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kantig oder windschnittig

und nochmal: PETER HANDKE - vielleicht zuguterletzt (???)

Glaubt ihr ernsthaft, ihr wärt die besseren Menschen?
Die Schriftstellerin Anne Weber über die Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke und seine selbstgerechten Kritiker. Über verkleidete Erwachsene, eine Lektüre an der Schnellstraße und akute Anfälle der Rührung.

Von Anne Weber in der WELT


  • Anne Weber ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Zuletzt ist ihr Roman „Kirio“ bei S. Fischer erschienen, mit dem sie 2017 für den Leipziger Buchpreis nominiert war.

Es fängt an mit einer Hymne, und wegen des Wortes „anthem“ im englischsprachigen Live-Kommentar muss ich gleich an Leonard Cohen denken und an den Riss, der durch alles geht und durch welchen das Licht hineinfindet — in alles. In uns. Die eine oder andere Rede von Nobelpreisträgern hatte ich in der Vergangenheit live mitverfolgt, aber noch nie hatte ich mir die einige Tage später stattfindende Preisverleihung angesehen. War das nicht eine eher langweilige Angelegenheit mit endlosen Reden, zum Intermezzo sich eignenden Musikstücken und vielen ehrwürdig ergrauten Häuptern?

In der Tat. Ich bleibe trotzdem gebannt davor sitzen. Die Musik und das ganze Ambiente sind so gebieterisch, dass ich beim Eintritt der Royal Family fast von meinem Schreibtisch aufgestanden wäre. Erst kommen zwei Prinzessinnen zum Vorschein, türkisblau und pink, die mit ihren breiten Schärpen um den Leib wie verschiedene Jahrgänge von Miss Sweden wirken, in Begleitung eines Prinzen. Dann eine stark geliftete Königin mit ihrem königlichen Mann mitsamt Kronprinzessin und einem zweiten Prinzen.

Ein kleines Mozart-Einsprengsel — und jetzt ist es so weit, die Preisträger schlängeln sich aus den Kulissen, ein kleiner Zug von Leuten, die aussehen, als hätte man sie gerade aus ihrem Labor in Boston, aus ihrer Bürohöhle in Harvard oder aus dem finsteren (nein: lichten!) Wald gezerrt und verkleidet und zurechtgebürstet, um sie dem Königspaar vorzuführen.

Die einzigen, die nicht kostümiert wirken, sind diejenigen, die in einer traditionellen Landestracht erscheinen. Alle aber sind mit einem richtigen Gesicht ausgestattet, jedes einzelne von ihnen möchte man länger betrachten — einer, ich glaube, ein Wirtschaftswissenschaftler, ist so intelligent, dass er wie ein rechter Simpel ausschaut —, aber die Kamera wird ihrer sehr schnell überdrüssig und wischt weiter zum Publikum, an den Frauen wischt sie gerne von oben nach unten entlang, um eine Weile auf dem glitzernden Dekolleté und den sorgfältig manikürten Händen, die das Programmheft halten, verharren zu können.

Für mich ist das feierliche Hereintreten dieser etwas ungläubig blickenden Gestalten der Moment, wo ich derart stark zwischen Lachen und Rührung schwanke, dass der Riss in mir sich gefährlich vergrößert und ich schon ganz geblendet bin von dem vielen Licht, das da einfallen will in mich; außerdem ertaube ich offenbar, jedenfalls bekomme ich von den vielen Reden, die noch folgen, nicht mehr viel mit. Ist es nicht absurd, sich bei einer solchen offiziellen Begebenheit von Emotionen übermannen zu lassen, und das auch noch bei einem derartigen Männerüberschuss auf der Bühne? Gut, ich merke, dass Olga Tokarczuk ebenfalls nass glänzende Augen hat, aber sie hat wenigstens gute Gründe dafür.

Bei mir ist es diese Spannung zwischen dem fou rire, der ausbrechen will — denn es ist schon urkomisch, wenn erwachsene Leute mit der größten Ernsthaftigkeit König und Königin, Prinz und Prinzessin spielen und mit „Ihre Majestät“ angeredet werden wollen und sich zu diesem Zweck eigens Gewänder aus den wertvollsten Stoffen schneidern lassen, und alle spielen mit —, zwischen dem Lachen also, das ausbrechen will, und den Tränen, die ebenfalls einen Ausweg suchen.

Ich sehe eine erwachsene, fein lächelnde Olga Tokarczuk vorangehen, und hinter ihr sehe ich einen Kärntner Buben über eine Streuobstwiese laufen, auf seine Mutter zu, mit den „an der Kochwäsche verbrühten, dann an der Wäscheleine rotgefrorenen Händen“, ich sehe den Vater des Buben, den deutschen Sparkassenangestellten Herrn Schönemann, und den versoffenen Stiefvater, ich sehe den „Leuchtkreis der Lampe auf dem Tisch“ und ich sehe mich, wie ich — wann war das bloß? — an einer Schnellstraße stehe, ein offenes Buch in der Hand, und darin lese von einem „Wunsch, der erwacht angesichts jenes einen Tautropfens in der Sonne, der, im Unterschied zu der Myriade der glasklaren durchsichtigen weißblitzenden, aus dem Tautropfenfeld herausstach als eine Bronzekugel, nicht blinkend und blitzend, sondern leuchtend, schimmernd, strahlend; kein bloßes Glitzerpünktchen, sondern eine Sphäre, eine Wölbung, einen auffordernd zum Entdecken; keines unbekannten Planeten, sondern des altbekannten, der Erde hier, einen herausfordernd zu einem immerwährenden täglichen Entdecken, das zu nichts führte, zu keiner Auswertbarkeit, es sei denn zu einem Offenhalten — Entdecken als ein Offenhalten?“.

Ich stehe an der Schnellstraße und lese und lese und die von links und rechts kommenden Autos fauchen kurz auf, wenn sie an mir vorbeirasen, und legen ihren Fauchrhythmus unter den Rhythmus der Buchsätze, und jetzt erscheint da wieder der Junge vor mir auf dem Bildschirm, er bewegt sich vorwärts, aber das Schreiten will ihm nicht gelingen, eher schlurft er ein bisschen und schaut grimmig und stumm über den dicken Tränenbeuteln hervor, er sieht müde aus, das Haar ist schütter geworden, und ich denke, wisst ihr was, ihr da draußen, die ihr unterscheiden wollt zwischen Mensch und Werk oder die ihr das Werk beiseite nehmt und auch ohne seinen Autor zum Kotzen findet, ihr, die ihr Leser sein wollt und mit nichts als Herablassung oder gar Hass auf diesen Dichtermenschen blickt, der so viele zum Lesen und zu neuem Atmen gebracht hat, der viel umhergeirrt ist und sich mit Lust ver- und geirrt hat, der, bei allem Düsteren, das in der Welt und in ihm selbst zu Hause ist, immer eine Bewegung zum Helleren hin suchte; ihr also, die ihr euch empört und Bescheid wisst und von früh bis spät auf der richtigen Seite seid und anklagt, nur euch selber nie — glaubt ihr ernsthaft, ihr wärt die besseren Menschen? Ich fürchte, ja.


Inzwischen ist die Zeremonie fortgeschritten, ein würdiger, schöner Greis ist im Rollstuhl an den König herangeschoben worden und hat den Nobelpreis für Chemie in Empfang genommen, einer der weniger alten Nobelpreisträger konnte ein Gähnen nicht unterdrücken, Olga Tokarczuk hat — auch von mir — großen Applaus bekommen, und jetzt tritt also Peter Handke nach vorne, als Einziger der männlichen Nobelpreisträger hat er nicht an seiner weißen Weste gezupft, nachdem er aufgestanden ist, weshalb er nun eine gesteifte weiße Welle auf dem Bauch trägt, und genau in dem Augenblick, als er seine Urkunde oder Medaille oder was auch immer in Empfang nimmt, springt mir Gaston auf den Schoß, die Katze der Nachbarin aus dem 4. Stock, die für ein paar Tage hier wohnt und mich behütet vor einem neuen peinlichen Rührungsanfall.

„Es wird wie bei den Pinguinen in der Antarktis sein, die sich dann ins Meer stürzen“, hat Handke neulich zu Ulrich Greiner in der „Zeit“ gesagt. Ich aber sage oder vielmehr lese: „Er stellt sich vor, wie er fiele und wie der Aufprall durch die Bleistiftspiralen, die sich mit der Zeit und den Jahren dort unten abgelagert hatten, abgemildert würde.“





nun hat er ihn endlich - den nobelpreis: und wie immer bei allen "ausgezeichneten" menschen, gibt es gratulanten und neider, und wohlwollende zeitgenossen und hasser.

okay - handke macht es seiner umwelt nicht allzu leicht - und er ist kein sonnyboy, der sich anbiedert und einschmeichelt.


handke - nach einer photo|graphic-bearbeitung von mir




und so schreibt er ja auch seine bücher nicht auf "publikumsgeschmack" - sondern jedes seiner werke ist ein "einzel-kunstwerk", dass die leser jeweils mögen oder ablehnen - und dass die kritik goutiert oder eben durchfallen lässt.

handke stellt sich da dem souverän publikum - wohl eher dem fachpublikum - und er fordert für seinen schreibstil höchste aufmerksamkeit, auch wenn es um ganz alltägliche einfache kleine randerlebnisse geht.

da geht er überraschend und kompliziert den farbnuancen eines winzigen tautropfens auf den grund (s.o.) und macht das allerdings stilistisch gewohnt brillant - eben tatsächlich "nobel". aber - ich sagte das schon andernorts - einen windschnittigen literatur-nobelpreisträger kann es eben gar nicht geben, denn preiswürdige schriftsteller sind wahrscheinlich immer "typen" mit ecken & kanten & unausrechenbaren überraschungen.

und auch all die aufgeregtheiten zu seinen serbien-einlassungen vor einigen jahren gehören für ihn inmitten hinein in sein literarisches gesamtwerk - und darin ist er so selbstverliebt, dass er natürlich nicht eine zeile davon zurücknehmen oder schwärzen wollte.

aber so etwas wäre ja auch die verfälschung seines soseins und nicht mehr das manchmal auch bizarre und wütende und dröhnende original, mit dem er sich seinen namen gemacht hat und wie wir ihn alle seit jahrzehnten kennen - und nicht erst neuerdings, nachdem ihm das findungskomitee den preis zuerkannt hat.

und bisher strolchte handke ja etwas abgeschieden vom mainstream durch seine streuobstwiesen, abgeschieden von dieser lauten welt - so dass er jetzt einen reporter fragen musste: "was ist eigentlich ein shit-storm?" - und der nur ein altes seniorenhandy hat mit großen knöpfen und einfacher bedienung, weil ihn so etwas digitales wohl weniger interessiert - und erst recht nicht fasziniert. aber diese frage nach dem "shit-storm" war ja vielleicht auch nur ein slapstick... - denn er konnte ja sehr wohl der weltpresse eine anonyme zuschrift mit einem mit scheiße kalligraphierten stück toilettenpapier in ausreichendem englisch beschreiben, die ihm postalisch zugestellt worden war.

ich weiß, vielleicht tue ich der olga tokarczuk in meinem gewissen unrecht, dass ich sie auch jetzt wieder hinter peter handke nur noch als marginale hier in meinem "abschluss-kommunique" platziere - pardon. 
wenn ich in polen mitglied der "pis"-partei wäre, stünde sie hier bestimmt in der ersten reihe...

richtig nobel


Olga Tokarczuk - sinedi-Grafikbearbeitung eines Fotos von: imago/ Krzysztof Kaniewski


Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk


Die Wahrheit steckt in der Bewegung

In ihrer Heimat Polen wird der Autorin Olga Tokarczuk „Antipolonismus“ vorgeworfen. Ein Porträt der Literaturnobelpreisträgerin.

Von DOROTA DANIELEWICZ für die TAZ

  • DOROTA DANIELEWICZ - geboren in Poznań, lebt als Publizistin, Übersetzerin und Autorin in Berlin. 2020 erscheint ihr neuer Roman, „Droga Jana“ (Jans Weg), im Verlag Wydawnictwo Literackie in Polen, deutsche Ausgabe in Vorbereitung.


Die Nachricht, dass sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden wird, ereilte Olga Tokarczuk auf der Autobahn in Deutschland. Sie war gemeinsam mit ihrem Partner auf dem Weg von Potsdam nach Bielefeld, wo sie an jenem Abend eine Lesung halten sollte. Damit schloss sich gewissermaßen ein Kreis, denn auch ihre allererste Lesung als junge Autorin im Ausland hatte Olga Tokarczuk im Jahr 1996 – lange bevor sie international entdeckt wurde – nach Deutschland geführt. Damals las sie im Literarischen Colloqium Berlin (LCB) am Wannsee.

Für das LCB habe ich damals die polnischen Lesungen organisiert, und im Rahmen einer Woche mit polnischen Autorinnen luden wir Olga Tokarczuk ein. Kurz zuvor hatte sie ihren ersten Roman vorgelegt: „Podróż ludzi Księgi“ (1993, nur auf Polnisch erschienen, zu Deutsch etwa: „Die Reise der Buchmenschen“).

Eine nostalgische Geschichte über eine Gruppe von Pilgern, die nach dem „Buch der Bücher“ suchen. Einer von ihnen findet schließlich das sehnsüchtig gesuchte Werk, ehe sich herausstellt: Er kann nicht lesen. In dieser Geschichte finden sich schon viele für die heutige Nobelpreisträgerin typische literarische Motive: das Fasziniertsein von Mythischem und Unerklärlichem bei gleichzeitiger Suche nach Wahrheit, eine spirituelle Sehnsucht nach der Erfassung einer tieferen Bedeutung.

Olga Tokarczuk, geboren 1962 in Zielona Góra, debütierte mit 16 Jahren. Sie veröffentlichte zunächst in einem polnischen Jugendmagazin, schrieb Kurzprosa und Gedichte. Die Übersetzung ihres Debüts fand in Deutschland damals keinen Verleger. Wir beide blieben freundschaftlich verbunden, sodass ich jedes Buch von Olga später mit großem Interesse gelesen habe, viele Lesungen mit ihr moderierte und einige Interviews führte – ihr Werk ist somit ein Teil meines Lebens geworden.

Sie liebt Kreuzberg

Im Jahr 2001 wurde sie Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin, und in dieser Zeit entstand ihre Berliner Erzählung „Spiel auf vielen Trommeln“ (Matthes & Seitz, 2006). Sie wohnte damals in einer Wohnung am Mariannenplatz in Kreuzberg, im Bethanienhaus. Dieser Bezirk gefiel ihr gut: Wohnmobile mit Aussteigern im Hinterhof, die Oranienstraße mit ihren Lokalen, Bars und multikulturellen Bewohnern.

Schon damals war sie in Polen eine gestandene Autorin: Für „Ur und andere Zeiten“ (Berlin Verlag, 2000) bekam sie 1997 den Publikumspreis des renommierten polnischen Nike-Literaturpreises. Es folgten zahlreiche weitere Preise. Aber gerade die Kreuzberger Impressionen, „Spiel auf vielen Trommeln“, kann man als wichtigen ersten Schritt in Richtung Nobelpreis sehen: Das Buch erschien in schwedischer Übersetzung von Jan Henrik Swahn, der später weitere Romane von Tokarczuk kongenial ins Schwedische übertrug. Darunter auch die „Jakobsbücher“, ihr Opus Magnum (Kampa Verlag, 2019).

In „Ur und andere Zeiten“, dem ersten ausgezeichneten Werk, geht es um Ur, ein uraltes fiktives Städtchen, das auf verschiedenen Zeit- und Raum­ebenen beschrieben wird mithilfe miteinander verflochtener Legenden. Ur kann man auf zwei Wegen verlassen – entweder vertikal, im Geiste, auf der Suche nach der kosmischen Wahrheit, das heißt dem höheren Sinn, oder horizontal, durch den Wald, wobei man die unsichtbare Grenze von Lebens- und Denkgewohnheiten überschreitet.

Hier wird Tokarczuks Credo sichtbar: Die Wahrheit entdeckt man in und durch die Bewegung, auch wenn sie sich nicht beschreiben und begreifen lässt. Der stete Perspektivwechsel ist für die Nobelpreisträgerin von größter Wichtigkeit. „Ganze Epochen haben ihre Wahrheiten, die nach einer gewissen Zeit in Staub zerfallen. Auch Individuen haben ihre Wahrheiten; manche von ihnen bleiben das ganze Leben lang aktuell, andere werden immer wieder modifiziert“ [Übersetzung d. A.], schreibt sie in dem bislang nicht auf Deutsch erschienen Essayband „Moment niedźwiedzia“ (2012).

Ins Unendliche multipliziert

In einem Interview mit der Gazeta Wyborcza erinnert sich Tokarczuk an ihre Anfänge: „Einmal habe ich bei Stanisław Lem eine faszinierende Erzählung über ein Gesetz der Physik gefunden. Der Protagonist dieser Erzählung, Herr Dońda, befand, dass jede Information, die ins Unendliche multipliziert wird, an einem bestimmten Punkt einen Wert erreicht, bei dem sie kollabiert und sich in ein Atom verwandelt.
Trotz wiederholter Aufenthalte in Deutschland und gelungener Übersetzungen hat das Werk der polnischen Autorin hier nie ein großes Publikum erreichen können
Er beschreibt die Vorstellung, dass alles, was wir schreiben, produzieren, sagen und lesen, diesem Gesetz gehorcht und es irgendwann ein ‚Klick‘ gibt – und dann verwandelt sich alles in ein Atom. Die Materie wird auf diese Art fester, verbessert ihre Qualität.“

Nicht nur von Stanisław Lem wurde sie geprägt, auch ein Werk der deutschen Literatur, das sie sechsmal gelesen hat, hat sie maßgeblich beeinflusst: „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. „Wenn mich jemand fragen sollte: Ich bin vor allem eine Leserin, erst an zweiter Stelle eine Autorin.“

Trotz wiederholter Aufenthalte in Deutschland und gelungener Übersetzungen von „Ur und andere Zeiten“, „Unrast“ (Schöffling, 2009) „Taghaus, Nachthaus“ (DVA, 2001) hat das Werk der polnischen Autorin hier nie ein großes Publikum erreichen können.

Misstrauen und Angst

Die „Jakobs­bücher“ – 2019 im Kampa Verlag erschienen, in der großartigen Übersetzung von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein – fanden jahrelang keinen Verleger in Deutschland. Als ich versuchte, den großen europäischen Roman über die Sekte des falschen Propheten Jakob Frank Verlagsleuten zu empfehlen, begegnete ich Misstrauen und der Angst vor zu hohen Druck- und Übersetzungskosten.

Es gab jedoch eine Literaturkritikerin, die schon bei der ersten Lektüre Tokarczuks Begabung erkannte: Iris Radisch. In einem Gespräch sagte sie mir, dass Polen, überhaupt der Osten „für das Metaphysische“ zuständig seien. Da ist was dran. In der deutschsprachigen Presse wurde Tokarczuk oft als eine der letzten Kandidaten für den Nobelpreis genannt, der Standard bezeichnete sie nach Bekanntgabe der Auszeichnung als „esoterisch angehaucht“. Ihre Botschaft wurde da wohl gründlich missverstanden.

In dem Roman „Der Gesang der Fledermäuse“ (Schöffling & Co., 2011), der 2016 von Agniesz­ka Holland unter dem Titel „Die Spur“ wunderbar verfilmt worden ist, bringt Tokarczuk ihr Mitgefühl mit Tieren und die Ablehnung von deren sinnloser Tötung zum Ausdruck.

Die Protagonistin des Romans, Janina Duszejko, eine ältere Frau, die auf dem Lande lebt, verliert ihre Hunde, die zufällig von Jägern erschossen werden. In der Gegend kommt es zu Morden, es sterben Männer, die in verschiedene dunkle Geschäfte verstrickt sind, und die Autorin stellt dem Leser die uralte Frage: Darf man im Namen höherer Werte töten?

Keine Gratulation vom Präsident

Auch in der Geschichte von Jakob Frank ist eine Frau, die Großmutter des Protagonisten Jakob, eine wichtige Erzähl­in­stanz. Jakob, ein Jude aus Ostgalizien, setzt sich für die Rechte seines Volks ein, für Freiheit, Gleichheit, Emanzipation. Er inszeniert sich als Prophet, provoziert sogar ein Pogrom, um gute Beziehungen zum katholischen Bischof zu pflegen.

Eingebettet ist die Geschichte, in ein breites Panorama des 18. Jahrhunderts in Europa, von der Türkei bis Deutschland. Die Großmutter Franks, Jente, ist eine hellsichtige Frau, die das Geschehen aus einer allwissenden Perspektive beobachtet. Der Roman ist sinnlich, bildhaft und unheimlich gut erzählt und trotz der Länge von 1.184 Seiten nie langweilig.

„Mit Geschichte sollte man so umgehen, dass man auch die untere Seite des Teppichs sieht und betrachten kann, wie die Fäden von unten miteinander verflochten sind, wie er gemacht worden ist“ – so beschrieb die Schriftstellerin die Arbeit an ihrem Buch bei einer öffentlichen Diskussion beim Malta Festival Poznań. Die andere Seite des Teppichs, das ist in den „Jakobsbüchern“ der polnische Antisemitismus und der Umgang des polnischen Adels mit der ukrai­nischen Bevölkerung, den Tokar­czuk in schonungsloser Radikalität als „Versklavung“ beschreibt.

Daraufhin wurde sie mit Hass überflutet, man warf ihr „Antipolonismus“ vor. Auch jetzt, nach der Auszeichnung mit dem Nobelpreis, wird auf nationalistischen polnischen Foren von einem Preis „für die polnischsprachige, jedoch nicht polnische Autorin“ gesprochen und ihre „Schädlichkeit für das Image der Polen im Ausland“ beschworen. Vom polnischen Präsidenten hat sie immer noch keine Gratulation bekommen.

Literatur und Weltlage

Ihr Wohnort Wrocław dagegen hat Tokarczuk einen großartigen Empfang bereitet. Ihr Auftritt im Nationalen Musikforum wurde auf Großleinwänden auf dem Platz vor dem Veranstaltungsort für alle, die nicht mehr in den Saal hi­neingekommen waren, übertragen. Und das waren Hunderte. Nach langen Standing Ovations überreichte der Bürgermeister von Wrocław ihr die Schlüssel zu den Stadttoren und begrüßte sie zu Hause.

Schon einen Tag später erklärte Tokarczuk, sie wolle eine Stiftung gründen, die „Raum für ein internationales Gespräch über die Möglichkeiten der Literatur bei der Analyse der Weltlage“ bieten sollte. Die Stadt Krakau beschloss, aus Anlass der Nobelpreisverleihung einen Wald für Olga Tokarczuk zu pflanzen – „Ur“ heißt er. 25.000 Bäume, die von den Einwohnern eigenhändig gepflanzt werden sollen.

Am Dienstag ist endlich die Ehrung in Stockholm. Seit Tagen gibt Olga Tokarczuk keine Interviews, geht nicht ans Handy, wahrscheinlich arbeitet sie in der Stille an ihrer Nobelpreisrede. Wir sind sehr gespannt, was sie sagen wird, denn sie weiß Bescheid: Jede oft wiederholte Information schafft, nach der Lem’schen Theorie, womöglich neue Atome. Die Verantwortung für das Wort ist groß.

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pdf: Die Rede von Olga Tokarczuk zur Nobelpreisverleihung - in english - ich habe keine deutsche Übersetzung gefunden - allerdings konnte ich mit diesem Google-pdf-Translator zumindest den Sinn einigermaßen erfassen...

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nun bin ich sowieso nicht der große bücherwurm - aber im gegensatz zu peter handke sagte mir olga tokarczuk, die literatur-nobelpreisträgerin von 2018, überhaupt nichts - aber das lässt sich ja ändern.

alles, was ich nun an rezensionen zu ihrem werk lesen konnte, hat mich auf alle fälle neugierig gemacht - und klang doch sehr sympathisch - denn so einen hang zur mystik und zur spiritualität habe ich ja auch - und wenn die stadtbibliothek in ein paar wochen die "jakobsbücher" von ihr ausgelegt hat, ist das, glaube ich, auch ein stoff für mich.

obwohl der umfang mich etwas irritiert, denn erfahrungsgemäß lege ich "dicke" bände schnell aus der hand, weil etwas anderes mich vielleicht dann in anspruch nimmt - und ich danach oft den anschluss verpasse, wieder einzusteigen.

aber vielleicht ist das ja bei olga tokarczuk auch anders.

und ihren mit-preisträger peter handke kenne ich auch eher aus einem längeren doku-film mit ihm und ansatzweise ein paar frühere "68-er" bände von ihm - und dann habe ich seine skandälchen verfolgt, die wohl mit zu seinem markenzeichen zu rechnen sind. und er hat es als "deutschsprachiger" autor natürlicherweise leichter als frau tokarczuk als polin.

handkes serbien-affinität und der ganze hype darum geht mir etwas auf den senkel - und einen nobelpreisträger kann man mit seinem gesamtwerk sicherlich nicht auf diese diskussion reduzieren.

ich habe ja letztlich hier öfter stellung bezogen zu emil nolde und die jüngeren entlarvungen zu seinem ns-engagement als maler des "deutschen" expressionismus - wo ich aber auch mitkonstatieren möchte, dass der "halbdäne" nolde sicherlich auch aus opportunistischen geschäftsinteressen sich mit dem jeweils herrschenden "mainstream" gemein machte, denn nach dem krieg hat er ja flugs eine andere dann zur zeit besser passendere geschichte erzählt und ist rasch entnazifiziert worden - wie soviele gesinnungsgenossen, auch aus der großen politik z.b. 

und wie bei handke meine ich: noldes oeuvre lässt sich nicht auf seinen opportunismus reduzieren. künstler sind eben auch nur menschen - und gerade künstler pflegen ja ihre macken, um sich zu profilieren und erkennbar zu machen, um sich zu vermarkten. 

aber ich merke schon auch hier wieder in diesen ausführungen: die diskussion um peter handke beherrscht die gedanken um diese jetzigen literaturpreise - und olga tokarczuk gerät da etwas in den hintergrund, obwohl sie ja wohl auch in polen nicht nur bewunderung genießt und von der "pis"-regierung glattweg ignoriert wird.

also künstler ecken immer irgendwie und irgendwo an - und diese kantigkeit und kauzigkeit macht letztlich ihre individualität aus, aus der heraus sie zur feder greifen, oder bei nolde waren es staffelei und pinsel. einen aalglatten und leichtverdaulichen autoren wird man aber auch keinen nobelpreis verleihen können.

und deshalb habe ich hier diese besprechung aus der taz jetzt über olga tokarczuk mit aufgenommen und eben auch ihre preisrede - vom polnischen ins englische übersetzt - und du kannst ggf. mit dem google-translator diesen text ins deutsche übertragen lassen - sie soll - gerade auch als frau - nicht im schatten vom handke stehen.


"ecce homo" - siehe, ein mensch...

Ecce Homo, 1871 - Antonio Ciseri (1821-91) - Öl auf Leinwand
Betr.: Doppel-Literatur-Nobelpreise





Die Stock­hol­mer Jury mag sich er­neu­ert ha­ben und ge­läu­tert, sie mag trans­pa­ren­ter auf­tre­ten, so­gar jün­ger ge­wor­den sein – in ei­nem ist auch beim neu­en Li­te­ra­tur­no­bel­preis al­les beim Al­ten: Wer auch im­mer die Aus­zeich­nung be­kommt, eine Preis­trä­ge­rin, ei­nen Preis­trä­ger ohne Schwä­chen kann es nicht ge­ben. Ent­spre­chend ge­spal­ten war das Echo in den di­gi­ta­len Netz­wer­ken.

Das ist viel­leicht die ent­schei­den­de Er­kennt­nis, die die­se bei­den ers­ten Li­te­ra­tur­no­bel­prei­se nach der Kri­se der Aka­de­mie ver­mit­teln: Die Zeit der Dich­ter­fürs­ten ist ab­ge­lau­fen. Schrift­stel­ler sind kei­ne Göt­ter. Den un­strit­tig alle über­ra­gen­den Au­tor gibt es nicht.

aus: "Abschied von den Göttern - Umstrittene Literaturnobelpreise für Handke und Tokarczuk" - spiegel+ v. 11.10.2019 


ja - das ist erleichternd aber auch bedrückend zugleich: das auch die nobelpreis-stars - hier also der literatur von 2018 und 2019: olga tokarczuk und peter handke - ihre jeweiligen "brüche" mit sich herumschleppen oder in sich tragen.

bei tokarczuk ist es angeblich ihr begrenztes sprachausdrucksvermögen, wie es ihre übersetzerin ins deutsche, die schriftstellerkollegin esther kinsky, wahrzunehmen scheint: "ihre stärke ist nicht die sprache", meint sie anmerken zu müssen - vielmehr sei ein "esoterischer feminismus" ihr ding, der ihr in polen und anderswo viele anhängerinnen beschert hat. und das "deutsche polen institut" verortet sie in die nähe des gigantisch geheimnisumwobenen mystisch-mythischen psychonalytikers c.g. jung, von dessen überlegungen und nischenbildungen sie "inspiriert" würde, wie sie selbst betont.

ja - und handke trägt ja als "bruch" trotz all seiner genialen sprach- und betrachtungsakrobatik seinen milosevic-spleen mit sich herum: seine serbien-affinität, besonders auch während des balkan-kriegs, in die er sich völlig verrannt hat. er soll außerdem eine lebensgefährtin geschlagen und getreten haben, einen unliebsamen interviewer angegangen sein - und soll sich nicht immer unter kontrolle haben, wenn er in frage gestellt wird, bei aller ruhiger naturbetrachtung, die er ansonsten gern heraushängen lässt.

aber so ist das mit den "brüchen", eben jener kehrseite jeweils der medaille: emil nolde ist deutschlands bekanntester und wirkmächtig-meisterlich buntester expressionist, aber er dient sich wahrscheinlich auch aus purem geschäftssinn über die maße dem ns-regime an und tritt als grenzbewohner in einen zweig der nsdap im deutsch-dänischen nordschleswig ein. inwieweit er nun tatsächlich auch innerlich ein durch und durch "überzeugter" nazi war oder es doch in erster linie um seine kunstmarkt-verkaufschancen in jener zeit dabei ging, hat er uns ja nicht zweifelsfrei offenbart - wohl aber, wie er pünktlich nach kriegsende am ende des nazi-spuks sein dortiges engagement vehement verleugnete und mit dem mantel des schweigens zudecken oder gar ins gegenteil verkehren wollte, was ihm auch mit unterstützung zunächst gelang.

zwar hat die bundeskanzlerin nolde nun aus ihrem büro wegen der erst jetzt so richtig öffentlich gewordenen ns-verquickungen abhängen lassen und für immer verbannt - aber sie besucht wie selbstverständlich mitsamt der angeblich großen deutschen (finanz)"elite" regelmäßig die wagner-festspiele jährlich in bayreuth, wo auch ein adolf hitler seinerzeit regelmäßig ein gern gesehener gast manchmal sogar ohne uniform und im festanzug war - und vielleicht sitzt frau merkel heute auf einem ähnlich günstigen platz bei den stundenlangen aufführungen wie er damals - der wagner-clan des komponisten insgesamt wenigstens war damals eindeutig und verbrieft pro-nationalsozialistisch...

aber: ich bin inzwischen davon überzeugt - desto älter ich werde - dass in jeder biographie bei objektiver "belichtung" und "durchleuchtung" solche oder ähnliche brüche auszumachen sind. und das ist auch dem jeweiligen "zeitgeist" natürlich geschuldet, der sich mit den nachfolgenden generationen jeweils ändert - und dann im nachhinein heutzutage vielleicht von algorithmen aber auch von historikern und soziologen anders bewertet und verdeutet werden kann - oft genug sogar diametral entgegengesetzt.

beispielsweise standen die eugeniker und rassenhygieniker der zwanziger bis fünfziger jahre des letzten jahrhunderts nach eigener überzeugung auf der damals "modernsten" und wissenschaftlich fortschrittlichsten stufe der menschlichen entwicklung und forschung überhaupt - und das nicht etwa nur in ns-deutschland, sondern weltweit gleichermaßen... - und erst heutige genetische mikrountersuchungen lassen den schluss zu, dass man überhaupt keine durchgängige verschiedenheit menschlicher "rassen" in statur und hautfarbe etc. ausmachen kann.

streng biologisch heißt es jetzt in der "jenaer erklärung" im september 2019: »Es gibt im menschlichen Genom unter den 3,2 Milliarden Basenpaaren keinen einzigen fixierten Unterschied, der zum Beispiel Afrikaner von Nicht-Afrikanern trennt. Es gibt – um es explizit zu sagen – somit nicht nur kein einziges Gen, welches ›rassische‹ Unterschiede begründet, sondern noch nicht mal ein einziges Basenpaar.«

diese Erklärung, so genau sie wissenschaftlich argumentiert, ist vor allem ein politisches zeichen: ein signal an eine gesellschaft, in der rassistisches gedankengut in den vergangenen jahren immer weiter in die mitte gerückt ist. - und inzwischen verortet die einschlägige wissenschaft eine individuell ausgeprägte persönlichkeitsbildende prägekraft den spiegelneuronen mit der transgenerationalen emotionalen "vererbung" durch (traumatische) familienereignisse und durch die jeweiligen reaktionen der bezugspersonen.  

der schon oben erwähnte c.g. jung nannte diese phänomene der immer mitschwingenden und einhergehenden "dunklen" und "entgegengesetzten" unbewussten persönlichkeitsanteile den (noch) nicht integrierten und einverleibten "schatten". dieser schatten enthält nach jung die anteile, die seinem positiven  und naiv-einfach eingebildeten und nach außen projizierten selbstbild und seiner so der umwelt vorgegaukelten 'theatermaske' (die bei jung "persona" heißt) entgegenstehen. des schattens dunkle seite – vom ich-bewusstsein aus gesehen – umfasst auch seine unbewusstheit, und außer 'bösem' können aus dem schatten auch positive impulse bei geglückter motivierender bewusstmachung und integration erwachsen. 

der schatten umfasst also nach jung un- oder teilbewusste persönlichkeitsanteile, die häufig verdrängt oder verleugnet werden, weil sie dem nach außen vorgetäuschten vorstellungsbild des ichbewusstseins von sich selbst entgegenstehen. 

folglich gehören zum kompletten umfassenden persönlichkeitsbild alle 'licht'- und 'schatten'-seiten: also immer die jeweils vorgegaukelte und gelebte "schokalenseite" mit all den oftmals entgegengesetzten bruchstücken und brüchen aus dem verborgenen. 

derzeitig suchen ja die medien und #me-too-aktivist(inn)en wie wild gerade bei prominenten, die sich für eine besonders hehre sache einsetzen oder die als mann irgendwie auffällig und übergriffig wurden  - wie z.b. eben auch auch bei handke aber auch bei greta thunberg - flugs diese "brüche" und "unpassenden" anteile auf - und dann steigert das die leser- und publicity-clicks und die verkaufte auflage, wenn man dann solche brüche "entlarvt" und sich daran hochzieht.

jesus sagte den männern, die die ehebrecherin steinigen wollten: "wer von euch ohne sünde (ohne irgendeinen "bruch") ist, der werfe den ersten stein auf sie. und da ließen diese moralischen "rächer" ihre pflastersteine fallen und trollten sich... - einer nach dem anderen... 

das all zusammenfassende resultat lautet dazu in den meisten fällen bei solchen "aufklärerischen" und bloßstellenden unternehmungen - wie schon vor 2000 jahren bei pontius pilatus nach dem "verhör" des vor ihm stehenden geschundenen jesus von nazareth: "ecce homo" - siehe, ein mensch...