblich sozioökonomisch wie auch ethisch fundierte Rechtfertigung für diese Politik. Klar: ein Extremfall mit spartanischen Wurzeln.

Der soziale Darwinismus kommt in Fahrt

Aber dieser Extremfall ist mutatis mutandis als Trigger für die Beobachtung der gesellschaftlichen Reaktion auf das neue Virus im Prinzip nicht von der Hand zu weisen. In dem Moment, in dem die Gesellschaft bei der Entscheidung über die (auch vermeintliche) Rettung von Menschenleben eine Selektion vornimmt, befindet sie sich auf Glatteis.

Nicht allen, die an der Diskussion um die Lockerung der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beteiligt sind, ist bewusst, dass sie sich auf einem rutschigen Abhang bewegen. Doch im Unterbewusstsein eines Teils der Bevölkerung zeichnet sich eine Sichtweise ab, die die Angehörigen der Risikogruppe im Endeffekt als „Ballastexistenzen“ wahrnimmt.

Auch das Wort Risikogruppe durchläuft eine Mutation: Gemeint ist weniger das Risiko für diese Gruppe, sondern eher das Risiko, das von dieser Gruppe für die Gesellschaft ausgeht. Darf der Preis für den Schutz dieser Gruppe Massenarbeitslosigkeit, eine schwere Wirtschaftskrise und die Gefährdung der Lebensqualität der Mehrheit sein?

Ja, nach der Phase der Solidarität kommt vielerorts der soziale Darwinismus in Fahrt, der Wunsch nach dem Prinzip des Überleben des Stärkeren. Vor allem dort, wo die nichtsoziale, neoliberale Marktwirtschaft herrscht, in Amerika, England, Israel.

Um zu verstehen, wohin diese Denkweise führen könnte, ist der Extremfall als Denkanstoß nützlich: Das NS-System war bereit, „unwertes Leben“ zu beseitigen, bei Deutschen die so genannte Euthanasie durchzuführen, Millionen Menschen in Osteuropa absichtlich verhungern zu lassen und ein ganzes Volk von „Schädlingen“, nämlich die Juden, auszurotten, um den angeblich wertvollen Ariern das Leben zu garantieren. Für die, die vor solchen Assoziationen zurückschrecken gilt die Warnung: „Wehret den Anfängen“.

Bereits vor 32 Jahren, als das israelische Obergericht darüber entscheiden sollte, ob der Wunsch von Eltern eines kranken zweijährigen Kindes nachgegangen werden darf, dem Kind den Gnadentod zu ermöglichen, brachte der Oberrichter Menachem Alon das Beispiel der NS-Euthanasie als Warnung: „Unsere Generation weiß Bescheid, wie steil dieser Abhang ist“. Heute nimmt man nicht nur die nicht endende Isolierung der Hochrisikogruppe in Kauf, sondern auch den Tod einer großen Zahl der Personen aus dieser Gruppe, falls Einschränkungen für die gesamte Gesellschaft massiv ausfallen sollten.

An der "Front" steht jetzt die Hochrisikogruppe

Einer der populärsten Psychologen Israels posaunte seine Botschaft unter der Überschrift „Lass mein Volk ziehen, aus der Corona-Quarantäne“ heraus: Da bislang die Corona-Toten im Durchschnitt 81 Jahre alt waren und das durchschnittliche Sterbealter im Lande bei 82 liegt, wäre es sinnvoll, so der Psychologe, das Risiko einzugehen und die Restriktionen fallen zu lassen.

Derartige Argumente kommen gut an, wie den vielen TV- Panels zu entnehmen ist. Weil die Millionen von Menschen, die wegen der Maßnahmen ihre Jobs verloren haben, darin die Lösung sehen, nicht zuletzt weil der Sozialstaat in den letzten Jahren durch den kapitalistischen Minimalstaat und seiner Ideologie ersetzt wurde.

Dass der bekannte Schriftsteller Abraham B. Jehoshua seine Bereitschaft verkündete, am Virus an Stelle einer jungen Person zu sterben, hilft, das schlechte Gewissen zu besänftigen. Regierungschef Netanyahu konnte zum Holocaust-Gedenktag heuchlerisch sein Bedauern über den Corona-Tod von Holocaust-Überlebenden aussprechen, während sein Sohn die Chuzpe hatte, die Teilnehmer einer Anti-Bibi-Demo per Tweet zu beschimpfen: „Hoffentlich kommen die alten Toten aus Ihren Reihen“.

Kein Vergleich mit dem Extremfall NS. Richtig. Und doch: Hinter dieser Strategie der Lockerung, wie der Diskurs in den USA, England und nun auch in Israel zeigt, steht eine politische Ideologie.

Es geht um die neoliberale, einen Minimalstaat befürwortende Denkweise, die auch in normalen Zeiten im Gesundheitsbereich eine darwinistische Selektion ermöglicht, deren Opfer die schwächeren in der Gesellschaft sind – und die nun nicht davor zurückschreckt, die Hochrisikogruppe zu opfern.

Früher, auch im Zweiten Weltkrieg, reichte die Tatsache, dass es im Krieg vor allem junge Leute sind, die „für das Vaterland fallen“, um die Ausmerzung der „Ballastexistenzen“ zu legitimieren. In der jetzigen Katastrophe, anders als im Krieg, muss die junge Generation nicht zum Schlachtfeld. Jetzt steht an der Front die wenig brauchbare Hochrisikogruppe.

Die Versuchung, diese „Lösung“ systemisch zu praktizieren, ist besonders groß. Wenn sogar in Israel, wo die Erinnerung an die Shoah so stark ist, dieser Abgrund sich öffnet, kann es weltweit überall, wo der darwinistische Neo-Liberalismus wegweisend ist, auch passieren. Daher gilt es, den liberalen Sozialstaat als Bollwerk zu verteidigen.

Shimon Stein war Israels Botschafter in Deutschland (2001-2007) und ist zur Zeit Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheit Studien (INSS) an der Tel Aviv Universität.

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Die Intensivstation eines Krankenhauses in Paris - bearbeitet nach © Lucas Varioulet/​AFP/​Getty Images


Was hat Frankreich mit den Alten gemacht?

Sediert statt gerettet: In Frankreich mehren sich die Indizien dafür, dass Patienten auf dem Höhepunkt der Pandemie nach Alter selektiert wurden.

Von Tassilo Hummel, Paris | ZEIT.de

Am Vormittag des 15. April erhielt Gabriel Weisser einen Anruf. Ein Arzt teilte ihm mit, dass seine Mutter am Coronavirus erkrankt sei. "Er sagte, er sei gegen 5.30 Uhr morgens bei ihr im Altersheim gewesen", erzählt Weisser, der in Blodelsheim im Elsass wohnt. Sie habe Fieber gehabt und gehustet. "Als einzige Maßnahme hat er ihr Palliativmedikamente verordnet. Also in Wirklichkeit hat er sie gar nicht behandelt. Sie wurde zum Tode verurteilt." Gabriel Weisser schluchzt. Seine Mutter Denise wurde 83 Jahre alt.

Ihr Fieber sei am Morgen nur leicht gewesen und auch ihre Lungenkapazität habe noch bei 85 Prozent gelegen, erzählt Weisser. Trotzdem versuchte der Arzt erst gar nicht, sie zu heilen, sondern verschrieb ihr Medikamente, die ihr ein friedliches Einschlafen ohne Schmerzen ermöglichten – und das, ohne Gabriel und seine Geschwister vorher überhaupt zu sprechen. Erst fünf Stunden später rief er sie an und informierte sie über seine Entscheidung. Schon am gleichen Nachmittag fand eine Pflegerin Weissers Mutter tot im Bett.

"Sie hätten es wenigstens versuchen können", insistiert Weisser. "Dass man das den älteren Menschen antut, in einem großen Land wie Frankreich, dem Land der Menschenrechte, das ist schrecklich."

Wurde der Zugang zu Krankenhäusern erschwert?

Wurden in Frankreich in der Hochphase der Corona-Welle ältere Patienten systematisch benachteiligt? Geschichten wie die der Weissers, aber auch vieles andere, deuten darauf hin. Offiziell beteuert die Regierung, dass das Gesundheitssystem den vielen Patienten jederzeit gewachsen gewesen und es nicht zur Triage gekommen sei, dass die Krankenhäuser also nicht auswählen mussten, wen sie noch behandeln und wem sie nur den Tod erleichtern. Aber was, wenn die Krankenhäuser deshalb nicht überlastet waren, weil die Patienten dort gar nicht erst ankamen?

"Man hat dafür gesorgt, dass die Menschen aus den Altersheimen nicht mehr in die Krankenhäuser kommen", sagt Michel Parigot. Er streitet seit Mitte der Neunzigerjahre für mehr Transparenz und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Damals warnte er Frankreich vor den Risiken, die mit dem Baustoff Asbest verbunden sind, mit dem seine Pariser Uni verseucht war. Zusammen mit anderen Anti-Asbest-Aktivisten gründete er das Bündnis "Coronavictimes", Corona-Opfer. Seit Wochen wirft Parigot den Verantwortlichen in Frankreich vor, in der Corona-Krise systematisch ältere Menschen zu benachteiligen.

In anderen Ländern gibt es gar keine Zahlen

Der Aktivist, der hauptberuflich als Mathematiker beim Pariser Forschungsinstitut CNRS arbeitet, sagt, das zeige bereits ein Blick auf die Zahlen: Von den bisher etwa 20.000 Corona-Toten in Frankreich starben mehr als 8.000 in Alten- und Pflegeheimen. Die Weltgesundheitsorganisation sagte auf einer Pressekonferenz am Donnerstag, bis zu 50 Prozent der Todesfälle in Europa könnten von Heimen herrühren. Allerdings legen die meisten Länder anders als Frankreich gar nicht offen, wie viele Menschen genau in Pflegeheimen am Virus gestorben sind. Vielleicht ist das Problem also in Frankreich gar nicht größer als anderswo, sondern nur besser sichtbar.

Am Mittwoch zitierten die Investigativjournalisten der Zeitung Le Canard enchaîné aus einer internen Verwaltungsvorschrift, die das Gesundheitsministerium am 19. März für die medizinischen Einrichtungen erlassen haben soll. Darin heiße es, Ärztinnen und Ärzte seien angehalten, den Zugang von gebrechlichen Patienten auf die Intensivstationen drastisch zu reduzieren. Eine Statistik der Krankenhausverwaltung in Paris, die ZEIT ONLINE vorliegt, zeigt, dass sich die Altersstruktur der Patienten in den Intensivstationen in den Tagen nach dem Erlass der Vorschrift tatsächlich merklich veränderte. Waren am 21. März noch rund 20 Prozent der Intensivpatienten über 75 Jahre alt, betrug ihr Anteil zwei Wochen später nur noch sieben Prozent. Der Canard enchaîné führt außerdem an, dass in besonders von Corona belasteten Regionen wie dem Elsass der Anteil älterer Menschen in den Krankenhäusern geringer sei als in weniger belasteten Regionen und dass jetzt, da die Krankheitswelle langsam abebbe, wieder mehr ältere Menschen intensivmedizinisch behandelt würden.

Die Beweisführung ist schwierig

Der Gesundheitsaktivist Parigot verweist auch auf ein Dekret der Regierung, das für die Dauer des Epidemie-Höhepunkts eine Palliativbehandlung mit schmerzlindernden und sedierenden Medikamenten auch außerhalb von Krankenhäusern ermöglicht. Im Internet entstand daraufhin Panik, befeuert besonders von rechtsextremen Kreisen: Will die Regierung gezielt ältere Menschen sterben lassen, um stattdessen jüngere in den Krankenhäusern zu behandeln? Die staatlichen Stellen stellten schnell klar, dass dies Falschnachrichten seien. Es ginge darum, die Schmerzen von unheilbar kranken Patienten an ihrem Lebensende auch dann lindern zu können, wenn das normalerweise dafür verantwortliche örtliche Krankenhaus aufgrund der Pandemie keine Plätze mehr habe, um einen würdevollen Tod zu ermöglichen.

Aus Trauer wird Wut

Für seinen Vorwurf, das System habe Menschen in Alten- und Pflegeheimen systematisch benachteiligt, stützt sich Michel Parigot auf die Berichte von Menschen, deren ältere Angehörige gestorben sind. Wie schwierig es wird, den Beweis zu erbringen, wo es doch im ganzen Land an Tests fehlt, weiß auch der Aktivist. "Man müsste Obduktionen machen", sagt Parigot. Ihm geht es aber vor allem um die Haltung der Regierung: Indem sie sagten, es fände keine Selektion der Corona-Infizierten nach Alterskriterien statt, hätte sie die Franzosen getäuscht. "Man hätte zugeben müssen, dass nicht mehr alle behandelt werden können und die Kriterien offenlegen müssen, nach denen Mediziner entscheiden." Anders als in Deutschland gibt es in Frankreich keine medizinethischen Richtlinien, wie Patienten in Überlastungssituationen zu priorisieren sind.

Gabriel Weisser, der im Elsass um seine Mutter trauert, sagt, er leide enorm unter dieser Intransparenz. Die dreißig Tage vor ihrem Tod habe er seine Mutter wegen der Quarantänemaßnahmen im Heim schon nicht mehr sehen können. Nach ihrem plötzlichen Tod "hätte ich mir wenigstens ein Gespräch mit der Pflegerin oder dem Arzt gewünscht, um zu verstehen, nach welchen Kriterien da entschieden wurde". Doch auf ein solches Gespräch wartet er auch eine Woche später noch vergeblich.

Während Gabriel Weisser im Elsass trauert und verzweifelt, reagiert Olivia Mokiejewski mit Wut. Ihre 96-jährige Großmutter ist ebenfalls in einem Pflegeheim am Coronavirus gestorben. "Bis kurz vor dem Tod meiner Großmutter hat die Heimleitung bestritten, dass es dort überhaupt Covid-19-Fälle gab", sagt die Pariser Journalistin. "Wir wissen aber, dass Angestellte zu diesem Zeitpunkt bereits wegen starken Verdachts auf Corona krankgeschrieben waren, einige waren sogar schon im Krankenhaus."

Pfleger ohne Handschuhe und Mundschutz

Mokiejewski berichtet, im Heim seien zwar seit Anfang März Besuche untersagt, beim Skypen mit ihrer Großmutter Hermine habe sie aber bemerkt, dass die Pflegerinnen und Pfleger ohne Handschuhe und Masken arbeiteten. Sie konnte bei ihren täglichen Videoanrufen verfolgen, wie sich der Zustand ihrer Großmutter verschlechterte. "Ich habe sie immer müder gesehen, sie ist während des Gesprächs eingeschlafen. Ich habe sie husten gesehen", erzählt Mokiejewski. "Ich habe das der Heimleitung in mehreren E-Mails und Telefonaten mitgeteilt. Man sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie haben einfach keinen Arzt gerufen." Als eine Altenpflegerin Ende März Fieber bei ihr feststellte, sei schließlich doch ein Arzt gekommen, der auch die Enkelin beschwichtigte: Alles sei gut. Mokiejewski, mit ihrer Geduld am Ende, bat daraufhin einen befreundeten Arzt, selbst im Heim nach der Großmutter zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt lag die Großmutter bereits im Sterben. Mokiejewski spricht von einem Skandal.

Zusammen mit einem Rechtsanwalt geht sie jetzt auch juristisch gegen das Heim vor. Träger der Einrichtung ist der große Pflegekonzern Korian, in dessen frankreichweit 60 Einrichtungen offenbar bereits Dutzendende Corona-Erkrankte verstarben. "Der Konzern muss mir jetzt Rechenschaft ablegen", sagt Mokiejewski.

Korian hat in der Sache inzwischen einen Strafverteidiger beauftragt. Auf Anfrage von ZEIT ONLINE teilt er mit, das Unternehmen überlasse die Aufarbeitung des Falles nun der Justiz und wolle ihn nicht weiter kommentieren.

Anders als Mokiejewski macht Gabriel Weisser dem Altersheim im elsässischen Fessenheim, in dem seine verstorbene Mutter Denise jahrelang lebte, keinen Vorwurf. "Die sind wie wir alle auch das Opfer eines Systems, das in der Krise versagt hat." Zwar hat auch er sich mittlerweile rechtlichen Beistand gesucht, zielt juristisch dabei aber deutlich höher: Auf den französischen Gesundheitsminister Olivier Véran. Ihn will Weisser mit einer Klage vor einem Sondergericht für Regierungsmitglieder für das systemische Versagen seines Landes verantwortlich machen.

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Coronavirus: 31 Tote in Altersheim
Schuld daran sind vermutlich die Pflegekräfte.

In Seniorenheimen ist die Angst vor dem Coronavirus besonders groß. (Symbolbild)
bearbeitetes. bearbeitetes Foto: imago images / localpic




Das Pflegeheim in Dorval bei Montréal hat insgesamt 130 Bewohner. Die Gesundheitsbehörden fanden die Senioren in erschreckendem Zustand: Zahlreiche Personen lagen dehydriert und unterernährt in ihren Betten. Es soll in manchen Zimmern stark nach Urin gerochen haben.

Mindestens fünf der 31 verstorbenen Bewohner waren zuvor an Covid-19 erkrankt. Woran die anderen Senioren starben, prüft derzeit ein Gerichtsmediziner, berichtet der „Spiegel“.

Wie kam es zu den erschreckenden Zuständen im Heim?

Aus Angst vor einer Coronavirus-Erkrankung sind die Pfleger dem Heim fern geblieben. Francois Legault, Regierungschef von Quebec, habe Ermittlungen wegen grober Fahrlässigkeit angekündigt.

Meldung mit Bild: der westen 


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ich bin erschrocken. ich hätte nicht gedacht, dass mich beim thema #corona-krise dieses eine meiner grundthemen - nämlich "euthanasie", sozialdarwinismus, selektion der unbrauchbaren, "ballastexistenzen" u.a.m. so rasch über den weg laufen wird - und eigentlich, wenn auch modifiziert, mit der gleichen wucht, wie wohl vor 70-80 jahren...

der sozialdarwinismus, den man im laufe der zeit übersetzt mit so unschuldigen vokabeln wie "nichtsoziale, neoliberale marktwirtschaft" schlägt also bei einer weltweiten gesundheitskrise einmal mehr zu: zuerst ganz langsam - und dann mit aller wucht! 

uralte reflexe kommen zum tragen: der sieg der stärkeren über die schwachen - die ausgrenzung der nicht mehr leistungsfähigen - aber nun nicht mehr nur ihre auch schon skandalöse abschiebung in heime und asyle, sondern nun nimmt man ihnen durch selektion und auslese und nichtversorgung auch noch - wie vor 80 jahren im nationalsozialistischen deutschland ebenfalls - das recht zum (über)leben.

wenn man also liest, dass in erster linie "die alten", die "vorerkrankten" sterben bei der covid-19-ausbreitung, muss man sich nach diesen drei artikeln ja schon fragen, ob da vielleicht medizinisch bewusst oder unbewusst bei den sterblichkeitsraten in den altersklassen eine auslese zum tragen kommt: wo man also nicht mehr "beatmet" und wiederbelebt,sondern vielleicht nur noch "palliativ" begleitet, für einen sanften tod bei den alten. und nur noch die beatmungsgeräte einsetzt für diejenigen, für die es sich "noch lohnt" - die es "verdient" haben...

es ist klar: in überforderten kliniken muss man nach einer durchgeführten "triage" abwägen - eine einteilung und abstufung der gefährdung - eine reihenfolge der hilfeleistungen und maßnahmen, eine "to-do-list" nach prioritäten. ethisch ist das allemal sehr schwierig zu entscheiden - und mit dem "gewissen" wohl erst recht nicht.

aber es ist auch so bei einer brandschutzübung, wenn einem der übungsleiter klarmacht, dass man ein völlig verrauchtes treppenhaus, in dem vielleicht sogar noch menschen sind, nicht mehr als prioriät setzt, sondern andere gebäudeteile nun primär zu schützen hat vor übergriffen des feuers, auch mit dem risiko, dass man nicht allen menschen im moment gleichzeitig helfen kann.

ähnliche entscheidungen sind zu treffen an jedem unfallort mit mehreren verletzten... - und nur einem ersthelfer oder arzt vor ort ...

aber solcherart einzelfallentscheidungen dürfen nicht "global" auf  ganze gesellschaftsteile oder altersgruppen übertragen werden und zur "haltung" werden bei entscheidungen über aktivität und passivität der behandlungen und therapien, mit überlegungen etwa zur "wirtschaftlichkeit" - ohne kommunikation vor ort, und quasi "stickum" - sozusagen zur allgemeinen norm gemacht werden.

es muss immer um verantwortbare einzelfall-entscheidungen gehen - und um die frage, ob die betroffene person für sich eine explizite entscheidung getroffen hat für oder gegen "lebensverlängernde maßnahmen", oder diese mit den angehörigen kommuniziert hat.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hält es für falsch, bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie allein dem Lebensschutz die höchste Priorität einzuräumen. "Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig", sagte Schäuble in einem Interview mit dem Tagesspiegel. "Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen", erklärte er. Diese sei unantastbar, schließe aber nicht aus, "dass wir sterben müssen".  
Der Staat müsse für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. "Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben", sagte der 77-Jährige: "Mit allen Vorbelastungen und bei meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, Jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher." ("Tagesspiegel")

man hört eben derzeitig überproportional viel von den "covid-19-brutstätten" in altenheimen und den "vielen opfern", die dort jeweils zu beklagen sind - aber es müsste ja auch in anderen ähnlichen wohnformen zumindest ähnlich gehäufte probleme geben (z.b. studentenwohnheime, herbergen, krankenhäuser, unterkünfte, wohngemeinschafts-anlagen usw).

und wenn donald trump vor 2 wochen auf dem weltmarkt verzweifelt beatmungsautomaten ordern wollte - und sie 2 wochen später der ganzen welt "wegen überproduktion" zum kauf anbietet - bekommt das unter dieser prämisse für mich wenigstens ein "gschmäckle"...

ich bin auch schon 73 - und bin hypertoniker und diabetiker - und da muss ich mir ja die frage stellen:
gehe ich bei einer eventuellen erkrankung auf die "intensivstation" - oder doch gleich ins "hospiz" - zur entsorgung unter humanen prämissen...???

gute nacht - ich werde wohl noch etwas wach liegen ...

80 Jahre nach dem "Euthanasie"-"Gnadentod"-Erlass: Den Opfern ihre Würde zurückgeben

NS-Euthanasie

Sie wollen den Opfern ihre Würde zurückgeben


Hunderte Menschen aus dem Gebiet des heutigen Landkreises Biberach sind zwischen Januar und Dezember 1940 von den Nazis in die damalige Tötungsanstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb deportiert und dort vergast; so die Schätzung von Johannes Angele, dem Leiter der Interessengemeinschaft (IG) Heimatforschung im Landkreis Biberach.

In einem neuen Projekt will die IG nicht nur eine möglichst vollständige Namensliste aller Opfer aus dem Kreisgebiet erstellen, sondern auch die Biografien dieser Menschen nacherzählen. Dabei hofft die IG auch auf Unterstützung der Bürger.

Bei den Menschen handelte es sich um Patienten, die bis 1940 in den Heil- und Pflegeanstalten in Schussenried, Zwiefalten, Heggbach oder Ingerkingen wegen ihrer zum Teil mehrfachen körperlichen oder psychischen Behinderungen oder chronischen Erkrankungen gepflegt wurden.

Geheuchelte Anteilnahme: In Briefen wie dem abgebildeten, der an eine Familie in Laupheim ging, wurde den Angehörigen der Deportierten deren Tod in einer der sogenannten Pflegeanstalt mitgeteilt. Die Todesursachen entsprachen dabei nicht der Realität, in Wirklichkeit wurden die Menschen von den Nazis vergast. (Foto: Repro: Johannes Angele/SZ)

1940 ordneten die Nazis die systematische Ermordung von Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen an. Diese im Zusammenhang mit den NS-Erbgesundheitsgesetzen „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wurde später auch als „Aktion T4“ bekannt, die auf die dafür zuständige Zentraldienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 Bezug nimmt.

Die Umkehrung des griechischen Begriffs „Euthanasie“ im Sinne von Sterbehilfe stellt mit Blick auf das systematische Töten der Nazis einen Euphemismus dar. Er wird erst in Folge der Strafprozesse nach 1945 in diesem Zusammenhang verwendet.

Um ihre Pläne im Südwesten in die Tat umzusetzen, beschlagnahmten die Nazis im Oktober 1939 – also vor genau 80 Jahren – Schloss Grafeneck und machten daraus in der Folge die erste Tötungsanstalt in Deutschland.

Mehr als 10 600 Menschen kamen dort im Jahr 1940 in der in einer als Garage getarnten Gaskammer zu Tode. Ein Zweck der Tötungen sei gewesen, dadurch ausreichend freie Lazarettplätze für die Folgen des Frankreichfeldzugs zu schaffen, sagt Angele.

Mit Postbussen abgeholt

„Die Menschen wurden mit Reichspost-Bussen aus den Pflegeanstalten abgeholt und nach Grafeneck gebracht“, schildert Bodo Rüdenburg von der IG Heimatforschung.

Er hat als Mitarbeiter der Bibliothek des damaligen Psychiatrischen Landeskrankenhauses (PLK) Zwiefalten bereits ab den 1980er-Jahren Forschungen über die „Euthanasie“ in Zwiefalten und Schussenried betrieben und publiziert.

Dass in den Erinnerungen von Zeitzeugen immer wieder von „grauen oder grünen Bussen“ die Rede sei, obwohl die Busse der Reichspost eigentlich rot lackiert waren, führt Rüdenburg auf die Zeitumstände zurück.

Zum einen habe man die Busse in Kriegszeiten aus Gründen der Tarnung umlackiert. Des Weiteren seien später die Scheiben geweißelt worden, damit man nicht mehr ins Innere blicken konnte.

Sogenannte graue Busse brachten die Opfer nach Grafeneck. Dieses Bild aus dem Jahr 1940 wurde heimlich aufgenommen. (Foto: Kreisarchiv Biberach)

Die Tötungen blieben nicht völlig verborgen, inder Bevölkerung kursierten schon bald Gerüchte. Der evangelische Pfarrer Leube aus Schussenried sprach sich in einem Brief an das Reichsinnenministerium gegen die Tötungen aus, erhielt aber nie eine Antwort. In Schussenried erfuhr man erst nach dem Krieg von Leubes Brief.

Das Thema NS-Euthanasie gelte auch heute vielfach noch als Tabu, sagt Angele. Verschämt sei nach dem Krieg darüber gesprochen worden, „dass dieser oder jener in Grafeneck durch den Kamin geschickt“ worden sei.

Seine Hoffnung sei, so Angele, dass durch die zeitliche Distanz zum Geschehen inzwischen ein offenerer Umgang damit möglich sein müsse.

Aufgrund einer perfiden deutschen Gründlichkeit gebe es namentliche Transportlisten der Deportierten. Nach der Wende seien in einem Stasi-Archiv in Berlin auch die Krankenakten vieler der Getöteten entdeckt worden, sagt Rüdenburg. „Die sind zwischenzeitlich restauriert und enthalten Krankengeschichten, aber zum teil auch Fotos und Briefe. Das ist für uns sehr hilfreich.“

Möglichst viele Lebensläufe

Die IG Heimatforschung möchte die Biografien der Getöteten aber über die Akten hinaus nachzeichnen und hofft deshalb auf die Mithilfe von Angehörigen oder anderen Menschen, die etwas über die Opfer wissen.

Ziel ist, so Angele, bis Ende des Jahres eine vollständige Namensliste aller Getöteten aus dem Kreis Biberach, geordnet nach Kommunen, zu haben und in danach möglichst viele ihrer Lebensläufe zu rekonstruieren.

Hier baut er auch auf Unterstützung der Gedenkstätte Grafeneck. Auch die Kreisarchive der Region befassten sich mit dem Thema NS-Euthanasie, sagt Angele. „Wir wollen nicht, dass die Erinnerung an diese Menschen einfach verschwindet, sondern wollen ihnen ihre Würde zurückgeben.“

Veröffentlicht werden sollen die Forschungsergebnisse am Ende in einem Buch. „Wir werden dafür Sorge tragen, dass das in würdiger Form und Sprache geschieht“, verspricht Angele. Denn die Sprache in den Krankenakten sei menschenverachtend.

aus: schwäbische.de (click)

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heute vor 80 jahren erklärte adolf hitler dem nachbarland polen den krieg. das war aber nur die eine seite - die kriegserklärung nach außen. 

sogen. "gnadentod-erlass"
aber später - im nachhinein datiert auf das gleiche datum - erklärte er den krieg nach innen, in dem er den von ihm so bezeichneten "gnadentod"-erlass unterzeichnete bzw. nur mit seinem namenskürzel paraphierte.

rein formal-juristisch war dieser mord-erlass nur ein stück papier, aber vor 80 jahren erlangte ein solcher zettel geradezu "gesetzes"-und eine unbedingte befehls-kraft. inzwischen haben einige gerichte und auch internationale gutachter in der nachkriegszeit festgestellt, dass dieser erlass dem reichsgesetzbuch widersprach - und nie und nimmer menschen zum morden hätte bringen und binden dürfen.

aber nicht nur der krieg nach außen setzte das "normale" leben außer kraft, sondern auch dieser krieg nach innen setzte all diesen rassenwahn-irrsinn größtenteils ohne jeden widerspruch durch. 

hitler hatte eigentlich 1941 - nach 18 monaten - diesen "erlass" wieder zurückgenommen, nach protesten der kirchen und einzelner angehöriger gegen dieses morden in den sechs eigens dafür errichteten vernichtungsanstalten im reichsgebiet. 

in der sogenannten "aktion t 4" wurden dafür zentral in berlin über 71.000 per fragebogen ausgewählte "unbrauchbare" personen ein solch makaberer "gnadentod gewährt". und doch: ab beginn 1942 wurden diese massenmord-aktionen nun dezentral völlig unkontrolliert und stickum weitergeführt in der sogenannten "wilden euthanasie" und im ablauf der "aktion brandt". 

denn in dieser "aktion brandt" wurde ad-hoc organisiert, die kriegsversehrten menschen aus dem bombenkrieg und von der front in pflegebetten der psychiatrischen heilanstalten zu behandeln. dafür mussten aber die "angestammten" psychiatrischen langzeit-patienten per anordnung platz machen - und wurden in neue eigens dafür umgewidmete vernichtungsanstalten in die okkupierten gebiete besonders im osten deportiert - wo die deutsche zivilbevölkerung dieses vernichten mit barbituraten und durch verhungern nicht mehr so direkt mitbekommen sollte.

in wirklichkeit ging es aber bei all diesen massenmorden um (volks-)wirtschaftliche belange, denn der krieg verschlang ja auf dauer milliarden reichsmark. deshalb wurde immer die "wirtschaftliche verwendbarkeit" all der infrage kommenden patienten geprüft - und wer aufgrund seiner behinderung oder erkrankung keine "leistung" mehr erbrachte, wurde zum "unnützen esser" abgestempelt - und mit seiner ermordung ersparte sich der staat die unterbringungskosten und die sozialabgaben.

menschenleben wurden in diesem krieg ja zu reinen zahlen und kostenfaktoren degradiert und hin und her verschoben mit dem rechenschieber - und jede ehrfurcht vor göttlichem leben kam abhanden und wurde rassen-ideologisch passend verbrämt und rein wirtschaftlich bewertet.

heute morgen sagte ein nachrichten-sprecher im autoradio, vor 80 jahren habe "nazi-deutschland" dem nachbarland den krieg erklärt und damit den zweiten weltkrieg ausgelöst.

ich finde diese begrifflichkeit "nazi-deutschland" in diesem zusammenhang etwas abspaltend und vielleicht gewissermaßen entlastend: aber ein "nazi-deutschland" hat es meines erachtens nie gegeben, sondern eine mehrheitlich und mit überwiegend hurra gewählte reichsregierung unter der führung der "nsdap" - für mich ist es deshalb der krieg, den deutschland gegen die welt außen und gegen die willkürlich ausgewählten nicht leistungsfähigen oder rassistisch aussortierten menschen nach innen geführt hat.

und so ganz können auch wir "nachgeborenen" nun nicht die verantwortung aller deutschen, unserer elten und großeltern, einfach an der kasse abgeben - und schwamm drüber - und wird schon wieder ... - und vor allen dingen: das alles war kein "vogelschiss" der geschichte.

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VIDEO-DOKUS ZUM "EUTHANASIE"-VERBRECHEN:

ORF-Doku 1984: Unwertes Leben – NS-Psychiatrie in Österreich, Film von Peter Nausner


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Euthanasie - vor 80 Jahren begann das NS-Mordprogramm

Weiter Weg ins Gedächtnis der Gesellschaft

Vor 80 Jahren begann mit dem „Euthanasie“-Programm das erste große Vernichtungsprojekt des NS-Staats

Text von Christoph-David Piorkowski | Tagesspiegel, Donnerstag 29. August 2019, Nr. 23929, S. 25 Wissen & Forschen


Elisabeth Willkomm - Foto aus: www.gedenkort-t4.eu



  • Die Brandenburgerin Elisabeth Willkomm leidet seit Beginn der 1930er Jahre an wiederkehrenden Depressionen. Aufgrund einer heftigen Episode wird die 29-Jährige im Oktober 1942 nach kurzem Aufenthalt im Krankenhaus in eine „Heil- und Pflegeanstalt“ überwiesen. Vier Tage später ist sie tot. Die Ärzte erklären eine Herzmuskelschwäche zum Grund ihres plötzlichen Versterbens.
Stolperstein für Elisabeth Willkomm
In Wahrheit ist Elisabeth Willkomm eine von zahllosen Patienten und Patientinnen, die im Zuge der
sogenannten „wilden Euthanasie“ in den Krankenhäusern Nazideutschlands umgebracht wurden. Denn auch nach dem vermeintlichen „Euthanasie-Stopp“ vom August 1941 wurde die groß angelegte Ermordung von körperlich, geistig und seelisch beeinträchtigten Menschen still und leise weitergeführt.

Bis Kriegsende haben Ärzte und Pflegepersonal mittels Nahrungsentzug und der Überdosierung von Medikamenten Leben, die sie „lebensunwert“ fanden, nach eigenem Ermessen beendet. In Polen und in der Sowjetunion mordeten die Schergen der SS zahllose Heime und Krankenhäuser leer. Die „nationalsozialistischen Krankenmorde“ reichen also bei Weitem über die etwa 70 000 Menschen hinaus, die unter der Ägide der Zentraldienststelle „T4“ in der Berliner Tiergartenstraße in sechs eigens eingerichteten Tötungsfabriken vergast wurden. Nach aktuellen Expertenmeinungen sind im Reichsgebiet und in Osteuropa mehr als 300 000 Personen Opfer der „Euthanasie“ geworden.

In diesen Tagen liegt der Auftakt des Verbrechens 80 Jahre zurück. 

In einem auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierten Schreiben verfügte Hitler die unter dem Euphemismus des Gnadentods firmierende „Vernichtung unwerten Lebens“. Historiker gehen heute davon aus, dass die Krankenmorde stärker ökonomisch als „rassehygienisch“ motiviert waren.
  • „Das maßgebliche Kriterium, das über Leben und Tod entschied, war die Arbeitsfähigkeit“, sagt der Münchner Psychiater und Euthanasie-Forscher Michael von Cranach. 
So wollte man sich die Versorgungskosten für jene Menschen sparen, die man zur Last für den „Volkskörper“ erklärte.

Mit der „Aktion T 4“, der zentral organisierten Ermordung von Kranken mit Kohlenmonoxid, verfolgten die Nazis aber noch andere Ziele. So gilt die Aktion als Testphase für die sich daran anschließende Judenvernichtung. Doch nicht nur die Durchführung der zentralen „Euthanasie“, auch ihr jähes Ende im August 1941, hat unmittelbar mit der Shoah zu tun. Von Cranach sagt, der sogenannte „Euthanasie-Stopp“ sei nur zum Teil mit der Empörung zu erklären, die in Teilen von Kirche und Gesellschaft bestand. Nicht zuletzt sei „T4“ auch deshalb gestoppt worden, weil man das in Organisation und Durchführung von massenhaften Tötungen nunmehr geschulte Personal für den aufwendigeren Holocaust brauchte.

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Am 1. September 2019 jährt sich nicht nur das erste groß angelegte Vernichtungsprojekt der Nationalsozialisten, sondern auch das zentrale Gedenken an die Opfer.
  • Seit fünf Jahren gibt es in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte, am Ort der einstigen Schaltstelle des Verbrechens, den Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde. 
Hinterbliebene und überlebende Opfer haben auf einen zentralen Gedenkort lange warten müssen. Auch deshalb begeht der Förderkreis Gedenkort T4 am morgigen Freitag gemeinsam mit verschiedenen Stiftungen und Verbänden das kleine Jubiläum mit einem Festakt ab 10 Uhr.

Das späte Gedenken an die Euthanasie „hängt sicher auch damit zusammen, dass psychisch kranke Menschen in der Gesellschaft keinen leichten Stand haben“, sagt von Cranach. Der Psychiater hat viel zur Aufarbeitung der NS-Krankenmorde beigetragen. Gemeinsam mit anderen Sozialpsychiatern und Medizinhistorikern sorgte er in den 80er-Jahren dafür, dass die deutsche Psychiatrie sich der Vergangenheit stellt. Denn nach 1945 gab es keine Zäsur. Der Großteil des „Euthanasie“-Personals wurde unbehelligt von jedweder Bestrafung weiter in den Kliniken beschäftigt.
  • Von Cranach erklärt, dass nicht nur zentrale Akteure, sondern auch die Narrative der NS-Psychiatrie noch lange unvermindert fortwirkten. Weit stärker als in den USA oder in England habe in den „Anstalten“ bis mindestens Ende der 70er-Jahre ein autoritärer und menschenverachtender Geist geherrscht.
Die katastrophalen Zustände einer entsozialisierenden „Verwaltungspsychiatrie“ verbesserten sich in den 80er-Jahren im Zuge der Psychiatriereform. Man dürfe sich aber nicht darauf ausruhen, sagt Michael von Cranach.
  • Aufgrund ihrer Verstrickung ins Verbrechen müsse die Institution der Psychiatrie ganz besonders für die Würde des Einzelnen einstehen. Und nicht nur die Behandlung, auch das Gedenken müsse auf den einzelnen Menschen zugeschnitten sein. 
Am Berliner Gedenkort in direkter Nachbarschaft der Philharmonie werden die Opfer nicht als abstrakte Gruppe repräsentiert. Sie werden als jene Individuen erinnert, als die sie aus dem Leben gerissen wurden. Nur so finden Menschen wie Elisabeth Willkomm einen Weg ins Gedächtnis der Gesellschaft.
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Seit 1986 recherchiere ich das NS-"Euthanasie"-Leidensporträt meiner Tante Erna Kronshage (*1922), die zunächst nach ihrer (Selbst-)Einweisung mit der fraglichen Diagnose "Schizophrenie" nach Ein- und Widersprüchen dann zwangssterilisiert werden musste nach erbobergerichtlichem Beschluss in zweiter Instanz, dann deportiert wurde, und schließlich am 20.02.1944 in der Nazi-"Euthanasie"-Vernichtungsanstalt "Tiegenhof"/Gnesen (polnisch: Dziekanka/Gniezno - heute Polen) ermordet wurde. 

Mein "Leitbild" vor 30 Jahren zu Beginn meiner Archiv- und Literaturforschungen und Aufarbeitungen war sicherlich getragen von den Leitsätzen und dem Wollen der "68er"-Generation insgesamt, in die ich hineingeboren wurde - und die diese Vorkommnisse in der Nazi-Zeit nicht mehr mit dem Mantel des Verschweigens zudecken wollte (Autoren: Ernst Klee, Götz Aly, Michael Wunder, Heinz Faulstich u.a.) - die die personale Mittäterschaft der Elterngeneration nicht länger infrage stellte.

Ich fand eine allmählich einsetzende - "formal-statistische" - "Sediment-Ablagerung" dieser rund 300.000 "Euthanasie"-Opfer vor - und dieses allgemeine - auch politisch-historisch und institutionelle Ablagern und Totschweigen all dieser Einzelopfer, für die sich zunächst kaum eine "Gedenk- und Erinnerungslobby" stark machte.

In diesen Zusammenhang passt ein nachdenkenswertes Zitat, das sowohl Stalin, Tucholsky aber auch Remarque zugeschrieben wird:

"Der Tod einer Person
 ist eine Tragödie, 
 aber der Tod von 300.000 
 ist eine Statistik."

Also aus diesem statistisch zahlenmäßig abgehakten Ablagerungs- und Verdrängungs-Sediment will ich mit der Rekonstruktion und Nacherzählung des Leidensporträts meiner Tante Erna Kronshage eben  e i n e n  winzigkleinen Krumen herauspuhlen und ihm nachgehen - beispielhaft für die anderen 299.999 - von denen vielleicht bis heute insgesamt 400 - 500 Einzelbiografien bekannt und publiziert sind - also gut ein Promille.

ERNA KRONSHAGE - click here
Ich sehe mich mehr als themenbezogene Begleitperson und als Lotse in Wort und Bild für einen gemeinsamen "Trip" in die Welt Erna Kronshages, vor allem natürlich der 484 Tage von ihrer Einweisung in die Provinzialheilanstalt Gütersloh - die just dieser Tage als psychiatrisches LWL-Klinikum heute auf ihr inzwischen 100-jähriges Wirken in jeder Hinsicht zurückblicken kann - bis zu ihrem gewaltsamen Tod - mit dessen ungeheuerlichen und auch zufälligen Begleitumständen - sowie all den aktiven und passiven Akteuren, die daran letztendlich mitgewirkt haben und beteiligt waren ... 

Es geht bei der Aufarbeitung all dieser Leidensporträts nicht um die unbotmäßige "Kultivierung eines deutschen Schuldkomplexes" (wie die Afd das inzwischen bezeichnet) - sondern immer noch um die notwendigen Freilegungen längst verdrängter Mordtaten an nicht stromlinienförmig zu integrierenden Menschen mitten aus Familie, Verwandtschaft oder Nachbarschaft, die man als "unnütze Esser" ablehnte und vernichtete, weil deren Leistungsfähigkeit nicht den Normen einer selbsternannten politisch-ideologisch extrem verqueren "Elite" entsprachen.

Und deshalb möchte ich auch den mir nachfolgenden Generationen zumindest virtuell den kurzen Lebensweg Erna Kronshages näherbringen als exemplarisches Beispiel dafür, mit wieviel (Mit-)Täterschaft und Verstrickungen letztlich so ein Mord vorsätzlich und doch auch hinter vorgehaltener Hand ganz stickum verübt wurde - nicht von einem Einzeltäter oder irgendwelchen Monstern, sondern kleinteilig fragmentiert - step by step - von einem verirrten Regime mit all seinen tumben Mitläufern, von Menschen wie du und ich: von Verwandten, Nachbarn, Beamten, Ärzten, NSV- und Ordensschwestern und Diakonissen, und dem Pflegepersonal in den Anstalten und Vernichtungskliniken unter Mitwirkung von Busfahrern, Lokomotivführern usw. - und all die Mitläufer und Gaffer, die es damals auch schon gab.

Und erschreckend beispielhaft zeigt diese Ermordung meiner Tante, wie rasch sich das alles - unter ganz anderen Prämissen - wiederholen kann, wenn "Verantwortung" und "Moral"  und "Ehrfurcht vor dem Leben" geteilt, zergliedert und fragmentiert wird.

Also lese und sehe - 
und erzähle es weiter ... - 
damit aus diesen Nacherzählungen 
Deine Nacherzählungen werden können... 

Sicherlich gibt es dabei neuere Pack-Enden anzufassen, aber wir dürfen all diese Opferschaft nicht einfach zum Sediment herbsinken und versteinern lassen - sondern in fruchtbaren lebendigen Humus umwandeln ...

Da werden dann die unschuldigen Opfer oft im Nachhinein immer noch als ein sorgsam gehütetes "Familiengeheimnis" konsequent abgeschottet, eingeschweißt, abgelegt, abgeheftet und möglichst stickum vertuscht und verleugnet - wodurch jedoch diesen Opfern immer noch keine angemessene Würde und Pietät zugestanden wird ... 

Die betroffenen Familien schweigen sich in der Regel aus, spalten ab, verdrängen und vergessen - oder wissen einfach inzwischen von nichts mehr ...

Ein weiteres - vielleicht verwandtes - Phänomen greift immer mehr Platz: Ein Phänomen, das die Psychoanalyse "Transgenerationale Weitergabe" von unverarbeiteten oder ungenügend verarbeiteten Kriegserlebnissen nennt. 

Auch die Kinder und die Enkel und Urenkel - also ganz biblisch ausgedrückt: "bis ins 3. und 4. Glied" - "leiden" oft genug noch unbewusst an den oft furchtbaren Traumata-Erlebnissen, die der Bombenkrieg, die Vertreibung, der Nazi-Holocaust oder eben auch die von Nazis und der NS-Psychiatrie zu verantwortende Vernichtung "unwerten Lebens" mit all ihren Gräueltaten mit sich bringen ... Oft sind das Nuancen, ein unbewusstes Schaudern oder eine Unfähigkeit - Ängste, die bei besonderen Situationen plötzlich "wie aus dem Nichts" kommen, eigenartige Traumsequenzen usw. -

"Das Vergessen der Vernichtung
 ist Teil 
 der Vernichtung selbst"

so hat es Harald Welzer in Anlehnung an Jean Baudrillard allerdings erst in unseren Tagen formuliert: Das Vergessen des Grauens ist also von den NS-Tätern, vom damaligen faschistischen System, implizit mitgedacht und haargenau mit geplant und einkalkuliert worden - war quasi Sinn der Vernichtungsaktionen: Vollständige und totale "Ausmerze" und konsequentes restloses "Niederführen" - diese faschistischen Unworte schließen ja eine endgültige "Tilgung" mit ein...

Vergangenes ist ja niemals tatsächlich Aus, Schluss und Vorbei: die Biografie der inzwischen 90-jährigen Schauspielerin Lieselotte Pulver heißt deshalb auch richtigerweise: "Was vergeht ist nicht verloren"... - sicherlich mit einem positiver gemeinten Ansinnen: Vergangenes bleibt und es ist - immer wenn wir es aufsuchen und damit kultivieren und integrieren in unser kollektives Bewusstsein...

Dem gewaltsamen Ableben meiner Tante Erna Kronshage im Februar 1944 werde ich Stück für Stück weiter nachspüren, soweit mir das je "bis zur Wahrheit" gelingen wird - noch "blinde Flecken" werde ich zeit- und forschungsgemäß aktualisieren... Und ich werde mich empören über das von ihr erlittene Unrecht.



SPIEGEL+: Nazi-Eugeniker Ernst Rüdin

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das ist ja fast wie ein muster: da wird ein arzt ende der 20er jahre bis vielleicht sogar anfang der 50er als fach-koryphäe auf seinem spezialgebiet gefeiert - auch international - und dann kommt mit dem zusammenbruch des nazi-regimes und dem aufdecken all der millionenfachen gräueltaten unter dieser ägide der jehe - zumindestens erst einmal moralische - absturz...

und spontan - sozusagen "auf dem fuße" - bildet sich ein schutzwall von alten getreuen und schülern um den nun endlich geschassten menschen,  die ihn für eventuell anstehende gerichtsverhandlungen immer wieder "krankschreiben" per gutachten, oder die ihm ein flugticket in die große weite welt zum "erst einmal verschwinden" besorgen wollen - und die sofort hinter diesem immer stärker ganz allmählich überführten verbrecher "wie ein mann stehen": ärzte die einfach alle "menschliche" ethik bei ihren "forschungen" und "menschenversuchen" längst über bord geworfen hatten, um der "wissenschaftlichen" reputation willen - in aufsätzen, fachvorträgen, fachbüchern und in der begleitung und "beaufsichtigung" von ihnen zugeordneten studenten ...

da fallen also plötzlich "welten" aus den selbstgezimmerten wolkenkuckucksheimen, die diese an sich "normalen wissenschaftler" für eine normale humanität gänzlich verstocken und unzugänglich werden ließen - die nicht mehr das eigene tun und die eigene schreibe selbstkritisch reflektieren konnten - und denen das notwendige tatsächlich wissenschaftliche korrektiv fehlte.

auch dieses geschilderte "muster" hat ja irgendwie einen "pathologischen" kern: übersteigertes geltungsbedürfnis und ein unbändiges machtstreben - koste es was es wolle ...

leider sind viel zu viele dieser "koryphäen" und ärzte ohne jemals belangt zu werden oft sogar nach einer ruhigen altersruhephase auf staatskosten dann inzwischen von uns gegangen - und wir "überlebenden" und nachgeborenen wissen gar nicht, ob diese damen und herren jemals etwas von ihren verbrechen gegen die menschlichkeit intern an sich herankommen ließen - und auch von ihrem eigenen versagen überhaupt notiz genommen haben ...