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Generationale Abspaltungen

Das öffentliche und das private Gedenken unterscheiden sich stark, sagt Samuel Salzborn. FOTO: REUTERS



Antisemitismus und Erinnerungskultur

Die größte Lüge der Bundesrepublik

Die deutsche Erinnerungspolitik hält sich für vorbildlich. Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn erklärt die gelungene Aufarbeitung der NS-Verbrechen zum Mythos. 

VON CHRISTOPH DAVID PIORKOWSKI | TAGESSPIEGEL

Die Überzeugung, erinnerungspolitischer Weltmeister zu sein, ist ein zentrales Motiv der gegenwartsdeutschen Selbsterzählung. Zuweilen scheint es, als sei die einstige Wahnvorstellung rassischer Überlegenheit dem Glauben an eine moralische Überlegenheit gewichen. Die vermeintlich vorbildliche Vergangenheitsbewältigung legen sich Teile der deutschen Gesellschaft als Zeugnis kultureller Fortschrittlichkeit aus. 

Wie zuletzt der Essayist Max Czollek gezeigt hat, ist es dabei zur gängigen Praxis geworden, sich auf der vielbespielten Bühne des Erinnerungstheaters am Ritus kollektiver Läuterung zu laben.

Dass es mit dem Mythos einer schonungslosen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen nicht so weit her ist, wie es die einschlägigen Debatten nahelegen, unterstreicht der Berliner Politikwissenschaftler Samuel Salzborn nun mit seinem neuen Werk „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“. 

Öffentliche vs. private Erinnerung

In einem pointierten Essay bündelt Salzborn zentrale Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen und historischen Antisemitismusforschung. Ausgangsthese des Werks ist, dass sich der erinnerungspolitische Diskurs der Deutschen (und der Österreicher) durch eine einschneidende Kluft definiert: Hier das Gedenken im öffentlichen Raum, dort die Leugnung im Privaten.

Das Narrativ einer tatsächlichen Aufarbeitung des Holocaust sei nicht weniger als „die größte Lüge der Bundesrepublik“. Salzborn zufolge glaubt eine kleine, linksliberale Elite, ihr intellektueller Erinnerungsdiskurs durchdringe die Gesellschaft im Ganzen.

Tatsächlich aber bestimmten Schuldabwehr und oftmals latenter Antisemitismus den psychischen Haushalt des Tätervolks. Die Metastasen von verdrängter Schuld und verdrängtem Antisemitismus manifestieren sich in einer unversöhnlichen „Israelkritik“, die durch die aus der Antisemitismusforschung bekannten drei D’s – Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards – geprägt ist.

Verkappte Antisemiten aller politischen Richtungen und gesellschaftlichen Milieus könnten ihr verschwiemeltes Ressentiment so ins schmückende Gewand der Solidarität mit den Palästinensern kleiden.

Die Schuld der Vorfahren wird verdrängt

Das große Problem ist Salzborn zufolge, dass man in Deutschland zwar gemeinhin die Verbrechen der Nazis anerkennt, die eigenen Verwandten und die „gewöhnlichen Deutschen“ jedoch oftmals amnestiert werden. Diese Unschuldsvermutung aber offenbare sich aufgrund „der antisemitischen Täterschaft in so gut wie allen Familiengeschichten der Bundesrepublik“ bei näherer Betrachtung als Lügengespinst. 

So hat die Geschichtswissenschaft die tiefe Verstrickung weitester Teile der deutschen Gesellschaft in den Komplex der Enteignung, Entrechtung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden schon lange umfänglich belegt.

Das Verdrängen familiärer Schuldhaftigkeit macht Salzborn dabei an diversen sozialwissenschaftlichen Studien aus Gegenwart und jüngerer Vergangenheit fest. Schon 2002 zeigte die familienbiografische Studie „Opa war kein Nazi“ von Harald Walzer, Sabine Müller und Karoline Tschungnall wie zahlreiche Deutsche ihre Tätervorfahren in Opfer oder Widerstandskämpfer umdefinieren.

Selbstviktimisierung

Den gängigen Schätzungen zufolge liegt der Anteil derjenigen, die potenziellen NS-Opfern geholfen haben bei 0,3 Prozent, was etwa 200 000 Menschen entspricht. Die Memo-Studie 2019 des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft zeigt jedoch, dass etwa 28,7 Prozent der Deutschen ihren Vorfahren eine Helfer-Vita andichten. 69,8 Prozent glauben, ihre Vorfahren seien nicht unter den Tätern gewesen. Und 35,9 Prozent erklären ihre Angehörigen gar zu Opfern.

Der psychische Abwehrmechanismus der „Selbstviktimisierung“, den Margarete und Alexander Mitscherlich 1967 in ihrem bahnbrechenden Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“ sezierten, setzte Salzborn zufolge in beiden deutschen Teilstaaten unmittelbar nach ihrer Gründung ein. 

In den oft jeden historischen Kontext verleugnenden Debatten um deutsche Flüchtlinge oder Bombenopfer in Dresden und in Filmen wie „Die Gustloff“ und „Der Untergang“ sieht Salzborn den Opfermythos nach wie vor am Werk. Dass etwa die späteren Flüchtlinge an der völkischen Germanisierungspolitik einen gehörigen Anteil hatten, und demnach nicht von ungefähr vertrieben wurden, werde häufig verleugnet. Die Shoah erscheine dabei im postmodernen Nebel einer allgemeinen Gewaltkritik als eine Katastrophe unter vielen.

Täter-Opfer-Umkehr

Juden wiederum wird vorgeworfen, den Finger konstant in die Wunde zu legen. Anstatt sich mit den konkreten Taten der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern zu befassen, werden die Opfer und ihre Nachfahren dafür gescholten, die Schuld-Erinnerung wachzuhalten. 

Nach einer Studie der Anti-Defamation League von 2019 waren 42 Prozent der Deutschen der Meinung, Juden würden zu viel über den Holocaust sprechen. Solche Zahlen und die darin anklingenden Schlussstrichforderungen, zeigen wie wichtig dieses Sprechen doch ist. Folgt man Salborns Analyse, sind die revisionistischen Forderungen vieler AfD-Politiker und anderer Neo-Faschisten schließlich im Schoß einer Gesellschaft gewachsen, die sich ihre kollektive Unschuld erschwindelt.

  • Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld: Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Hentrich und Hentrich Verlag Berlin 2020, 136 Seiten, 15 Euro.
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Der sicherlich umstrittene Historiker Götz Aly hat schon 2013 in einem SPIEGEL-Gespräch aber sicherlich zutreffend errechnet, dass ungefähr jeder achte erwachsene Deutsche direkt mit Jemanden verwandt sei, der in die NS-Krankenmorde, der "Euthanasie", in irgendeinerweise verstrickt sei.

Und wenn man die angeheirateten Verwandten dazunehme, würde fast jeder in seiner Familie in den Generationen zurück jemand Beteiligten ausfindig machen können - seitens der Täter oder Opfer.

In den meisten Familien aber würde bis heute nicht darüber gesprochen - auch wenn immer mehr öffentliche Gedenkstätten und Erinnerunsorte und Stolpersteine zugänglich sind und offizielle Gedenkveranstaltungen dazu abgehalten werden.

Die Ermordeten sind in den Familien selbst oft schlichtweg vergessen - und ob jemand aktiv in die Krankenmorde mit involviert war, wird ausgeblendet und verdrängt und abgespalten.

(Das SPIEGEL-Gespräch mit Aly fand am 22.04.2013 statt.)

Diese Überlegungen zeigen, dass die oben im Artikel beschriebenen Verdrängungsmechanismen zur "Shoah" und zum "Holocaust" auch 1:1 übertragbar sind für auf die Aufarbeitung der NS-"Euthanasie"-Mordschicksale.

Solche Vorkommnisse in der eigenen Familie, sowohl bei (Mit-)Tätern und Opfern, werden verleugnet, ausgeblendet und immer noch - auch 80 Jahre danach - verdrängt, oder sind tatsächlich inzwischen "vergessen" und aus der Familien-"Gene" getilgt.

Und das war ja auch das Ziel der Rassenpolitik und all dieser darauf fußenden konzertierten Mord-Aktionen der allermeisten involvierten deutschen Nazis (9 Millionen waren aktive Mitglieder der NSDAP) und deren verblendete weit verbreitete Mitläufer in den Jahren 1933-1945:

"Das Vergessen der Vernichtung
 ist Teil 
 der Vernichtung selbst"

so hat es Harald Welzer in Anlehnung an Jean Baudrillard allerdings erst in unseren Tagen formuliert: Das Vergessen des Grauens ist von den Ideologen und Tätern im damaligen faschistischen System zumindest implizit mitgedacht und haargenau kalkuliert mit geplant und einkalkuliert worden - das war quasi Sinn der Vernichtungsaktionen: Vollständige und totale "Ausmerze" und konsequentes restloses "Niederführen" - diese faschistischen Unworte schließen ja eine endgültige "Tilgung" mit ein - zur erbbiologischen "Gesundung" des "deutschen Volkskörpers"...



unsagbar lyrisch - zum 50. todestag von nelly sachs

fast wie ein pendant zu celans "todesfuge" klingen die von nelly sachs veröffentlichten gedichte in ihren ersten gedichtbänden nach dem krieg, in denen sie den holocaust als vor den nazis geflohene jüdin lyrisch ver- und bearbeitete. 

wikipedia schreibt: die beiden bände "in den wohnungen des todes" und "sternverdunkelung" (1949) wurden zunächst in ost-berlin auf betreiben johannes r. bechers veröffentlicht; weder in der schweiz noch in den westlichen zonen deutschlands wurden gedichte von nelly sachs gedruckt. auch 1949 noch wurde der zweite gedichtband "sternverdunkelung", in amsterdam verlegt, von der kritik zwar gelobt, in der jungen bundesrepublik jedoch kaum gelesen. 

sie war also lange zeit ein geheimtip unter den lyrikfreunden - bis sie dann 1966 den nobelpreis für literatur bekam.

in ihrer ganz eigenen sprache, in die auch die mystischen nuancen beispielsweise der jüdischen kabbala mit einflossen, fand nelly sachs für das unaussprechliche des holocaust, der shoah, worte und begriffe und satzkompositionen, die sowohl das grauen ins bild nahmen als auch eben diese uralte eigenständige jüdische kultur und folklore mit einwob in einen ganz eigenen - ja fast möchte man sagen: eigenartigen begriffs- und bilderreichen sprachduktus.

am 12. Mai 1970, dem tag der beerdigung von paul celan, starb nelly sachs. und die beiden sensiblen dichter, die als erste auf deutsch ihre jeweilige persönliche sprache wiederfanden in einer zeit nach dem kollektiven schamvollen oder trotzigen verstummen - je nachdem ... wo aber die meisten zeitzeugen in deutschland noch eisern schwiegen und mit dem beginnenden "wirtschaftswunder" beschäftigt waren - beide sind also auf diese eigentümliche weise im tod miteinander verwandt - und haben somit in diesem jahr ihren 50. todestag. si

Nelly Sachs - Graphicbearbeitung: sinedi@rt



Nelly Sachs starb am 12. Mai 1970 in einem Stockholmer Krankenhaus an einer Krebserkrankung, am Tag von Paul Celans Beerdigung. Sie ist auf dem jüdischen Friedhof des Norra begravningsplatsen von Solna im Norden von Stockholm beigesetzt.

MUND SAUGEND AM TOD

Mund
saugend am Tod
und sternige Strahlen
mit den Geheimnissen des Blutes
fahren aus der Ader
daran Welt zur Tränke ging
und blühte

Sterben
bezieht seinen Standpunkt aus Schweigen
und das blicklose Auge
der aussichtslosen Staubverlassenheit
tritt über die Schwelle des Sehens
während das Drama der Zeit
eingesegnet wird
dicht hinter seinem eisigen Schweißtuch.

by Nelly Sachs (1891-1970)

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O DIE SCHORNSTEINE

O die Schornsteine
O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft -

Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?

O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub -
Wer erdachte euch
und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

O die Wohnungen des Todes,
Einladend hergerichtet
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war -
O ihr Finger,
Die Eingangsschwelle legend
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod -

O ihr Schornsteine,
O ihr Finger,
Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!

by Nelly Sachs (1891-1970)


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Nelly Sachs: Das Unsagbare lyrisch verarbeiten

Vor 50 Jahren ist die deutsch-schwedische Nobelpreisträgerin Nelly Sachs gestorben, deren lyrisches Schaffen bis heute eine der bedeutendsten künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust darstellt.

Am 10. Dezember 1891 als Leonie Sachs im heutigen Berlin-Schöneberg in eine großbürgerliche jüdische Familie geboren, fand sie bereits als Jugendliche zur Lyrik, veröffentlichte ihren ersten Gedichtband „Legenden und Erzählungen" aber erst 1921.

Auf der Flucht vor den Nazis

In den 1930er Jahren vertiefte sie sich, während sich der politische Aufstieg der Nationalsozialisten vollzog, in Schriften zur jüdischen Mystik, die ab dieser Zeit in ihr Werk Eingang fand. Ihre eigene Situation in Berlin verschärfte sich durch die Verfolgung der Nazis zunehmend, weshalb Sachs 1940 nach Schweden floh.

Die Flucht, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter antrat, wurde durch die seit 1907 andauernde Brieffreundschaft zur schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf begünstigt, die 1909 den Literaturnobelpreis erhielt. Auch die Fürsprache des schwedischen Prinzen Eugen begünstigte die Emigration nach Stockholm.

Frühe Thematisierung des Holocaust

In den Nachkriegsjahren, die Sachs in Armut verbrachte, begann sie aus dem Schwedischen zu übersetzen, 1953 erhielt sie die schwedische Staatsbürgerschaft. Ihr 1947 erschienener Band „In den Wohnungen des Todes“ ist eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust und gilt neben Paul Celans „Todesfuge“ als bedeutendste in der Lyrik.

Hierin thematisiert sie die Ermordung und Verbrennung von Juden im NS-Vernichtungslager Auschwitz und führt imaginäre Dialoge mit den Getöteten. In ihrem späteren Schaffen kreist Sachs zunehmend um die Fluchterfahrung und intensiviert ihre Beschäftigung mit der jüdischen Mystik, besonders der Kabbala.

Literaturnobelpreis 1966

1966 erhielt Sachs gemeinsam mit Schmuel Josef Agnon den Literaturnobelpreis. Ihre Rezeption in Deutschland unterlag lange Zeit einer Wahrnehmung Sachs’ als „Versöhnungsfigur“ zwischen den Überlebenden des Holocaust und den Tätergesellschaften. Ihr wurden bedeutende Preise verliehen und 1960 zu ihren Ehren der Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund gestiftet. Eine Rückkehr nach Deutschland schloss sie allerdings aus.

Ihre erste Deutschland-Reise nach der Flucht unternahm sie 1960. In der Folge erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, der ihre psychische Gesundheit für mehrere Jahre schwer beeinträchtigte. Sachs erlag am 12. Mai 1970 in Stockholm einer Krebserkrankung.

flob, ORF.at

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Das schrieb die ZEIT vor 50 Jahren - zum Tod von Nelly Sachs:

In den Wohnungen des Todes
Zum Tode der deutsch-jüdischen Dichterin Nelly Sachs

Von Olof Lagercrantz
22. Mai 1970 - AUS DER ZEIT NR. 21/1970


  • Der Dichter und Publizist Olof Lagercrantz, 1911 geboren, ist seit 1960 Chefredakteur der Stockholmer Tageszeitung "Dagens Nyheter". Er hat Nelly Sachs lange persönlich gekannt; in deutscher Sprache liegt von ihm ein "Versuch über die Lyrik der Nelly Sachs" vor gekannt, suhrkamp 212, 1967) sowie ein Buch über Dantes "Göttliche Komödie" ("Von der Hölle zum Paradies", Insel Verlag, 1965).
Nelly Sachs wurde 1891 in Berlin geboren; sie stammte aus einem vermögenden deutschjüdischen Haus, in dem Goethe und Beethoven größere Autorität besaßen als Moses und Jesaja. Man schickte sie auf eine vornehme Töchterschule. Ein Rabbiner gab ihr einige Privatstunden im Judaismus, aber der Jesus in der Schule gab ihr mehr. Was Antisemitismus war, wußte sie nicht.

Sie war klein von Wuchs, hatte große, braune, vorgewölbte Augen und schwarzes Haar. Als sie alt wurde und die Angst sie ergriff, glich sie oft einem aufs Land geworfenen Fisch, der nach Luft ringt. Ihre Seele war früh verstört. Und dies bedeutete, daß sie zu einem Leben bestimmt war, das am Rand des "Normalen" verlief. Da sie das einzige Kind war, wachte man sorgfältig über ihr Wohl und verwöhnte sie. Als Kind besaß sie eine Zeitlang ein zahmes Reh im Garten der Stadtvilla.

Die ersten vierzig Jahre ihres Lebens war sie nur von ihrem Inneren bedroht und ohne viel Kontakt zur – wie man es so nennt – Wirklichkeit. Sie bereitete sich nicht auf einen Beruf vor, erlebte die Liebe nur als Schwärmerei auf Abstand und in schwindelnder Sehnsucht. Zu Hause war sie eine unverheiratete Tochter im wilhelminischen Deutschland, und der Erste Weltkrieg ging an ihr, wie man annehmen darf, spurlos vorbei. Wovon sie schrieb, waren Nachtigallen, die sich zu Tode sangen, und Muscheln, in denen man das Rauschen der Ewigkeit hört. Sie veröffentlichte eine Märchensammlung über Zauberer und edle, sich aufopfernde Frauen. Dieses Buch schickte sie an Selma Lagerlöf, die sie ihr "leuchtendes Vorbild" nannte, und erhielt eine wohlwollende Antwort.

Als Hitler 1933 an die Macht kam, war Nelly Sachs schlecht gerüstet für die nun anbrechende Zeit. Kaum wußte sie, daß sie Jüdin war. Die deutschen Juden waren mehr oder weniger assimiliert. Sie lebte allein mit ihrer Mutter in Berlin, während die Juden isoliert, wie Vieh registriert, ausgeplündert wurden und der Mord immer näher rückte. Viele ihrer Freunde wählten den Freitod, andere flüchteten. Sie selber war vom Schrecken paralysiert. Nach einer Konfrontation mit der Gestapo war ihre Kehle gelähmt, und fünf Tage lang konnte sie kein Wort herausbringen. Diese Stummheit, eine Folge ihrer Angst, wurde dann zum Thema ihrer Bücher.

Am 16. Mai 1940, als die deutschen Armeen sich auf dem Marsch nach Paris befanden und die Gefährdung der Juden in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar wurde, verließ sie Deutschland und kam nach Stockholm. Die ersten Nächte im fremden Land verbrachte sie in einem Kinderheim in einem Kinderbett, denn größer war sie nicht.

1947, als sie sechsundfünfzig Jahre alt war und ihr Haar fast weiß, erschien ihr erster Gedichtband, "In den Wohnungen des Todes". Er handelt vom Leiden und Tod des jüdischen Volkes. In dem ersten Gedicht ragen die neuen Schornsteine der Krematorien "auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes". Das Volk Israel wird zu Rauch und setzt seine leiderfüllte Wanderung über dem Himmel der Sinai-Wüste fort. Es verdient, festgehalten zu werden, daß die Frage nach Schuld, Rechtfertigung und Urteil in den Gedichten ausgespart bleibt.

Die Henker benehmen sich wie Marionetten, die mit der "niedergehenden Sonne" der Juden "als dem roten Teppich unter den Füßen" aufmarschieren: "Riesengroß das Gestirn des Todes wie die Uhr der Zeiten". Nelly Sachs gibt kein Protokoll und schafft kein Gleichgewicht. Ihr Bestreben ist es nur, den Sterbenden im Entsetzen eine mitfühlende Schwester zu sein.

Einen Hiob gibt es auch in ihrer Personengalerie, aber die Weltordnung stellt er nicht in Frage. Er ist verstummt vor allzu vielem "Warum", und seine Augen sind tief eingesunken, "wie Höhlentauben in der Nacht, die der Jäger blind herausholt". Als die Welt nach Hitlers Niedergang sich in eine Haßorgie stürzte, fand man in Nelly Sachs’ Dichtung davon keine Spur.

Der Ausgangspunkt ihrer Dichtung ist der Untergang des europäischen Judentums. In den dreißiger Jahren mußte sie lernen, daß sie Jüdin war. Sie war in Träumen zu Hause gewesen. In der Wirklichkeit, in der sie aufwachte, gab es nur physische Ausrottung. Tag für Tag durchlebte sie über viele Jahre hinweg die letzten fünfzehn Minuten vor der Gaskammer.

Die Kluft, die Hitler zwischen Deutschen und Juden aufriß, eine Hitler die die meisten Juden nicht überlebten – ihr gab Nelly Sachs eigenen Ausdruck. Sie war Deutsche, Deutsch war ihre Sprache, ihre Bilderwelt hatte ihre Wurzeln in der deutschen Romantik, und das Jüdische erschien ihr als ein allzu enger Rahmen, der Zionismus – trotz der großen Liebe zum neuen Israel – als ein Gefängnis.

Nelly Sachs löste das Problem, indem die Juden für sie das Volk wurden, das leidet und sich durch alle Jahrhunderte hindurch auf der Flucht befindet. Jude sein heißt für sie nicht, dem mosaischen Gesetz zu folgen, sondern Leid und Angst zu ertragen. Alle Menschen, die litten, wurden in diesem Sinn für sie zu Juden: Jude sein hieß ein wahrer Mensch sein. Ihren ersten Gedichtband schrieb sie, während deutsche Städte in Schutt und Asche fielen und Hunderttausende von Deutschen darunter begraben wurden. Auch deren Leiden ist in ihrer Dichtung enthalten. Diejenige, die sie vor dem Tode rettete, war eine deutsche Frau nichtjüdischer Herkunft und nicht, wie auch Nelly Sachs selber glauben wollte, Selma Lagerlöf.

Das Volk der Nelly Sachs umfaßt alle Geschöpfe im äußersten Schmerz, vor dem seelischen Zusammenbruch, im Alter und im Sterben. Als Kind hatte sie aufgewühlt den langsamen Erstickungstod von Fischen mitangesehen. Sie studierte die im Bernstein eingeschlossenen Insekten und die unzähligen Fossilien im Kalkstein, und sie suchte nach den letzten Zuckungen der Körper.

Ihre Dichtung entstand erst, als sie selber alt wurde. Häufig war ihre seelische Gesundheit angegriffen. Sie glaubte sich von den Nazis buchstäblich verfolgt, auch nachdem deren Macht in Deutschland längst gebrochen war. Das muß als Bedingung ihrer stellvertretenden Dichtung begriffen werden. Viele Jahre hat sie in einer Anstalt verbracht, inmitten von Geistesgestörten und Alten; sie zählte auch diese zu ihrem Volk und schuf dort eine Reihe meisterlicher lyrischer Porträts des Alters, eines Rembrandts würdig.

In einem dieser Gedichte wird von einer alten Frau berichtet, die mit ihren Fingern eine Eisgrotte bemalt. Die Eisgrotte bedeutet die Kälte, die im sterbenden Körper um sich greift. Der sich noch bewegende Finger malt an die Wände der Grotte die singende Karte eines verborgenen Meeres.

In ihrer Jugend interessierte sich Nelly Sachs für die Mystik der Christen. In den dreißiger Jahren studierte sie die jüdische Mystik und las Bruchstücke aus dem mittelalterlichen "Sohar". Sie formte für sich einen Glauben, der die eigentliche Triebkraft ihrer späteren und größten Lyrik war: so in den Sammlungen "Und niemand weiß weiter", "Sternverdunklung", "Flucht und Verwandlung" und "Glühende Rätsel". Es ist ein Glaube ohne Dogmen, kaum in Worte zu fassen, mehr eine Richtung, oft nur eine stumme Bewegung.

Dieser Glaube enthält den Gedanken, daß Leiden und Tod einen Gewinn bedeuten können und daß es die Aufgabe des Dichters ist, mit dem Instrument der Sprache eine neue Wirklichkeit zu schaffen, einen neuen Zusammenhang des Lebens; was das Leben uns bietet, seien die Scherben einer großen zusammenhängenden Ordnung. Die Wunde sei ein Keim, der Wurzeln schlägt. In einem Gedicht heißt es, "die blutig gerissene Kieme des Fisches" sei vielleicht dazu bestimmt, "mit ihrem Rubinrot das Sternbild Marter zu ergänzen, den ersten Buchstaben der wortlosen Sprache zu schreiben".

Diese wortlose Sprache war es, die Nelly Sachs im Land des Sterbens und der Schreie suchte.

Nelly Sachs lebte, nachdem ihre Mutter starb, einsam und in einem einzigen Zimmer im Süden Stockholms. Nach großer Armut in den ersten Jahren kam dann der Ruhm, schließlich der Nobelpreis. Sie nahm ihn mit der Grazie einer Dame von Welt entgegen. Es sammelte sich ein Kreis schwedischer Freunde um sie, die sie ihre Schwester nannten und die sie liebten. Mit dem Altar wurde sie immer schöner, kleidete sich in Blau, schmückte ihr Zimmer mit Steinen, auf denen versteinerte Tiere ihre letzten Bewegungen im Leben gezeichnet hatten.

Sie war eine heroische Natur und gelangte in menschliche Zonen, die nur selten betreten werden. Die jüdische Katastrophe ist wahrscheinlich nur eine von vielen im Atomzeitalter. Der Massentod wird zum ständigen Begleiter unseres Geschlechts. Unter Schmerzen zu altern und zu zerschellen an einem Übermaß an Leid, wird eine Erfahrung für immer mehr Menschen. Das bedeutet, daß Nelly Sachs zu den Dichtern gehört, die wir in der Zukunft am allermeisten brauchen.

Für die ZEIT aus dem Schwedischen von Ute Fröhlich

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DICHTEN NACH AUSCHWITZ - 
NELLY SACHS ZUM 50. TODESTAG
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