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unerbittliche gerechtigkeit bis ins 3. und 4. glied

Prozess gegen SS-Wachmann

Der alte Mann und die Morde

Ein früherer SS-Wachmann aus dem Konzentrationslager Stutthof steht vor Gericht. Muss das noch sein, fragt der 93-Jährige. Ja, sagen die Opfer.

Von Julia Jüttner | Der Spiegel


So hat sich Bruno Dey seinen letzten Lebensabschnitt nicht vorgestellt. In der wohl kurzen Zeit, die dem 93-Jährigen noch bleibt, muss er sich dem dunklen Teil seiner Vergangenheit stellen, den er verdrängt hatte. Nur mit seiner Frau will er darüber gesprochen haben.

Sie begleitet ihn fast an jedem Verhandlungstag in den Saal 300 des Hamburger Landgerichts. Am Arm ihrer Tochter setzt sie sich zu den Enkeln und hört zu. Sie hört, wie ihr Bruno vom Dienst aus seiner Zeit im Konzentrationslager Stutthof berichtet. Dass er dort von August 1944 bis April 1945 als Wachmann tätig war, in der 1. Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns.

Die Nationalsozialisten errichteten das Lager Stutthof in der Nähe Danzigs als Internierungslager für mehr als 100.000 Juden und politische Gegner. Mindestens 65.000 Menschen wurden ermordet, erschossen, erhängt, vergast, zu Tode gefoltert. Sie erfroren, verhungerten, arbeiteten sich zu Tode. Sie starben aufgrund der hygienischen Zustände an Epidemien. Dey bewachte ihre Hölle.

Er stand auf einem der Türme des Lagers. Seine Aufgabe war es, Flucht, Revolte und Befreiung zu verhindern. Die Gefangenen sollten ausharren bis zu ihrem Tod. Oberstaatsanwalt Lars Mahnke wirft ihm deshalb Beihilfe zum Mord in mindestens 5230 nachweisbaren Fällen vor.

Die Kammer muss nun klären, ob und inwieweit der Wachmann den Massenmord unterstützte. Was bekam er mit von dem Unrecht, der Folter, dem systematischen Töten? Trug er als "Rädchen der Mordmaschinerie", wie Mahnke sagt, dazu bei, "den Tötungsbefehl umzusetzen"? Kann ein Jugendlicher, der seinen Wehrdienst in einem KZ leisten musste und nicht selbst zur Waffe griff, schuld sein an Tausenden Morden?

Dey sitzt im Rollstuhl, ein Mann mit dichtem Haar und weißem Schnurrbart. Er sagt, er verstehe nicht, warum er jetzt, 75 Jahre nach Kriegsende, vor Gericht stehe. Muss das sein?

Ja, es muss. Das zeigt jeder der bislang 17 Verhandlungstage.

Es treten Zeugen auf, deren Aussagen helfen sollen, das Unvorstellbare zu rekonstruieren. Sie kommen aus Israel, Polen, Frankreich und Norwegen. Eine Überlebende wird aus Australien zugeschaltet. Insgesamt treten 40 Betroffene in dem Verfahren als Nebenkläger auf. Sie alle teilen erschütternde Erlebnisse und die Entschiedenheit, dass es im Verfahren gegen Dey nicht um Strafe geht. Auch nicht um Gerechtigkeit, weil es angesichts dieser Verbrechen keine Gerechtigkeit geben kann. Vielmehr soll ein Gericht das unermessliche Unrecht feststellen. Und es soll aufzeigen, dass auch die Helfer im Holocaust willige Vollstrecker waren. Wie Bruno Dey.

Einer der Zeugen ist Abraham Koryski, geboren in Litauen, angereist aus Nazareth. Er ist der Einzige seiner Familie, der den Holocaust überlebt hat. Ein kleiner Mann, 92 Jahre alt. Er beschreibt seine Ankunft im KZ Stutthof: Es sei Nacht gewesen. Und es habe nach Leichen gerochen. Er beschreibt den Sadismus der SS-Führer, die Folterspiele, die Quälereien während der Morgenappelle und sagt: "Die Wachmannschaften waren überall dabei."

Koryski hat nicht vergessen, wie er die Knochen Verstorbener einsammeln musste; wie seine Tante im Elektrozaun starb und sich sein Onkel daraufhin umbrachte. Abraham Koryski hat nicht vergessen, wie er mit anderen mitten in der Nacht aus den Baracken gejagt wurde, nackt, bei minus 20 Grad. Viele überlebten solche Torturen nicht. "Wir wurden zu Tieren gemacht", sagt er.

Nicht selten ist es schmerzhaft still in Saal 300, nicht selten fließen Tränen. Und nicht selten staunt man über diesen Angeklagten, der sich von seiner zum Islam konvertierten Tochter in einem Rollstuhl in den Saal schieben lässt. Dey beantwortet jede Frage mit fester Stimme.

Er sei kein Nationalsozialist gewesen, sagt er. Er war 17 Jahre alt, als er im Juni 1944 - mit insgesamt 500 Soldaten der Wehrmacht - ins KZ Stutthof verlegt wurde. Einen Monat später versetzte man ihn zu den Wachmannschaften der Waffen-SS. Es gibt keine Unterlagen, die beweisen, dass sich Dey freiwillig für den Wachdienst gemeldet hat. Er selbst sagt, er habe versucht, in der Kantine oder Küche unterzukommen. Er habe jedoch keine Möglichkeit gesehen, sich dem Dienst zu entziehen.

"Die Bilder des Elends und des Schreckens haben mich mein Leben lang verfolgt", sagt Dey. Nur hat er viele Bilder des Elends und des Schreckens offensichtlich vergessen, verdrängt oder will sie nicht beschreiben. Und so kommen auf viele Fragen, die er geduldig beantwortet, viele Antworten, die schwer auszuhalten sind.

Eine dieser Antworten lautet: "Ich sehe keine Schuld bei mir." Bruno Dey sagt diesen Satz immer wieder, in verschiedenen Varianten. "Ich habe keine Schuld. Ich habe niemandem direkt Leid angetan." Dey sagt auch: "Es ist schon so viel über dieses Thema gesprochen und verhandelt worden." Alles werde wieder "aufgewühlt". Sein Lebensabend sei "zerstört".

Als die Polizei im September 2016 bei ihm klingelte, um sein Haus zu durchsuchen, war der Rentner überrascht. Warum jetzt? Warum er? Warum wieder? Dey wurde schon einmal befragt, damals ermittelte die Justiz gegen andere Verdächtige. Er gab bereitwillig Auskunft, er hatte doch nichts zu verbergen, habe er gedacht.

Darauf stellt auch sein Verteidiger Stefan Waterkamp ab: Dey habe sich in all den Jahrzehnten nicht versteckt, keiner habe sich für einen "einfachen Wachmann wie ihn" interessiert. Wie hätte Dey darauf kommen sollen, dass ihm Beihilfe zum Mord vorgeworfen werden könnte? Wie hätte er ahnen sollen, auch vor dem Gesetz schuldig geworden zu sein?

Der Kriminalbeamte, der Deys Haus durchsuchte, erinnert sich im Gerichtssaal gut an den Greis, der ihn in den Wintergarten bat und sich nicht davon abhalten ließ, sofort über seine Zeit in Stutthof zu erzählen. "Ich hatte den Eindruck, dass er erzählen will, weil ihn das belastet. Weil ihn das immer belastet hat."

Der Polizist erinnert sich aber auch daran, wie Dey versucht habe, "sich selbst gut dastehen zu lassen". Immer wieder habe er gesagt, er sei da nicht freiwillig gewesen. Und dass ihm die Leute leidgetan hätten, er aber keine Möglichkeit gesehen habe, "sich dem zu entziehen". Er habe Hunderte Leichen gesehen, aber nicht mitbekommen, wie die Menschen gestorben seien, habe Dey ihm gesagt.

Der Eingang zum Lager Stutthof bei Nacht. Bis zu 85 000 Menschen sind in dem NS-Konzentrationslager umgekommen.
Foto: Kerstin Zimmermann 


Der Historiker Stefan Hördler ist da anderer Ansicht. Er hat im Auftrag der Kammer ein Gutachten verfasst, das dem SPIEGEL vorliegt. Seine Einschätzung belastet Bruno Dey. Die Verbrennungen im Krematorium und in den offenen Leichengruben seien für alle SS-Angehörigen "sichtbar und durch Geruch bemerkbar" gewesen, so Hördler. Was im Lager geschah, sei für alle KZ-Wächter "allgegenwärtig" gewesen. Dey hingegen will sich an den Geruch verbrannter Menschen nicht erinnern. Obwohl er Wache schob auf einem der Türme gleich neben dem Krematorium.

Alle SS-Männer wurden in Stutthof regelmäßig ideologisch und praktisch geschult, wie Hördler herausgefunden hat. Sie absolvierten Schießübungen, hörten Vorträge und nahmen am Truppenbetreuungsprogramm teil.

Dey streitet das ab. Er erinnert sich nur an einen einzigen Besuch im Kino, Schulungen müssten stattgefunden haben, als er krank gewesen sei. Außerdem: "Ich glaube nicht, dass da echte Nazis dabei waren", sagt er über seine früheren Kameraden. Es ist eine dieser Antworten, die kaum auszuhalten sind.

Denn ausgerechnet der Mann, der den Wehrmachtsoldaten Dey in die 1. Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns holte, war ein besonders fanatischer Nationalsozialist. Hauptsturmführer Richard Reddig gehörte bereits vor 1933 der SS an. In Stutthof war Reddig die "rechte Hand" des Lagerkommandanten. Seine Vorgesetzten feierten ihn für "große Verdienste", gemeint waren "Säuberungsaktionen", systematische Massentötungen.

Reddig entschied, wer in seine Kompanie kam. Er setzte auf eine Mischung aus altgedienten, gewaltbereiten SS-Mitgliedern, erfahren im KZ-Dienst, und jungen Rekruten, die er "ein Stück weit formen konnte". Dey hatte zuvor, zwischen Ostern und Juni 1944, in zwei Verbänden der Wehrmacht gedient.

Ab August 1944 war Dey ohne Unterbrechung Wachmann der 1. Kompanie. Damit leistete er nach Angaben des Gutachters seinen Dienst zu einer Zeit, als in Stutthof massenhaft Kranke und Arbeitsunfähige ermordet wurden. Dey muss demnach gewusst haben, was auf dem Gelände geschah.

Der Angeklagte aber bleibt vor Gericht bei seiner Version. Die Ankunft von mehr als 50.000 Gefangenen, die im zweiten Halbjahr 1944 in das Lager gebracht wurden und kaum noch in die Baracken passten, der Berg Tausender Schuhe, die abgerichteten Hunde, die Prügelattacken und mörderischen Angriffe während der Appelle: "Ich habe das nicht mitbekommen", sagt er. Seine Erinnerung dürfte eher mit seinem Selbstbild als mit der historischen Wahrheit zu tun haben.

Immer wieder fragt Dey im Gericht, was er hätte tun sollen. Die Vorsitzende Anne Meier-Göring stellt eine Gegenfrage: warum er sich nicht versetzen ließ? Das sei nicht möglich gewesen, sagt er. Hätte er einen solchen Antrag gestellt, hätte er sich in Gefahr gebracht. Die Richterin hält dagegen: Es gebe keinen einzigen Wachmann, der für ein Versetzungsgesuch bestraft worden sei. Aber es gebe viele frühere Wachmänner, die heute so argumentierten. "Millionen Menschen wurden getötet, aber kein einziger Wachmann, der sich widersetzt hat", sagt die Richterin.
Warum durften Männer wie Dey
ihr Leben fast zu Ende leben,
ohne je belangt worden zu sein?
Den Wachmännern habe es freigestanden, ein entsprechendes Gesuch einzureichen, sagt auch Historiker Hördler. Insbesondere freiwillige Meldungen an die Front wurden begrüßt und beworben. Auch weil ein Einsatz an der "äußeren Front" besser zu dem Ehren- und Elitekodex der SS und dem heroischen Soldatenbild innerhalb der Truppe passte als der Dienst in einem KZ.

Tausend SS-Wachmänner aus Konzentrationslagern wurden im August 1944 zu Feldeinheiten der Waffen-SS versetzt, zahlreiche davon aus Stutthof. Dey aber blieb bis April 1945 im Lager.

Was es gebracht hätte, wenn er sich um eine Versetzung bemüht hätte, fragt Dey einmal das Gericht und gibt die Antwort selbst: "Dann wäre ein anderer gekommen." Er atmet kurz durch. "Niemandem wäre damit gedient gewesen. Keiner wäre gerettet worden." Oberstaatsanwalt Mahnke hat einen anderen Verdacht: "Hatten Sie Angst davor, an die Front zu müssen?" Auch das streitet Dey ab. Fest steht: Mehr als die Hälfte aller getöteten deutschen Soldaten starb, als Dey in Stutthof war.

Viele Zuschauer, die in die Verhandlung kommen, sind irritiert, warum Männer wie Dey ihr Leben fast zu Ende leben durften, ohne je belangt zu werden. Die deutsche Justiz ließ sie lange Zeit in Ruhe. Bis das Münchner Landgericht den Wachmann John Demjanjuk 2011 wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Sobibór an 28.000 Menschen verurteilte und damit endgültig das Signal gab: Wer sich, egal wie, an einer "Vernichtungsmaschinerie" beteiligte, trägt eine Mitschuld.

Der Bundesgerichtshof bestätigte 2016 das Urteil gegen den Auschwitz-Helfer Oskar Gröning, den das Landgericht Lüneburg für vier Jahre in Haft schicken wollte. Im selben Jahr wurde Reinhold Hanning, Wachmann in Auschwitz, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Beide Männer starben, bevor sie die Haft antreten mussten.

Der Prozess gegen Bruno Dey dürfte einer der letzten Versuche sein, Gewaltverbrechen der Nazis juristisch aufzuklären. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen hat zuletzt Ermittlungen zu Verbrechen in Auschwitz, Buchenwald, Majdanek, Mauthausen, Ravensbrück, Sachsenhausen und Stutthof geführt. Davon laufen noch 22 Verfahren bei den Staatsanwaltschaften.

Sämtliche Beschuldigten, darunter auch Frauen, haben das 90. Lebensjahr überschritten, allen wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. In keinem Fall gibt es Hinweise, dass die Beschuldigten direkt gemordet haben. Vielmehr gehe der Verdacht gegen sie auf ihre "allgemeine Dienstausübung in einer bestimmten Funktion" zurück, sagt Jens Rommel, Leiter der Zentralen Stelle.

An einem der Verhandlungstage im Prozess gegen Dey sitzt Esther Bejarano im Zuschauerraum. Sie überlebte den Holocaust. Heute ist sie 95 Jahre alt. Bejarano steht vor Saal 300 auf dem Flur und sagt: "Wer dabei war, hat alles gewusst."

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nein - hergottnochmal - es muss nicht mehr sein: es ist zu spät. und damit un"berechtigt". das ganze kommt für mich einfach zu spät. 

in den 50-er bis 80-er jahren des vorigen jahrhunderts hätten die staatsanwaltschaften und die justiz insgesamt gelegenheiten gehabt, prozesse zu führen gegen nazi-täter und ihren helfern und helfershelfern. prozesse mit der akribie wie gegen die "raf" in stammheim - oder wie gegen den "nsu" in münchen (wo immer noch keine schriftliche urteilsbegründung vorliegt - und das ganze verfahren noch immer nicht rechtskräftig ist). 

die junge bundesrepublik aber auch die ddr haben es nun mal - meines erachtens "unwiederbringlich" - versäumt haben, direkt nach kriegsende die juristische aufarbeitung dieser zeit mit ihren oft tödlichen verfehlungen konsequent und ohne jede schonung wegen der damaligen aktuellen stellung oder einer neuen parteizugehörigkeit durchzuführen - für einige hervorstechenden positionen, aber ebenso hier und da auch für otto- und ottilie-normalverbraucher, die ja selbst massiv verstrickt mit dem ns-regime waren und oft direkt als neue "würdenträger" daraus hervorgegangen sind.

und mit der logik, mit der man den 93-jährigen - damals 17-jährigen - bruno dey hier & heute angeht macht man den fehler, das heutige rechts- bzw. unrechts-empfinden und die mentalität auf die zeit vor 75 bis 80 jahren zu übertragen. und ich werde den verdacht nicht los, dass da auch genügend menschen in der "deutschen justiz" sitzen, die mit dieser art und weise auch in ihrer eigenen familie  - also persönlich - vielleicht auch für sich selbst - einiges klar- und "richtig"stellen wollen (und vielleicht müssen).

wenn also wirklich allen beteiligten längst klar ist, "dass es im Verfahren gegen Dey nicht um Strafe geht - auch nicht um Gerechtigkeit, weil es angesichts dieser Verbrechen keine Gerechtigkeit geben kann", und dass "vielmehr ein Gericht das unermessliche Unrecht feststellen soll", dass es "aufzeigen soll , dass auch die Helfer im Holocaust willige vollstrecker waren" [aber das gilt ja für das gesamte damalige "deutsche volk!] hätte man mit einem mehrteiligen halbrealen "fernsehgericht" ähnliches ganz unjustiziabel darstellen können.

der historiker martin sobrow fordert für mich völlig zu "recht", dass nüchternheit die emphase ersetzen muss, und die gesellschaft, also auch die justiz, der versuchung widerstehen muss, den "wertehimmel unserer zeit" auf die vergangenheit zu projizieren. und er stellt auch die ewige im wahrsten sinne des wortes "un-zu-frieden-heit" fest, wenn er schreibt, dass "aufarbeitung zwar permanent eine versöhnung verspricht, die sie jedoch nicht einlösen kann, weil sie das schuldbekenntnis nicht mit vergessen wird vergelten können:
"In der Tiefenpsychologie gilt das erinnernde Durcharbeiten als Schritt zur endgültigen Heilung mit dem Ziel des psychischen Überwindens und Loslassens. Im gesellschaftlichen Aufarbeitungsdiskurs hingegen ist nicht das Loslassen das Ziel, sondern die fortwährende Auseinandersetzung. Die Idee der Aufarbeitung fußt auf einer prinzipiellen Unabschließbarkeit, die ihrer gleichermaßen fundamentalen Vergebungsbereitschaft zuwiderläuft. Anders gesagt: Aufarbeitung verspricht permanent eine Versöhnung, die sie nicht einlösen kann, weil sie das Schuldbekenntnis nicht mit Vergessen vergelten kann."
diese "moralischen" fakten hat man in diesen prozessen einfach und schlicht "nicht drauf". diese die rechtsprechung mit beeinflussenden nuancen sind vielleicht im moment vergessen oder werden (bewusst?) nicht bis zu ende gedacht.

wie das leben - so ändert sich der mensch im laufe der entwicklung - in seinen ihn prägenden prämissen, motiven, anschauungen. und fast 100 jahre distanz sind natürlich eine zeitspanne, wo solche veränderungen und entwicklungen stattgefunden haben. unsere eltern- und großelterngenerationen mussten wahrscheinlich schon zur eigenen psychohygiene in der ersten schockphase schweigen und vertuschen, als damals angemessenem reflex auf das unfassbare - an dem sich fast alle - wahrscheinlich um die 90 prozent des deutschen "tätervolkes" zwischen 1933 bis 1945 - mitbeteiligt haben - und denen man genau wie herrn dey in irgendeiner weise bestimmt mehr oder weniger "beihilfe" am massenmord für fast 10 millionen europäer aus unterschiedlichsten gründen heraus inzwischen nachweisen könnte.

wenn man mit der gleichen konsequenz, die man jetzt seit ein paar jahren erst anwendet, um alte senioren in den gerichtssaal zu zerren, alle helfer und auch unbewussten helfershelfer der "raf" und des "nsu" anklagen würde und ihnen nachstellen würde, wenn man die "geheimen" akten dazu heranziehen könnte, würde man in den gerichten sicherlich wegen arbeitsüberlastung meutern.

okay - man darf nicht äpfel mit birnen vergleichen, obwohl beide sorten "obst" sind - aber irgendwie haben diese späten mitläufer- und wachpersonal-anklagen fast etwas von einer gewissen "sieger-mentalität" und propagandistischer überheblichkeit, die diesen alten menschen noch gerade mal zu lebzeiten endlich beibringen will, was recht & ordnung ist im "christlichen abendland" - und heutzutage in diesem unseren lande.

geradezu zynisch und unmenschlich empfinde ich die feststellung oben: "Den Wachmännern habe es freigestanden, ein entsprechendes Gesuch einzureichen, sagt auch Historiker Hördler. Insbesondere freiwillige Meldungen an die Front wurden begrüßt und beworben. Auch weil ein Einsatz an der "äußeren Front" besser zu dem Ehren- und Elitekodex der SS und dem heroischen Soldatenbild innerhalb der Truppe passte als der Dienst in einem KZ."  - merke also: wer nicht an die front geht in einem mörderischen krieg entgegen aller damals bestehenden bilateralen verträge und des völkerrechts und lieber wachmann in einem lager ist, ist moralisch eindeutig im unrecht - und das meint implizit auch die "unvoreingenommene" richterin in dem prozess, bei dem es ja angeblich "nicht um Strafe geht - auch nicht um Gerechtigkeit, weil es angesichts dieser Verbrechen keine Gerechtigkeit geben kann", und dass "vielmehr ein Gericht das unermessliche Unrecht feststellen soll" - unrecht ist es also, sich nicht beizeiten an die front zu melden, weil dort ja offensichtlich weniger getötet und gemordet wird wie als wachmann auf einem aufsichtsturm eines kz...

und meine kritik daran hat für mich - aber anscheinend ja auch für die teilnehmer am jetzigen dey-prozess - auch nichts mit schuld oder unschuld zu tun - sondern einfach mit humanität, eben auch für die paar menschen noch, die vor 80 jahren, selber damals vielleicht 16 - 17 jahre alt, einfach verblendet mitmachen mussten oder mitgemacht haben, weil sie nichts anderes kannten als hj und bdm und arbeitsdienst - eigentlich wie zu der zeit ja das gesamte "deutsche volk" - von einigen wenigen widerstandskämpfern einmal abgesehen.

herr dey und einige andere infragekommenden senioren-angeklagte, die nur "mitläufer" oder "wachsoldaten" waren, sind für mich nicht unschuldig, aber ihre "schuld" ist nicht viel größer als die schuld, die auf dem gesamten nachkriegs-deutschland lastet(e).

für eine juristische aburteilung dieses geschehens ist es für mich wenigstens viel "zu spät" - aber eine gründliche aufarbeitung mit hilfe der archive - mit der nennung von klarnamen, wie man es ja bei einigen politikern auch heutzutage für das internet einfordert - und eine gute und prägend-bleibende aufarbeitung dieser grausamen epoche in den familien selbst, in den schulen und universitäten und in den medien ist weiterhin - auch für eine gesunde integration und bearbeitung im gesellschaftsbewusstseins - vonnöten - auch über die gängigen paar "gedenktage", die aber auch unbedingt begangen werden müssen, hinaus: dafür ist es nie "zu spät" - und auch in 100 jahren noch nicht ...

und - von wegen "gerechtigkeit" - zum schluss noch in diesem plädoyer für die vernunft: der polnisch-"volksdeutsche" chefarzt dr. victor ratka der "euthanasie"-vernichtungs-klinik "tiegenhof" bei gnesen, in der meine tante erna kronshage ermordet wurde, wurde bei insgesamt wahrscheinlich über 5.000 zu verantwortenden angeordneten tötungen in zwei ermittlungsverfahren jedesmal als "vernehmungsunfähig" wegen irgendwelcher gebrechen von seinen kollegen be"gut"achtet ("eine krähe ..."?). er starb somit unbehelligt 1966, über 20 jahre nach kriegsende, im sonnigen breisgau, wohin er sich "zurückgezogen" hatte - und erhielt von der bundesrepublik bis zu seinem lebensende die volle pension als ehemaliger anstalts-chefarzt.

aber - man darf ja nicht äpfel mit birnen vergleichen ...

lies auch genau zu diesem prozess hier - und hier