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unerbittliche gerechtigkeit bis ins 3. und 4. glied

Prozess gegen SS-Wachmann

Der alte Mann und die Morde

Ein früherer SS-Wachmann aus dem Konzentrationslager Stutthof steht vor Gericht. Muss das noch sein, fragt der 93-Jährige. Ja, sagen die Opfer.

Von Julia Jüttner | Der Spiegel


So hat sich Bruno Dey seinen letzten Lebensabschnitt nicht vorgestellt. In der wohl kurzen Zeit, die dem 93-Jährigen noch bleibt, muss er sich dem dunklen Teil seiner Vergangenheit stellen, den er verdrängt hatte. Nur mit seiner Frau will er darüber gesprochen haben.

Sie begleitet ihn fast an jedem Verhandlungstag in den Saal 300 des Hamburger Landgerichts. Am Arm ihrer Tochter setzt sie sich zu den Enkeln und hört zu. Sie hört, wie ihr Bruno vom Dienst aus seiner Zeit im Konzentrationslager Stutthof berichtet. Dass er dort von August 1944 bis April 1945 als Wachmann tätig war, in der 1. Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns.

Die Nationalsozialisten errichteten das Lager Stutthof in der Nähe Danzigs als Internierungslager für mehr als 100.000 Juden und politische Gegner. Mindestens 65.000 Menschen wurden ermordet, erschossen, erhängt, vergast, zu Tode gefoltert. Sie erfroren, verhungerten, arbeiteten sich zu Tode. Sie starben aufgrund der hygienischen Zustände an Epidemien. Dey bewachte ihre Hölle.

Er stand auf einem der Türme des Lagers. Seine Aufgabe war es, Flucht, Revolte und Befreiung zu verhindern. Die Gefangenen sollten ausharren bis zu ihrem Tod. Oberstaatsanwalt Lars Mahnke wirft ihm deshalb Beihilfe zum Mord in mindestens 5230 nachweisbaren Fällen vor.

Die Kammer muss nun klären, ob und inwieweit der Wachmann den Massenmord unterstützte. Was bekam er mit von dem Unrecht, der Folter, dem systematischen Töten? Trug er als "Rädchen der Mordmaschinerie", wie Mahnke sagt, dazu bei, "den Tötungsbefehl umzusetzen"? Kann ein Jugendlicher, der seinen Wehrdienst in einem KZ leisten musste und nicht selbst zur Waffe griff, schuld sein an Tausenden Morden?

Dey sitzt im Rollstuhl, ein Mann mit dichtem Haar und weißem Schnurrbart. Er sagt, er verstehe nicht, warum er jetzt, 75 Jahre nach Kriegsende, vor Gericht stehe. Muss das sein?

Ja, es muss. Das zeigt jeder der bislang 17 Verhandlungstage.

Es treten Zeugen auf, deren Aussagen helfen sollen, das Unvorstellbare zu rekonstruieren. Sie kommen aus Israel, Polen, Frankreich und Norwegen. Eine Überlebende wird aus Australien zugeschaltet. Insgesamt treten 40 Betroffene in dem Verfahren als Nebenkläger auf. Sie alle teilen erschütternde Erlebnisse und die Entschiedenheit, dass es im Verfahren gegen Dey nicht um Strafe geht. Auch nicht um Gerechtigkeit, weil es angesichts dieser Verbrechen keine Gerechtigkeit geben kann. Vielmehr soll ein Gericht das unermessliche Unrecht feststellen. Und es soll aufzeigen, dass auch die Helfer im Holocaust willige Vollstrecker waren. Wie Bruno Dey.

Einer der Zeugen ist Abraham Koryski, geboren in Litauen, angereist aus Nazareth. Er ist der Einzige seiner Familie, der den Holocaust überlebt hat. Ein kleiner Mann, 92 Jahre alt. Er beschreibt seine Ankunft im KZ Stutthof: Es sei Nacht gewesen. Und es habe nach Leichen gerochen. Er beschreibt den Sadismus der SS-Führer, die Folterspiele, die Quälereien während der Morgenappelle und sagt: "Die Wachmannschaften waren überall dabei."

Koryski hat nicht vergessen, wie er die Knochen Verstorbener einsammeln musste; wie seine Tante im Elektrozaun starb und sich sein Onkel daraufhin umbrachte. Abraham Koryski hat nicht vergessen, wie er mit anderen mitten in der Nacht aus den Baracken gejagt wurde, nackt, bei minus 20 Grad. Viele überlebten solche Torturen nicht. "Wir wurden zu Tieren gemacht", sagt er.

Nicht selten ist es schmerzhaft still in Saal 300, nicht selten fließen Tränen. Und nicht selten staunt man über diesen Angeklagten, der sich von seiner zum Islam konvertierten Tochter in einem Rollstuhl in den Saal schieben lässt. Dey beantwortet jede Frage mit fester Stimme.

Er sei kein Nationalsozialist gewesen, sagt er. Er war 17 Jahre alt, als er im Juni 1944 - mit insgesamt 500 Soldaten der Wehrmacht - ins KZ Stutthof verlegt wurde. Einen Monat später versetzte man ihn zu den Wachmannschaften der Waffen-SS. Es gibt keine Unterlagen, die beweisen, dass sich Dey freiwillig für den Wachdienst gemeldet hat. Er selbst sagt, er habe versucht, in der Kantine oder Küche unterzukommen. Er habe jedoch keine Möglichkeit gesehen, sich dem Dienst zu entziehen.

"Die Bilder des Elends und des Schreckens haben mich mein Leben lang verfolgt", sagt Dey. Nur hat er viele Bilder des Elends und des Schreckens offensichtlich vergessen, verdrängt oder will sie nicht beschreiben. Und so kommen auf viele Fragen, die er geduldig beantwortet, viele Antworten, die schwer auszuhalten sind.

Eine dieser Antworten lautet: "Ich sehe keine Schuld bei mir." Bruno Dey sagt diesen Satz immer wieder, in verschiedenen Varianten. "Ich habe keine Schuld. Ich habe niemandem direkt Leid angetan." Dey sagt auch: "Es ist schon so viel über dieses Thema gesprochen und verhandelt worden." Alles werde wieder "aufgewühlt". Sein Lebensabend sei "zerstört".

Als die Polizei im September 2016 bei ihm klingelte, um sein Haus zu durchsuchen, war der Rentner überrascht. Warum jetzt? Warum er? Warum wieder? Dey wurde schon einmal befragt, damals ermittelte die Justiz gegen andere Verdächtige. Er gab bereitwillig Auskunft, er hatte doch nichts zu verbergen, habe er gedacht.

Darauf stellt auch sein Verteidiger Stefan Waterkamp ab: Dey habe sich in all den Jahrzehnten nicht versteckt, keiner habe sich für einen "einfachen Wachmann wie ihn" interessiert. Wie hätte Dey darauf kommen sollen, dass ihm Beihilfe zum Mord vorgeworfen werden könnte? Wie hätte er ahnen sollen, auch vor dem Gesetz schuldig geworden zu sein?

Der Kriminalbeamte, der Deys Haus durchsuchte, erinnert sich im Gerichtssaal gut an den Greis, der ihn in den Wintergarten bat und sich nicht davon abhalten ließ, sofort über seine Zeit in Stutthof zu erzählen. "Ich hatte den Eindruck, dass er erzählen will, weil ihn das belastet. Weil ihn das immer belastet hat."

Der Polizist erinnert sich aber auch daran, wie Dey versucht habe, "sich selbst gut dastehen zu lassen". Immer wieder habe er gesagt, er sei da nicht freiwillig gewesen. Und dass ihm die Leute leidgetan hätten, er aber keine Möglichkeit gesehen habe, "sich dem zu entziehen". Er habe Hunderte Leichen gesehen, aber nicht mitbekommen, wie die Menschen gestorben seien, habe Dey ihm gesagt.

Der Eingang zum Lager Stutthof bei Nacht. Bis zu 85 000 Menschen sind in dem NS-Konzentrationslager umgekommen.
Foto: Kerstin Zimmermann 


Der Historiker Stefan Hördler ist da anderer Ansicht. Er hat im Auftrag der Kammer ein Gutachten verfasst, das dem SPIEGEL vorliegt. Seine Einschätzung belastet Bruno Dey. Die Verbrennungen im Krematorium und in den offenen Leichengruben seien für alle SS-Angehörigen "sichtbar und durch Geruch bemerkbar" gewesen, so Hördler. Was im Lager geschah, sei für alle KZ-Wächter "allgegenwärtig" gewesen. Dey hingegen will sich an den Geruch verbrannter Menschen nicht erinnern. Obwohl er Wache schob auf einem der Türme gleich neben dem Krematorium.

Alle SS-Männer wurden in Stutthof regelmäßig ideologisch und praktisch geschult, wie Hördler herausgefunden hat. Sie absolvierten Schießübungen, hörten Vorträge und nahmen am Truppenbetreuungsprogramm teil.

Dey streitet das ab. Er erinnert sich nur an einen einzigen Besuch im Kino, Schulungen müssten stattgefunden haben, als er krank gewesen sei. Außerdem: "Ich glaube nicht, dass da echte Nazis dabei waren", sagt er über seine früheren Kameraden. Es ist eine dieser Antworten, die kaum auszuhalten sind.

Denn ausgerechnet der Mann, der den Wehrmachtsoldaten Dey in die 1. Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns holte, war ein besonders fanatischer Nationalsozialist. Hauptsturmführer Richard Reddig gehörte bereits vor 1933 der SS an. In Stutthof war Reddig die "rechte Hand" des Lagerkommandanten. Seine Vorgesetzten feierten ihn für "große Verdienste", gemeint waren "Säuberungsaktionen", systematische Massentötungen.

Reddig entschied, wer in seine Kompanie kam. Er setzte auf eine Mischung aus altgedienten, gewaltbereiten SS-Mitgliedern, erfahren im KZ-Dienst, und jungen Rekruten, die er "ein Stück weit formen konnte". Dey hatte zuvor, zwischen Ostern und Juni 1944, in zwei Verbänden der Wehrmacht gedient.

Ab August 1944 war Dey ohne Unterbrechung Wachmann der 1. Kompanie. Damit leistete er nach Angaben des Gutachters seinen Dienst zu einer Zeit, als in Stutthof massenhaft Kranke und Arbeitsunfähige ermordet wurden. Dey muss demnach gewusst haben, was auf dem Gelände geschah.

Der Angeklagte aber bleibt vor Gericht bei seiner Version. Die Ankunft von mehr als 50.000 Gefangenen, die im zweiten Halbjahr 1944 in das Lager gebracht wurden und kaum noch in die Baracken passten, der Berg Tausender Schuhe, die abgerichteten Hunde, die Prügelattacken und mörderischen Angriffe während der Appelle: "Ich habe das nicht mitbekommen", sagt er. Seine Erinnerung dürfte eher mit seinem Selbstbild als mit der historischen Wahrheit zu tun haben.

Immer wieder fragt Dey im Gericht, was er hätte tun sollen. Die Vorsitzende Anne Meier-Göring stellt eine Gegenfrage: warum er sich nicht versetzen ließ? Das sei nicht möglich gewesen, sagt er. Hätte er einen solchen Antrag gestellt, hätte er sich in Gefahr gebracht. Die Richterin hält dagegen: Es gebe keinen einzigen Wachmann, der für ein Versetzungsgesuch bestraft worden sei. Aber es gebe viele frühere Wachmänner, die heute so argumentierten. "Millionen Menschen wurden getötet, aber kein einziger Wachmann, der sich widersetzt hat", sagt die Richterin.
Warum durften Männer wie Dey
ihr Leben fast zu Ende leben,
ohne je belangt worden zu sein?
Den Wachmännern habe es freigestanden, ein entsprechendes Gesuch einzureichen, sagt auch Historiker Hördler. Insbesondere freiwillige Meldungen an die Front wurden begrüßt und beworben. Auch weil ein Einsatz an der "äußeren Front" besser zu dem Ehren- und Elitekodex der SS und dem heroischen Soldatenbild innerhalb der Truppe passte als der Dienst in einem KZ.

Tausend SS-Wachmänner aus Konzentrationslagern wurden im August 1944 zu Feldeinheiten der Waffen-SS versetzt, zahlreiche davon aus Stutthof. Dey aber blieb bis April 1945 im Lager.

Was es gebracht hätte, wenn er sich um eine Versetzung bemüht hätte, fragt Dey einmal das Gericht und gibt die Antwort selbst: "Dann wäre ein anderer gekommen." Er atmet kurz durch. "Niemandem wäre damit gedient gewesen. Keiner wäre gerettet worden." Oberstaatsanwalt Mahnke hat einen anderen Verdacht: "Hatten Sie Angst davor, an die Front zu müssen?" Auch das streitet Dey ab. Fest steht: Mehr als die Hälfte aller getöteten deutschen Soldaten starb, als Dey in Stutthof war.

Viele Zuschauer, die in die Verhandlung kommen, sind irritiert, warum Männer wie Dey ihr Leben fast zu Ende leben durften, ohne je belangt zu werden. Die deutsche Justiz ließ sie lange Zeit in Ruhe. Bis das Münchner Landgericht den Wachmann John Demjanjuk 2011 wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Sobibór an 28.000 Menschen verurteilte und damit endgültig das Signal gab: Wer sich, egal wie, an einer "Vernichtungsmaschinerie" beteiligte, trägt eine Mitschuld.

Der Bundesgerichtshof bestätigte 2016 das Urteil gegen den Auschwitz-Helfer Oskar Gröning, den das Landgericht Lüneburg für vier Jahre in Haft schicken wollte. Im selben Jahr wurde Reinhold Hanning, Wachmann in Auschwitz, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Beide Männer starben, bevor sie die Haft antreten mussten.

Der Prozess gegen Bruno Dey dürfte einer der letzten Versuche sein, Gewaltverbrechen der Nazis juristisch aufzuklären. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen hat zuletzt Ermittlungen zu Verbrechen in Auschwitz, Buchenwald, Majdanek, Mauthausen, Ravensbrück, Sachsenhausen und Stutthof geführt. Davon laufen noch 22 Verfahren bei den Staatsanwaltschaften.

Sämtliche Beschuldigten, darunter auch Frauen, haben das 90. Lebensjahr überschritten, allen wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. In keinem Fall gibt es Hinweise, dass die Beschuldigten direkt gemordet haben. Vielmehr gehe der Verdacht gegen sie auf ihre "allgemeine Dienstausübung in einer bestimmten Funktion" zurück, sagt Jens Rommel, Leiter der Zentralen Stelle.

An einem der Verhandlungstage im Prozess gegen Dey sitzt Esther Bejarano im Zuschauerraum. Sie überlebte den Holocaust. Heute ist sie 95 Jahre alt. Bejarano steht vor Saal 300 auf dem Flur und sagt: "Wer dabei war, hat alles gewusst."

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nein - hergottnochmal - es muss nicht mehr sein: es ist zu spät. und damit un"berechtigt". das ganze kommt für mich einfach zu spät. 

in den 50-er bis 80-er jahren des vorigen jahrhunderts hätten die staatsanwaltschaften und die justiz insgesamt gelegenheiten gehabt, prozesse zu führen gegen nazi-täter und ihren helfern und helfershelfern. prozesse mit der akribie wie gegen die "raf" in stammheim - oder wie gegen den "nsu" in münchen (wo immer noch keine schriftliche urteilsbegründung vorliegt - und das ganze verfahren noch immer nicht rechtskräftig ist). 

die junge bundesrepublik aber auch die ddr haben es nun mal - meines erachtens "unwiederbringlich" - versäumt haben, direkt nach kriegsende die juristische aufarbeitung dieser zeit mit ihren oft tödlichen verfehlungen konsequent und ohne jede schonung wegen der damaligen aktuellen stellung oder einer neuen parteizugehörigkeit durchzuführen - für einige hervorstechenden positionen, aber ebenso hier und da auch für otto- und ottilie-normalverbraucher, die ja selbst massiv verstrickt mit dem ns-regime waren und oft direkt als neue "würdenträger" daraus hervorgegangen sind.

und mit der logik, mit der man den 93-jährigen - damals 17-jährigen - bruno dey hier & heute angeht macht man den fehler, das heutige rechts- bzw. unrechts-empfinden und die mentalität auf die zeit vor 75 bis 80 jahren zu übertragen. und ich werde den verdacht nicht los, dass da auch genügend menschen in der "deutschen justiz" sitzen, die mit dieser art und weise auch in ihrer eigenen familie  - also persönlich - vielleicht auch für sich selbst - einiges klar- und "richtig"stellen wollen (und vielleicht müssen).

wenn also wirklich allen beteiligten längst klar ist, "dass es im Verfahren gegen Dey nicht um Strafe geht - auch nicht um Gerechtigkeit, weil es angesichts dieser Verbrechen keine Gerechtigkeit geben kann", und dass "vielmehr ein Gericht das unermessliche Unrecht feststellen soll", dass es "aufzeigen soll , dass auch die Helfer im Holocaust willige vollstrecker waren" [aber das gilt ja für das gesamte damalige "deutsche volk!] hätte man mit einem mehrteiligen halbrealen "fernsehgericht" ähnliches ganz unjustiziabel darstellen können.

der historiker martin sobrow fordert für mich völlig zu "recht", dass nüchternheit die emphase ersetzen muss, und die gesellschaft, also auch die justiz, der versuchung widerstehen muss, den "wertehimmel unserer zeit" auf die vergangenheit zu projizieren. und er stellt auch die ewige im wahrsten sinne des wortes "un-zu-frieden-heit" fest, wenn er schreibt, dass "aufarbeitung zwar permanent eine versöhnung verspricht, die sie jedoch nicht einlösen kann, weil sie das schuldbekenntnis nicht mit vergessen wird vergelten können:
"In der Tiefenpsychologie gilt das erinnernde Durcharbeiten als Schritt zur endgültigen Heilung mit dem Ziel des psychischen Überwindens und Loslassens. Im gesellschaftlichen Aufarbeitungsdiskurs hingegen ist nicht das Loslassen das Ziel, sondern die fortwährende Auseinandersetzung. Die Idee der Aufarbeitung fußt auf einer prinzipiellen Unabschließbarkeit, die ihrer gleichermaßen fundamentalen Vergebungsbereitschaft zuwiderläuft. Anders gesagt: Aufarbeitung verspricht permanent eine Versöhnung, die sie nicht einlösen kann, weil sie das Schuldbekenntnis nicht mit Vergessen vergelten kann."
diese "moralischen" fakten hat man in diesen prozessen einfach und schlicht "nicht drauf". diese die rechtsprechung mit beeinflussenden nuancen sind vielleicht im moment vergessen oder werden (bewusst?) nicht bis zu ende gedacht.

wie das leben - so ändert sich der mensch im laufe der entwicklung - in seinen ihn prägenden prämissen, motiven, anschauungen. und fast 100 jahre distanz sind natürlich eine zeitspanne, wo solche veränderungen und entwicklungen stattgefunden haben. unsere eltern- und großelterngenerationen mussten wahrscheinlich schon zur eigenen psychohygiene in der ersten schockphase schweigen und vertuschen, als damals angemessenem reflex auf das unfassbare - an dem sich fast alle - wahrscheinlich um die 90 prozent des deutschen "tätervolkes" zwischen 1933 bis 1945 - mitbeteiligt haben - und denen man genau wie herrn dey in irgendeiner weise bestimmt mehr oder weniger "beihilfe" am massenmord für fast 10 millionen europäer aus unterschiedlichsten gründen heraus inzwischen nachweisen könnte.

wenn man mit der gleichen konsequenz, die man jetzt seit ein paar jahren erst anwendet, um alte senioren in den gerichtssaal zu zerren, alle helfer und auch unbewussten helfershelfer der "raf" und des "nsu" anklagen würde und ihnen nachstellen würde, wenn man die "geheimen" akten dazu heranziehen könnte, würde man in den gerichten sicherlich wegen arbeitsüberlastung meutern.

okay - man darf nicht äpfel mit birnen vergleichen, obwohl beide sorten "obst" sind - aber irgendwie haben diese späten mitläufer- und wachpersonal-anklagen fast etwas von einer gewissen "sieger-mentalität" und propagandistischer überheblichkeit, die diesen alten menschen noch gerade mal zu lebzeiten endlich beibringen will, was recht & ordnung ist im "christlichen abendland" - und heutzutage in diesem unseren lande.

geradezu zynisch und unmenschlich empfinde ich die feststellung oben: "Den Wachmännern habe es freigestanden, ein entsprechendes Gesuch einzureichen, sagt auch Historiker Hördler. Insbesondere freiwillige Meldungen an die Front wurden begrüßt und beworben. Auch weil ein Einsatz an der "äußeren Front" besser zu dem Ehren- und Elitekodex der SS und dem heroischen Soldatenbild innerhalb der Truppe passte als der Dienst in einem KZ."  - merke also: wer nicht an die front geht in einem mörderischen krieg entgegen aller damals bestehenden bilateralen verträge und des völkerrechts und lieber wachmann in einem lager ist, ist moralisch eindeutig im unrecht - und das meint implizit auch die "unvoreingenommene" richterin in dem prozess, bei dem es ja angeblich "nicht um Strafe geht - auch nicht um Gerechtigkeit, weil es angesichts dieser Verbrechen keine Gerechtigkeit geben kann", und dass "vielmehr ein Gericht das unermessliche Unrecht feststellen soll" - unrecht ist es also, sich nicht beizeiten an die front zu melden, weil dort ja offensichtlich weniger getötet und gemordet wird wie als wachmann auf einem aufsichtsturm eines kz...

und meine kritik daran hat für mich - aber anscheinend ja auch für die teilnehmer am jetzigen dey-prozess - auch nichts mit schuld oder unschuld zu tun - sondern einfach mit humanität, eben auch für die paar menschen noch, die vor 80 jahren, selber damals vielleicht 16 - 17 jahre alt, einfach verblendet mitmachen mussten oder mitgemacht haben, weil sie nichts anderes kannten als hj und bdm und arbeitsdienst - eigentlich wie zu der zeit ja das gesamte "deutsche volk" - von einigen wenigen widerstandskämpfern einmal abgesehen.

herr dey und einige andere infragekommenden senioren-angeklagte, die nur "mitläufer" oder "wachsoldaten" waren, sind für mich nicht unschuldig, aber ihre "schuld" ist nicht viel größer als die schuld, die auf dem gesamten nachkriegs-deutschland lastet(e).

für eine juristische aburteilung dieses geschehens ist es für mich wenigstens viel "zu spät" - aber eine gründliche aufarbeitung mit hilfe der archive - mit der nennung von klarnamen, wie man es ja bei einigen politikern auch heutzutage für das internet einfordert - und eine gute und prägend-bleibende aufarbeitung dieser grausamen epoche in den familien selbst, in den schulen und universitäten und in den medien ist weiterhin - auch für eine gesunde integration und bearbeitung im gesellschaftsbewusstseins - vonnöten - auch über die gängigen paar "gedenktage", die aber auch unbedingt begangen werden müssen, hinaus: dafür ist es nie "zu spät" - und auch in 100 jahren noch nicht ...

und - von wegen "gerechtigkeit" - zum schluss noch in diesem plädoyer für die vernunft: der polnisch-"volksdeutsche" chefarzt dr. victor ratka der "euthanasie"-vernichtungs-klinik "tiegenhof" bei gnesen, in der meine tante erna kronshage ermordet wurde, wurde bei insgesamt wahrscheinlich über 5.000 zu verantwortenden angeordneten tötungen in zwei ermittlungsverfahren jedesmal als "vernehmungsunfähig" wegen irgendwelcher gebrechen von seinen kollegen be"gut"achtet ("eine krähe ..."?). er starb somit unbehelligt 1966, über 20 jahre nach kriegsende, im sonnigen breisgau, wohin er sich "zurückgezogen" hatte - und erhielt von der bundesrepublik bis zu seinem lebensende die volle pension als ehemaliger anstalts-chefarzt.

aber - man darf ja nicht äpfel mit birnen vergleichen ...

lies auch genau zu diesem prozess hier - und hier

zum guten schluss eines verwirrten jahrzehnts:

 
die ewigen verstrickungen - ohne jeden ausweg



Umarmung eines SS-Mannes im KZ-Prozess

Die leider falsche Geschichte von der großen Vergebung

Mit großer Geste hat ein ehemaliger Insasse des Konzentrationslager Stutthof einem ehemaligen Wachmann im Prozess verziehen. Die Story ging um die Welt. Doch sie stimmt nicht. 

Von Moritz Gerlach | SPIEGELplus

Am 12. November gab es im gut besetzten Saal 300 des Hamburger Landgerichts eine Szene, die dann um die Welt ging. Es war der siebte Tag des Strafprozesses gegen den ehemaligen KZ-Wachmann Bruno D., inzwischen 93 Jahre alt. Ihm wird vorgeworfen, sich 1944 und 1945 während seiner Dienstzeit im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht zu haben. Es geht um 5230 Fälle.

An diesem Tag trat Moshe Peter Loth in den Zeugenstand. Der 76-Jährige aus Port Charlotte in Florida hatte sich als Stutthof-Überlebender der Klage angeschlossen und sollte als Zeuge aussagen. Am Ende seiner Ausführungen wandte sich Loth, wie mehrere Anwesende berichten, an die Zuschauer, die den Prozess im Saal verfolgten: "Watch out everyone, I will forgive him now" – alle aufpassen, ich werde ihm jetzt vergeben. Er fragte die Vorsitzende Richterin, ob er vortreten dürfe, und beugte sich zum Angeklagten im Rollstuhl hinab.

Und dann dies: Loth, das Opfer, umarmte D., den mutmaßlichen Täter. Beide, so erklärte Loth später gegenüber Journalisten, hätten dabei geweint.

Seine Botschaft "Heilung durch Vergebung" machte weltweit Schlagzeilen. Die britische "Daily Mail" berichtete ebenso wie die "Jerusalem Post" und "Times of Israel" über die "Geste der Versöhnung" ("taz"), im "heute-journal" war von einer "bewegenden Szene" die Rede. Auch die lokalen Zeitungen schrieben über "herzzerreißende Szenen" ("Hamburger Morgenpost") und die "berührende Überraschung" ("Hamburger Abendblatt").

Doch das alles ist zu schön, um wahr zu sein. Loths Lebensgeschichte ist nicht so verlaufen, wie er sie erzählt. Nach SPIEGEL-Recherchen war er weder als Säugling in Stutthof, noch war seine Familie jüdischer Herkunft. Anders als er behauptet, ist womöglich auch keiner seiner Vorfahren in einem Konzentrationslager gestorben. Loth unterliegt, so muss man vermuten, offenbar einem Irrtum.

Die Vorsitzende Richterin hatte den Zeugen vor der dramatischen Szene gebeten, von seiner Geschichte zu erzählen.

Als seine Mutter mit ihm schwanger gewesen sei, sagte Loth, sei sie in Stutthof inhaftiert worden. Dann sei sie in eine psychiatrische Klinik verlegt worden, dort habe sie ihn geboren. Anschließend sei sie wieder nach Stutthof gekommen, gemeinsam mit ihm als wenige Monate altem Säugling. 1945 seien sie beide in einen Deportationszug gesteckt worden. Seine Mutter habe ihn in diesem Chaos einer Polin übergeben, später sei er in Waisenhäusern untergebracht und von sowjetischen Soldaten missbraucht worden.

Loth hat schon viele Vorträge über sein Leben gehalten. Bislang bestand das Publikum aus Schülern, Studenten und evangelikalen Christen in den USA und in Europa. Er hat auch ein Buch herausgegeben. "Peace by piece" heißt es und schildert eine "Geschichte von Überleben und Vergebung". Loth rechnet sich zur "Generation jüngster Holocaust-Überlebender". Vorträge stellte er unter den Titel "Reise zur Wahrheit".

Auf dieser Reise befindet er sich offenbar seit 1999. Nach dem Tod seiner Mutter Helene will er erfahren haben, dass sie in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen sei. Seither geht er offenbar davon aus, dass sie Jüdin war. Genau wie eine Tante und seine Großmutter Anna. Für Letztere legte er 2001 ein Gedenkblatt in Yad Vashem an. Darin schrieb er, sie sei in der Gaskammer ermordet worden.

Andere Verwandte, so erzählt es Loth, seien Nazis gewesen. Sein Großvater Otto habe seine jüdische Frau und die beiden Töchter an die Nazis verraten, woraufhin sie in das KZ Stutthof gesteckt worden seien; seinen Sohn Gustav habe er an die Front geschickt. Das alles habe der Großvater, eine lokale Nazi-Größe, getan, um erneut heiraten zu können. Allerdings weichen Loths Erzählungen zuweilen voneinander ab. So ist Gustav manchmal auch SS-Offizier gewesen und hat der Lagerwache in Stutthof angehört.


Der Eingang zum Lager bei Nacht. Bis zu 85 000 Menschen sind in dem NS-Konzentrationslager umgekommen.
Foto: Kerstin Zimmermann 





In seinen Memoiren berichtet Loth, dass er 2002 nach Europa gereist sei, um mehr über seine Familie zu erfahren. Er sei auch nach Stutthof gefahren, habe aber das Archiv der Gedenkstätte schließlich doch nicht aufgesucht. Loth schildert in den Memoiren, wie seine Frau ihn gedrängt habe, sich die Akten anzuschauen, um Klarheit zu erhalten. Doch dann habe er Gottes Stimme vernommen. Sie habe ihn davon abgehalten, das Schicksal seiner Mutter zu erforschen, sondern ihm gesagt, er solle den Tätern ihre Grausamkeit verzeihen. Nur so könne er sich von seiner eigenen Schuld befreien. Also habe er in der Gedenkstätte niedergekniet und den Kommandanten des Lagers vergeben.

Das ist zweifellos eine bewegende Lebensgeschichte. Allerdings hält sie in wesentlichen Teilen einer Überprüfung nicht stand. SPIEGEL-Recherchen in diversen Archiven ergeben ein anderes Bild von Peter Oswald Loth – so sein ursprünglicher Name – und seiner Familie.

Großvater Otto Loth lebte demnach als Stellmachermeister in der kleinen Gemeinde Fürstenwerder nahe Danzig. Mit seiner Frau Anna hatte er drei Kinder. Helene, die Älteste, ist Peter Loths Mutter. Sie und ihr jüngerer Bruder Gustav sind in Dortmund geboren, wo die Eltern 1920 auch geheiratet haben, wie Dokumente des Standesamts Dortmund belegen.

Aus diesen Papieren sowie aus Kirchenbucheinträgen und Unterlagen der Standesämter lässt sich ersehen, dass alle Familienmitglieder evangelisch waren. Nichts deutet auf eine jüdische Herkunft hin. Nach einigen Jahren kehrten die Loths ins Danziger Umland zurück, wo ihre Familien seit mehreren Generationen lebten. Dort wurde die zweite Tochter geboren. Der Großvater und sein Sohn Gustav führten den Familienbetrieb, es gab zwei Angestellte und seit 1939 einen Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit im Haushalt.

Von 1940 an arbeitete Gustav in einem Danziger Stellmacherbetrieb, 1941 meldete er sich zur Waffen-SS. Gustav gehörte zunächst zum SS-Ersatz-Bataillon Nord, dann zum SS-Gebirgsjäger-Regiment 7 an der finnischen Front und erreichte den Dienstgrad Rottenführer, wie Dokumente zeigen. Das ist nicht in Übereinstimmung zu bringen mit Peter Loths Erzählungen vor Gericht: Mit einer jüdischen Mutter hätte er kaum zur Waffen-SS gehören können.

Am 30. August 1943 starb Großmutter Anna, allerdings wohl nicht in Stutthof oder einem anderen KZ, sondern in Fürstenwerder, wie ein Nachtrag auf ihrer Heiratsurkunde zeigt. Das widerspricht Loths Angabe in Yad Vashem, seine Großmutter sei in einer Gaskammer ermordet worden.

Im selben Jahr passierte etwas, das den Kern der Legende von Peter Oswald Loth ausmacht. Seine Mutter kam in Haft – zunächst in Danzig und dann, am 1. März 1943, tatsächlich als Häftling 20038 im Konzentrationslager Stutthof.

Als Haftgrund wurde im Einlieferungsbuch "Erziehungshaft" notiert, als Nationalität "R.D.", Reichsdeutsche. Erziehungshaft war eine durch die Gestapo angeordnete Disziplinarmaßnahme, meist verhängt für kleinere Verfehlungen von "arbeitsunlustigen Elementen", wie die Bürokratie des Nationalsozialismus es ausdrückte. Die Strafe richtete sich in erster Linie gegen Zwangsarbeiter, aber zuweilen auch gegen Reichsdeutsche und hatte das Ziel, durch Abschreckung die Arbeitsmoral aufrechtzuerhalten.

Dafür gab es eigene Einrichtungen, Arbeitserziehungslager genannt. Häftlinge aus dem Raum Danzig kamen jedoch ins KZ Stutthof. Für gewöhnlich wurden Erziehungshäftlinge dort etwa zwei Monate lang gefangen gehalten. Helene Loth war zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung bereits im dritten Monat schwanger, wie auch der ärztliche Untersuchungsbericht aus dem Krankenbau des Lagers festhielt. Bereits nach vier Wochen, am 1. April 1943, wurde sie entlassen.

Loth ließ ausrichten, 
er habe »sein gesamtes Leben lang 
seine wahre Identität gesucht«.

Peter Oswald Loth kam am 2. September 1943, keine 20 Kilometer von Stutthof entfernt, zur Welt, in Tiegenhof, der Kreisstadt des Großen Werders. Vor Gericht erwähnte er eine "psychiatrische Klinik" in dieser Stadt und sagte, dass er dort als Säugling Experimenten ausgesetzt worden sei. In der historischen Forschung ist über Experimente im Krankenhaus von Tiegenhof bei Danzig nichts bekannt.

Wie kommt Loth darauf, dort als Säugling für Experimente missbraucht worden zu sein? Vielleicht hat er von einer Klinik gleichen Namens gehört: Tiegenhof nahe Posen, heute Poznań, etwa 250 Kilometer südlich. Hier übernahmen die Deutschen nach dem Überfall auf Polen eine Nervenheilanstalt, die Teil des "Euthanasie"-Programms T4 wurde. Tausende Menschen wurden dort ermordet.

Und wie wahrscheinlich ist es, dass seine Mutter nach dem angeblichen Anstaltsaufenthalt tatsächlich erneut in Stutthof inhaftiert wurde, diesmal gemeinsam mit ihrem gerade geborenen Sohn? Während die Haft in Stutthof vor der Geburt ordentlich dokumentiert wurde, finden sich zu einer möglichen zweiten Haft keinerlei Dokumente. Diese zweite Haft in Stutthof hat es vermutlich nie gegeben; wenn doch, müsste sie aus ganz anderen Gründen angeordnet worden sein, als von Loth behauptet: Seine Mutter kann dort nicht als Jüdin, die sie gar nicht war, festgehalten worden sein.

Während Loth 1945 in die Obhut einer Polin kam, schaffte es seine Mutter in die amerikanische Besatzungszone. Erst 1959 gelang es Loth, seiner Mutter nach Westdeutschland zu folgen und mit ihr in die USA auszuwandern. Weil Loths Mutter einen schwarzen GI geheiratet hatte, habe die Familie, so erzählt es Loth in seinen Memoiren, unter Rassismus gelitten. Der Ku-Klux-Klan habe die Familie bedroht, auch die schwarze Community sei ihm mit Ablehnung begegnet. Einem ehemaligen Klanmitglied habe er ebenfalls öffentlich verziehen.

Später verlor Loth offenbar den Kontakt zu seiner Familie. Erst 1999 hätte sich seine Halbschwester bei ihm gemeldet und ihm vom Tod der Mutter berichtet. Das Rote Kreuz habe ihm auf Anfrage im Sommer 2000 bestätigt, dass seine Mutter in Stutthof inhaftiert gewesen sei. Das bezog sich allerdings auf den vierwöchigen Aufenthalt vor seiner Geburt. Vielleicht unterlag Loth dem Irrtum, dass seine Mutter Jüdin gewesen sein müsse, wenn sie doch in Stutthof inhaftiert worden war?

Loth war zu diesem Zeitpunkt evangelikaler Christ, glaubte aber von nun an, jüdische Wurzeln zu haben. 2015 bekannte er sich zum Judentum und nannte sich fortan Moshe Peter Loth. Seine Anwälte gaben schon vor Gericht zu bedenken, dass die Erinnerungen ihres Mandanten im Alter von fünf Jahren einsetzten und Schilderungen früherer Ereignisse vor allem auf Hörensagen basierten.

Als der SPIEGEL ihn mit den Zweifeln an seinen Erzählungen konfrontierte, ließ Loth über seine Anwälte ausrichten, er habe "sein gesamtes Leben lang seine wahre Identität gesucht". In diesem Zusammenhang, so sein Anwalt, "standen ihm oft nur mündliche Berichte zur Verfügung". Deshalb könne "nicht alles durch Dokumente belegt werden. Viele Fragen sind leider bis heute nicht beantwortet. Die Überprüfung der ihm vorliegenden Informationen ist schwer".

Weiter heißt es: "Bisher gab es für ihn keinen Anlass, an diesen Berichten zu zweifeln." Dies gelte auch für Erkenntnisse in Bezug auf seine jüdischen Wurzeln – eine "Annahme, der auch nicht die protestantische Konfession der Mutter und des Onkels" entgegenstehe.

Bezüglich Loths Behauptung, seine Großmutter sei in der Gaskammer ermordet worden und er ein Opfer medizinischer Experimente, schreibt sein Anwalt: "Als Herr Loth vor ca. 15 Jahren die Angaben gegenüber der Gedenkstätte Yad Vashem gemacht hat, ging er davon aus, dass seine Großmutter in der Gaskammer ermordet worden ist. Mittlerweile ist ihm bekannt, dass seine Großmutter am 10.08.1943 in Fürstenwerder/Danzig erschossen worden ist. Die Angaben gegenüber der Gedenkstätte Yad Vashem wird Herr Loth zeitnah korrigieren ... In Bezug auf die Behauptung, dass man mit ihm als Säugling in Tiegenhof möglicherweise Experimente gemacht habe, verweist Herr Loth auf Narben am Hinterkopf, deren Herkunft er sich nicht erklären kann."


siehe dazu auch: hier
und: hier


das ist dann wohl gemeint, wenn die bibel so klug sagt: 

gott werde die missetaten der eltern und großeltern heimsuchen bis ins dritte und vierte generationsglied...

mir kommt diese verworrene geschichte des mr. loth nicht nur hochstaplerisch oder gar pathologisch vor, sondern das ist für mich die tragische verstrickung eines amerikaners, der die wurzeln seiner identität sucht, gerade auch weil die kriegswirren ihn in den ersten lebensmonaten da hin und her geworfen haben.

und aus einer vielleicht etwas zu oberflächlichen rekonstruktion dieser zeit und zu viel hehren erwartungshaltungen und idealtypischem wunschdenken, stoppelte sich dann dieses tragisch-irrtümliche patchwork-gebilde von falschen identitäten aus - wie gesagt: wahrscheinlich gar nicht aus böser absicht, sondern schlichtweg naiv.

da gibt es übrigens dem hörensagen nach ja einige amerikaner, die mit vagen vermutungen oft gegen honorar sich von einem manchmal unseriösen genealogen einen stammbaum zusammenschustern lassen - um dann ein altes familienwappen an die wand zu peppen oder einer geschichte aufzusitzen, mit der sie bei genauer recherche eigentlich nichts oder nur wenig zu tun haben.

viele amerikaner suchen geradezu eine irgendwie idyllische oder auch spektakulär-theatralische abstammung ihrer familiären ahnenreihe in "good old europe" - und sie lassen sich das etwas kosten, haben aber oft nicht die zeit und das "fachliche" interesse und die notwendigen forschungskenntnisse, um folgerichtig und authentisch solche identitätsverläufe tatsächlich auch zu verifizieren und ihnen nachzugehen.

und hier kommt ja ein wahrer wust tragischer verstrickungen zusammen: 
  • die gutgemeinte "vergebung" des "täters"aus innerer überzeugung und aus innerem glaubensansporn, die aber nur eine "taube nuss" sein kann und bleiben muss, weil in der realität alles ganz anders war.
  • der peinliche und makabere verwechselungsirrtum zu der ortsangabe "tiegenhof": ► einmal die kreisstadt im freistaat danzig, die von 1871 bis 1918 zum damaligen 'deutschen reich' gehörte und von 1939 bis 1945 von der deutschen wehrmacht okkupiert wurde, aber seit 1945 wieder polnisch ist und nun "nowy dwor gdanski" (= "neuer hof bei danzig") heißt;                                und der gleichnamige deutsche besatzer-name von 1939-1945 der psychiatrischen klinik "dziekanka" bei gnesen in posen, die von 1939-1945 zu einer "euthanasie"-tötungsanstalt umfunktioniert wurde.
  • und dann noch die ladung eines deutschen gerichts zur zeugenaussage in einem in meinen augen sowieso spektakulären schauprozess, fast 80 jahre zu spät, gegen einen damals 17-, heute weit über 90-jährigen lager-wachmann im kz stutthof bei danzig, dem man aber eine direkte beteiligung an tötungshandlungen gar nicht wird nachweisen können, dem aber die bloße zughörigkeit zum wachpersonal damals heute im hohen greisen alter noch zum verhängnis geworden ist - und wo man dann nach dem prozess erleichtert sagen kann - egal welches "urteil" gefällt wird: gut, das wir mal drüber verhandelt haben...: außer spesen nichts gewesen, denn eine "gerechte" meinetwegen auch justiziable geschichtsaufarbeitung sieht nach meinem dafürhalten anders aus - und sollte vor allen dingen solche makaberen falschen "zeit- und augenzeugen" von vornherein ausschließen, durch gute staatsanwalts-recherche im vorhinein - sonst entartet das ganze zu einer farce.
und dem "angeklagten" bruno d. gegenüber dann diese "falsche" vergebung durch einen "falschen" zeugen ... - das ist unfassbar - und wenn diese "story" im tv liefe, würde ich wohl rasch umschalten, um mir dann eine solche schnulze als zuschauer nicht anzutun...

manchmal schreibt das leben eben echte tragikomische stücke, bei denen sich aber jeder applaus oder jeder missmut eigentlich von selbst verbieten: das ist weder komödie noch tragödie - und auch kein echtes trauerspiel - es ist irgendwie für mich eine einzige peinliche geschmacks-verirrung auf der ganzen linie - mit einem sehr schalen nachgeschmack...

Ich will, dass die Welt erfährt, was passiert ist.

KZ-Überlebender gegen SS-Wachmann
"Ich komme nicht aus Rache. Allerdings: Ich beschuldige, ich verzeihe nicht"

Wie beteiligten sich Wachmänner an den Taten im KZ Stutthof? Vor Gericht hat der Überlebende Abraham Koryski sadistische Gräuel geschildert: "Ich will, dass die Welt erfährt, was passiert ist."

Von Julia Jüttner | SPIEGELonline



Abraham Koryski: Der 92-Jährige ist aus Israel angereist, um als Zeuge auszusagen - Foto: Christian Charisius / AFP


Als Abraham Koryski im August 1944 ins Konzentrationslager Stutthof nahe Danzig kam, war es Nacht. Es roch nach Leichen. Acht Tage lang war er mit etwa 800 Juden aus Estland unterwegs gewesen, ohne Essen, ohne Trinken, so erinnert er sich. Er wurde mit anderen in eine Baracke getrieben, es war so eng, dass er im Stehen schlafen musste. Am nächsten Morgen wurden ihm die Haare abrasiert. Abraham Koryski war nun ein KZ-Gefangener, er war damals 16 Jahre alt.

Am vergangenen Wochenende wurde Abraham Koryski 92 Jahre alt, er ist aus Israel angereist und sitzt nun in Saal 300 des Landgerichts Hamburg und erzählt von seinen ersten Stunden im KZ Stutthof. Ein kleiner Mann mit einem freundlichen Gesicht, geboren in Litauen, er trägt ein Hörgerät und eine Brille. Neben ihm sitzt seine Tochter, ein paar Reihen dahinter sitzen zwei weitere Angehörige.

Links von ihm sitzt Bruno D., 93 Jahre alt. Er stand von August 1944 bis April 1945 als SS-Wachmann auf einem der Türme des KZ Stutthof. Die Nationalsozialisten hielten dort mehr als 100.000 Juden und politische Gegner gefangen, 65.000 von ihnen ermordeten sie. Bruno D. ist angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen. Die Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, dass er, auch wenn er keinen Gefangenen eigenhändig getötet hat, durch seine Arbeit als Wachmann Beihilfe zum Massenmord geleistet hat.

Sadistische SS-Offiziere

Abraham Koryski ist gekommen, um zu erzählen, was er erlebt hat. Er spricht mit lauter Stimme, ein Dolmetscher übersetzt aus dem Hebräischen. Das Gericht braucht ihn nicht nach der Rolle der Wachleute im KZ zu fragen: Abraham Koryski weiß, worum es in diesem Verfahren geht, er redet nicht lange herum.

Koryski schildert das Unaussprechliche in vielen Details: wie SS-Offiziere und Wachmänner Gefangene zu "bizarren, sadistischen Shows" zusammenriefen. Bei einer habe ein SS-Offizier - offensichtlich unter Einfluss von Alkohol - einen Stuhl zerbrochen und einen Vater samt Sohn aufgefordert, sich zu entscheiden: Entweder der Offizier erschieße einen von beiden oder einer prügele den anderen mit dem Stuhlbein zu Tode. Der Vater habe daraufhin entschieden, der Sohn möge den Vater erschlagen. "Er tat es", sagt Abraham Koryski. "Danach wurde der Sohn erschossen."

Abraham Koryski durchbricht die Stille in Saal 300: "Ich frage euch alle hier: Kann man glauben, dass Menschen so etwas tun?"

Die Wachmannschaft habe man an ihren Uniformen und der Kopfbedeckung von den SS-Offizieren unterscheiden können, sagt Abraham Koryski. Er beschreibt, wie er im Krematorium die nicht verbrannten Knochen einsammeln und auf einen Waggon laden musste; wie er nach dem Aufstehen die Menschen auflesen musste, die in der Nacht gestorben waren; wie sie nachts aus den Baracken getrieben wurden, nackt, bei Minustemperaturen, sie mussten sich duschen und nackt zurücklaufen. "Viele Menschen starben nach solchen Aktionen."

Und er beschreibt, wie die Gefangenen Stunde um Stunde beim "Lager-Appell" auf einem Acker ausharren mussten: Mütze auf, Mütze runter, Mütze auf, Mütze runter. "Das war reiner Sadismus", sagt Abraham Koryski. Beim Appell habe es keine Wachtürme gegeben. Aber für viele andere Gräueltaten gilt seinen Angaben nach: "Die Wachmannschaften waren überall, sie waren dabei." Sie seien eben nicht nur auf den Türmen gestanden. "Man hat nie Gesichter gesehen, man wollte keine Gesichter sehen. Wir hatten Angst."

"Wir aßen Schnee"


Vor seiner Deportation nach Stutthof hatte Abraham Koryski Jahre im Getto in der Altstadt von Vilnius, der Hauptstadt Litauens, verbringen müssen. Von dort hatten die Nationalsozialisten Tausende Juden zur Massenvernichtung nach Ponar gebracht. Über mehrere Lager war der Junge schließlich in Stutthof gelandet, wo er kurz vor Ende des Kriegs zum sogenannten Todesmarsch gezwungen wurde: kilometerlange Menschenschlangen, ohne Essen, ohne Trinken, ohne wärmende Kleidung, ohne Schuhe. Wer starb, wurde auf die Seite geschoben, die anderen mussten weiterlaufen. "Wir aßen Schnee", sagt Abraham Koryski. Mehrfach habe er sich hingesetzt, weil er erschossen werden wollte, weil er die Schmerzen nicht länger ertragen konnte. Dann stand er doch wieder auf. Die Rote Armee habe ihn schließlich befreit.

Es sei sein "ausdrücklicher Wunsch" gewesen, in diesem Verfahren auszusagen, sagt die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring. "Warum?" Wieder ist es still im Saal. Abraham Koryski hat Mühe, zu sprechen. "Ich hatte Angst vor dieser Frage", sagt er und weint. Lange bleibt es still im Saal, dann sagt er: "Für mich ist es nicht einfach. Ich komme nicht aus Rache. Allerdings: Ich beschuldige, ich verzeihe nicht." Er hält inne. "Ich will, dass die Welt erfährt, was passiert ist. Alle sollen alles wissen." Besonders die nächsten Generationen.

"Meine Rache ist meine Familie, meine Angehörigen, die hier im Saal sind", sagt Abraham Koryski. "Sie zeigen, dass ich es geschafft habe, das alles zu überleben."







Der Eingang zum Lager bei Nacht. Bis zu 85 000 Menschen sind in dem NS-Konzentrationslager umgekommen. Foto: Kerstin Zimmermann 


ähhh - ich bin da mit meinen gefühlen in einem echten dilemma: auf der einen seite habe ich etwas dagegen, dass 93-jährige alte männer 75 jahre nach dem krieg als wachmänner wegen "beihilfe zum mord in 5230 fällen" einen mehrtägigen mammutprozess über sich ergehen lassen müssen. der angeklagte bruno d. war ja damals auch erst gerade 17 jahre alt, ein heranwachsender vielleicht verblendeter junge, der damals abkommandiert wurde und mitgemacht hat, wie hunderttausende wehrmachtsangehörige unter anderen umständen eben auch - mitgemacht bei der vernichtung von menschen - mitgemacht bei einem mörderischen krieg, den andere angezettelt hatten.

ich weiß nicht, wann und wo und zu welchem zeitpunkt sich bruno d. hätte absetzen können als wachmann, hätte die befehle verweigern können, denen er unterstand, und wann und wie er sich hätte auflehnen sollen gegen diese seine angebliche "beihilfe zum mord"...

und irgendwie fällt mir auch der spruch ein: "den letzten beißen die hunde", denn solche prozesse und anklagen hätten ja gegen rangmäßig höher stehende lagerkommandanten und maßgebliche tatsächlich verantwortliche menschen spätestens vor 50/60 jahren stattfinden oder eingeleitet werden müssen - aber da lag ja die angeblich unbeeinflussbare staatstragende kraft der "justiz" (->legislative, exekutive, judikative) allenfalls im tiefen dornröschenschlaf - und jetzt hechelt man hinter den letzten überlebenden wachmännern her, weil sich ein paar junge staatsanwälte hervortun wollen, um das was ihre alten kollegen versäumt haben, auszubügeln und sich ihre sporen zu verdienen...

damit will ich natürlich die mörderischen verfehlungen von damals nicht beschönigen - aber wieviel rangmäßig höhere leute, die echt dreck amstecken hatten, sind damals einfach "verhandlungsunfähig" von gedungenen ärzten und gutachtern eingeschätzt worden - und so davongekommen.

andererseits ist es natürlich wichtig und unabdingbar, dass solche aussagen wie hier von abraham koryski offiziell protokolliert und historisch festgehalten werden - und dass damit geschichte geschrieben werden kann, denn die zeitzeugen sind eben auch inzwischen um die 90 jahre alt und können nicht mehr ewig ihr wissen so authentisch weitergeben, und so die öffentlichkeit und vor allen dingen die jugend von den tatsächlichkeiten dieser für sie unvergesslichen mörderischen einzelerlebnisse unterrichten. dafür ist natürlich "danke" zu sagen.