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unsagbar lyrisch - zum 50. todestag von nelly sachs

fast wie ein pendant zu celans "todesfuge" klingen die von nelly sachs veröffentlichten gedichte in ihren ersten gedichtbänden nach dem krieg, in denen sie den holocaust als vor den nazis geflohene jüdin lyrisch ver- und bearbeitete. 

wikipedia schreibt: die beiden bände "in den wohnungen des todes" und "sternverdunkelung" (1949) wurden zunächst in ost-berlin auf betreiben johannes r. bechers veröffentlicht; weder in der schweiz noch in den westlichen zonen deutschlands wurden gedichte von nelly sachs gedruckt. auch 1949 noch wurde der zweite gedichtband "sternverdunkelung", in amsterdam verlegt, von der kritik zwar gelobt, in der jungen bundesrepublik jedoch kaum gelesen. 

sie war also lange zeit ein geheimtip unter den lyrikfreunden - bis sie dann 1966 den nobelpreis für literatur bekam.

in ihrer ganz eigenen sprache, in die auch die mystischen nuancen beispielsweise der jüdischen kabbala mit einflossen, fand nelly sachs für das unaussprechliche des holocaust, der shoah, worte und begriffe und satzkompositionen, die sowohl das grauen ins bild nahmen als auch eben diese uralte eigenständige jüdische kultur und folklore mit einwob in einen ganz eigenen - ja fast möchte man sagen: eigenartigen begriffs- und bilderreichen sprachduktus.

am 12. Mai 1970, dem tag der beerdigung von paul celan, starb nelly sachs. und die beiden sensiblen dichter, die als erste auf deutsch ihre jeweilige persönliche sprache wiederfanden in einer zeit nach dem kollektiven schamvollen oder trotzigen verstummen - je nachdem ... wo aber die meisten zeitzeugen in deutschland noch eisern schwiegen und mit dem beginnenden "wirtschaftswunder" beschäftigt waren - beide sind also auf diese eigentümliche weise im tod miteinander verwandt - und haben somit in diesem jahr ihren 50. todestag. si

Nelly Sachs - Graphicbearbeitung: sinedi@rt



Nelly Sachs starb am 12. Mai 1970 in einem Stockholmer Krankenhaus an einer Krebserkrankung, am Tag von Paul Celans Beerdigung. Sie ist auf dem jüdischen Friedhof des Norra begravningsplatsen von Solna im Norden von Stockholm beigesetzt.

MUND SAUGEND AM TOD

Mund
saugend am Tod
und sternige Strahlen
mit den Geheimnissen des Blutes
fahren aus der Ader
daran Welt zur Tränke ging
und blühte

Sterben
bezieht seinen Standpunkt aus Schweigen
und das blicklose Auge
der aussichtslosen Staubverlassenheit
tritt über die Schwelle des Sehens
während das Drama der Zeit
eingesegnet wird
dicht hinter seinem eisigen Schweißtuch.

by Nelly Sachs (1891-1970)

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O DIE SCHORNSTEINE

O die Schornsteine
O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft -

Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?

O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub -
Wer erdachte euch
und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

O die Wohnungen des Todes,
Einladend hergerichtet
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war -
O ihr Finger,
Die Eingangsschwelle legend
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod -

O ihr Schornsteine,
O ihr Finger,
Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!

by Nelly Sachs (1891-1970)


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Nelly Sachs: Das Unsagbare lyrisch verarbeiten

Vor 50 Jahren ist die deutsch-schwedische Nobelpreisträgerin Nelly Sachs gestorben, deren lyrisches Schaffen bis heute eine der bedeutendsten künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust darstellt.

Am 10. Dezember 1891 als Leonie Sachs im heutigen Berlin-Schöneberg in eine großbürgerliche jüdische Familie geboren, fand sie bereits als Jugendliche zur Lyrik, veröffentlichte ihren ersten Gedichtband „Legenden und Erzählungen" aber erst 1921.

Auf der Flucht vor den Nazis

In den 1930er Jahren vertiefte sie sich, während sich der politische Aufstieg der Nationalsozialisten vollzog, in Schriften zur jüdischen Mystik, die ab dieser Zeit in ihr Werk Eingang fand. Ihre eigene Situation in Berlin verschärfte sich durch die Verfolgung der Nazis zunehmend, weshalb Sachs 1940 nach Schweden floh.

Die Flucht, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter antrat, wurde durch die seit 1907 andauernde Brieffreundschaft zur schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf begünstigt, die 1909 den Literaturnobelpreis erhielt. Auch die Fürsprache des schwedischen Prinzen Eugen begünstigte die Emigration nach Stockholm.

Frühe Thematisierung des Holocaust

In den Nachkriegsjahren, die Sachs in Armut verbrachte, begann sie aus dem Schwedischen zu übersetzen, 1953 erhielt sie die schwedische Staatsbürgerschaft. Ihr 1947 erschienener Band „In den Wohnungen des Todes“ ist eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust und gilt neben Paul Celans „Todesfuge“ als bedeutendste in der Lyrik.

Hierin thematisiert sie die Ermordung und Verbrennung von Juden im NS-Vernichtungslager Auschwitz und führt imaginäre Dialoge mit den Getöteten. In ihrem späteren Schaffen kreist Sachs zunehmend um die Fluchterfahrung und intensiviert ihre Beschäftigung mit der jüdischen Mystik, besonders der Kabbala.

Literaturnobelpreis 1966

1966 erhielt Sachs gemeinsam mit Schmuel Josef Agnon den Literaturnobelpreis. Ihre Rezeption in Deutschland unterlag lange Zeit einer Wahrnehmung Sachs’ als „Versöhnungsfigur“ zwischen den Überlebenden des Holocaust und den Tätergesellschaften. Ihr wurden bedeutende Preise verliehen und 1960 zu ihren Ehren der Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund gestiftet. Eine Rückkehr nach Deutschland schloss sie allerdings aus.

Ihre erste Deutschland-Reise nach der Flucht unternahm sie 1960. In der Folge erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, der ihre psychische Gesundheit für mehrere Jahre schwer beeinträchtigte. Sachs erlag am 12. Mai 1970 in Stockholm einer Krebserkrankung.

flob, ORF.at

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Das schrieb die ZEIT vor 50 Jahren - zum Tod von Nelly Sachs:

In den Wohnungen des Todes
Zum Tode der deutsch-jüdischen Dichterin Nelly Sachs

Von Olof Lagercrantz
22. Mai 1970 - AUS DER ZEIT NR. 21/1970


  • Der Dichter und Publizist Olof Lagercrantz, 1911 geboren, ist seit 1960 Chefredakteur der Stockholmer Tageszeitung "Dagens Nyheter". Er hat Nelly Sachs lange persönlich gekannt; in deutscher Sprache liegt von ihm ein "Versuch über die Lyrik der Nelly Sachs" vor gekannt, suhrkamp 212, 1967) sowie ein Buch über Dantes "Göttliche Komödie" ("Von der Hölle zum Paradies", Insel Verlag, 1965).
Nelly Sachs wurde 1891 in Berlin geboren; sie stammte aus einem vermögenden deutschjüdischen Haus, in dem Goethe und Beethoven größere Autorität besaßen als Moses und Jesaja. Man schickte sie auf eine vornehme Töchterschule. Ein Rabbiner gab ihr einige Privatstunden im Judaismus, aber der Jesus in der Schule gab ihr mehr. Was Antisemitismus war, wußte sie nicht.

Sie war klein von Wuchs, hatte große, braune, vorgewölbte Augen und schwarzes Haar. Als sie alt wurde und die Angst sie ergriff, glich sie oft einem aufs Land geworfenen Fisch, der nach Luft ringt. Ihre Seele war früh verstört. Und dies bedeutete, daß sie zu einem Leben bestimmt war, das am Rand des "Normalen" verlief. Da sie das einzige Kind war, wachte man sorgfältig über ihr Wohl und verwöhnte sie. Als Kind besaß sie eine Zeitlang ein zahmes Reh im Garten der Stadtvilla.

Die ersten vierzig Jahre ihres Lebens war sie nur von ihrem Inneren bedroht und ohne viel Kontakt zur – wie man es so nennt – Wirklichkeit. Sie bereitete sich nicht auf einen Beruf vor, erlebte die Liebe nur als Schwärmerei auf Abstand und in schwindelnder Sehnsucht. Zu Hause war sie eine unverheiratete Tochter im wilhelminischen Deutschland, und der Erste Weltkrieg ging an ihr, wie man annehmen darf, spurlos vorbei. Wovon sie schrieb, waren Nachtigallen, die sich zu Tode sangen, und Muscheln, in denen man das Rauschen der Ewigkeit hört. Sie veröffentlichte eine Märchensammlung über Zauberer und edle, sich aufopfernde Frauen. Dieses Buch schickte sie an Selma Lagerlöf, die sie ihr "leuchtendes Vorbild" nannte, und erhielt eine wohlwollende Antwort.

Als Hitler 1933 an die Macht kam, war Nelly Sachs schlecht gerüstet für die nun anbrechende Zeit. Kaum wußte sie, daß sie Jüdin war. Die deutschen Juden waren mehr oder weniger assimiliert. Sie lebte allein mit ihrer Mutter in Berlin, während die Juden isoliert, wie Vieh registriert, ausgeplündert wurden und der Mord immer näher rückte. Viele ihrer Freunde wählten den Freitod, andere flüchteten. Sie selber war vom Schrecken paralysiert. Nach einer Konfrontation mit der Gestapo war ihre Kehle gelähmt, und fünf Tage lang konnte sie kein Wort herausbringen. Diese Stummheit, eine Folge ihrer Angst, wurde dann zum Thema ihrer Bücher.

Am 16. Mai 1940, als die deutschen Armeen sich auf dem Marsch nach Paris befanden und die Gefährdung der Juden in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar wurde, verließ sie Deutschland und kam nach Stockholm. Die ersten Nächte im fremden Land verbrachte sie in einem Kinderheim in einem Kinderbett, denn größer war sie nicht.

1947, als sie sechsundfünfzig Jahre alt war und ihr Haar fast weiß, erschien ihr erster Gedichtband, "In den Wohnungen des Todes". Er handelt vom Leiden und Tod des jüdischen Volkes. In dem ersten Gedicht ragen die neuen Schornsteine der Krematorien "auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes". Das Volk Israel wird zu Rauch und setzt seine leiderfüllte Wanderung über dem Himmel der Sinai-Wüste fort. Es verdient, festgehalten zu werden, daß die Frage nach Schuld, Rechtfertigung und Urteil in den Gedichten ausgespart bleibt.

Die Henker benehmen sich wie Marionetten, die mit der "niedergehenden Sonne" der Juden "als dem roten Teppich unter den Füßen" aufmarschieren: "Riesengroß das Gestirn des Todes wie die Uhr der Zeiten". Nelly Sachs gibt kein Protokoll und schafft kein Gleichgewicht. Ihr Bestreben ist es nur, den Sterbenden im Entsetzen eine mitfühlende Schwester zu sein.

Einen Hiob gibt es auch in ihrer Personengalerie, aber die Weltordnung stellt er nicht in Frage. Er ist verstummt vor allzu vielem "Warum", und seine Augen sind tief eingesunken, "wie Höhlentauben in der Nacht, die der Jäger blind herausholt". Als die Welt nach Hitlers Niedergang sich in eine Haßorgie stürzte, fand man in Nelly Sachs’ Dichtung davon keine Spur.

Der Ausgangspunkt ihrer Dichtung ist der Untergang des europäischen Judentums. In den dreißiger Jahren mußte sie lernen, daß sie Jüdin war. Sie war in Träumen zu Hause gewesen. In der Wirklichkeit, in der sie aufwachte, gab es nur physische Ausrottung. Tag für Tag durchlebte sie über viele Jahre hinweg die letzten fünfzehn Minuten vor der Gaskammer.

Die Kluft, die Hitler zwischen Deutschen und Juden aufriß, eine Hitler die die meisten Juden nicht überlebten – ihr gab Nelly Sachs eigenen Ausdruck. Sie war Deutsche, Deutsch war ihre Sprache, ihre Bilderwelt hatte ihre Wurzeln in der deutschen Romantik, und das Jüdische erschien ihr als ein allzu enger Rahmen, der Zionismus – trotz der großen Liebe zum neuen Israel – als ein Gefängnis.

Nelly Sachs löste das Problem, indem die Juden für sie das Volk wurden, das leidet und sich durch alle Jahrhunderte hindurch auf der Flucht befindet. Jude sein heißt für sie nicht, dem mosaischen Gesetz zu folgen, sondern Leid und Angst zu ertragen. Alle Menschen, die litten, wurden in diesem Sinn für sie zu Juden: Jude sein hieß ein wahrer Mensch sein. Ihren ersten Gedichtband schrieb sie, während deutsche Städte in Schutt und Asche fielen und Hunderttausende von Deutschen darunter begraben wurden. Auch deren Leiden ist in ihrer Dichtung enthalten. Diejenige, die sie vor dem Tode rettete, war eine deutsche Frau nichtjüdischer Herkunft und nicht, wie auch Nelly Sachs selber glauben wollte, Selma Lagerlöf.

Das Volk der Nelly Sachs umfaßt alle Geschöpfe im äußersten Schmerz, vor dem seelischen Zusammenbruch, im Alter und im Sterben. Als Kind hatte sie aufgewühlt den langsamen Erstickungstod von Fischen mitangesehen. Sie studierte die im Bernstein eingeschlossenen Insekten und die unzähligen Fossilien im Kalkstein, und sie suchte nach den letzten Zuckungen der Körper.

Ihre Dichtung entstand erst, als sie selber alt wurde. Häufig war ihre seelische Gesundheit angegriffen. Sie glaubte sich von den Nazis buchstäblich verfolgt, auch nachdem deren Macht in Deutschland längst gebrochen war. Das muß als Bedingung ihrer stellvertretenden Dichtung begriffen werden. Viele Jahre hat sie in einer Anstalt verbracht, inmitten von Geistesgestörten und Alten; sie zählte auch diese zu ihrem Volk und schuf dort eine Reihe meisterlicher lyrischer Porträts des Alters, eines Rembrandts würdig.

In einem dieser Gedichte wird von einer alten Frau berichtet, die mit ihren Fingern eine Eisgrotte bemalt. Die Eisgrotte bedeutet die Kälte, die im sterbenden Körper um sich greift. Der sich noch bewegende Finger malt an die Wände der Grotte die singende Karte eines verborgenen Meeres.

In ihrer Jugend interessierte sich Nelly Sachs für die Mystik der Christen. In den dreißiger Jahren studierte sie die jüdische Mystik und las Bruchstücke aus dem mittelalterlichen "Sohar". Sie formte für sich einen Glauben, der die eigentliche Triebkraft ihrer späteren und größten Lyrik war: so in den Sammlungen "Und niemand weiß weiter", "Sternverdunklung", "Flucht und Verwandlung" und "Glühende Rätsel". Es ist ein Glaube ohne Dogmen, kaum in Worte zu fassen, mehr eine Richtung, oft nur eine stumme Bewegung.

Dieser Glaube enthält den Gedanken, daß Leiden und Tod einen Gewinn bedeuten können und daß es die Aufgabe des Dichters ist, mit dem Instrument der Sprache eine neue Wirklichkeit zu schaffen, einen neuen Zusammenhang des Lebens; was das Leben uns bietet, seien die Scherben einer großen zusammenhängenden Ordnung. Die Wunde sei ein Keim, der Wurzeln schlägt. In einem Gedicht heißt es, "die blutig gerissene Kieme des Fisches" sei vielleicht dazu bestimmt, "mit ihrem Rubinrot das Sternbild Marter zu ergänzen, den ersten Buchstaben der wortlosen Sprache zu schreiben".

Diese wortlose Sprache war es, die Nelly Sachs im Land des Sterbens und der Schreie suchte.

Nelly Sachs lebte, nachdem ihre Mutter starb, einsam und in einem einzigen Zimmer im Süden Stockholms. Nach großer Armut in den ersten Jahren kam dann der Ruhm, schließlich der Nobelpreis. Sie nahm ihn mit der Grazie einer Dame von Welt entgegen. Es sammelte sich ein Kreis schwedischer Freunde um sie, die sie ihre Schwester nannten und die sie liebten. Mit dem Altar wurde sie immer schöner, kleidete sich in Blau, schmückte ihr Zimmer mit Steinen, auf denen versteinerte Tiere ihre letzten Bewegungen im Leben gezeichnet hatten.

Sie war eine heroische Natur und gelangte in menschliche Zonen, die nur selten betreten werden. Die jüdische Katastrophe ist wahrscheinlich nur eine von vielen im Atomzeitalter. Der Massentod wird zum ständigen Begleiter unseres Geschlechts. Unter Schmerzen zu altern und zu zerschellen an einem Übermaß an Leid, wird eine Erfahrung für immer mehr Menschen. Das bedeutet, daß Nelly Sachs zu den Dichtern gehört, die wir in der Zukunft am allermeisten brauchen.

Für die ZEIT aus dem Schwedischen von Ute Fröhlich

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DICHTEN NACH AUSCHWITZ - 
NELLY SACHS ZUM 50. TODESTAG
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todesfuge - paul celan

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Die Geschichte eines Jahrhundertgedichts


Ein Buch über die „Todesfuge“ Paul Celans, der sich vor 50 Jahren das Leben nahm.

von Rolf Birkholz  in der NW

Ende der 50er Jahre hatte ein damals einflussreicher Kritiker die „Todesfuge“ wirklichkeitsferne „kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier“ genannt. Doch Paul Celan schwebte nicht über dem Boden, wenn er „Schwarze Milch der Frühe“ sah, wenn er „dann steigt ihr als Rauch in die Luft“ formulierte, „dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng“.

Dem 1920 im noch österreichisch-ungarisch geprägten rumänischen, heute zur Ukraine gehörenden Czernowitz geborenen Dichter, der seine Eltern in der Shoah verloren hatte und der sich vor 50 Jahren, wohl am 20. April 1970, in der Seine das Leben nahm, war dieses Gedicht eine Anklage an den Tod als „Meister aus Deutschland“ und ein bitter ernster Totengesang. „Auch meine Mutter hatte nur dieses Grab“, schreibt er angesichts jener Kritik an die befreundete Dichterin Ingeborg Bachmann.

In seinem Band „Todesfuge“ zeichnet Thomas Sparr die „Biographie eines Gedichts“ auf, jener 1945 erstmals in Bukarest gedruckten Verse, die heute als deutsches Grundgedicht nach dem Kulturbruch des „Dritten Reichs“ gelten dürfen. Es ist die Geschichte eines Gedichts, dessen Vortrag durch den Autor 1952 bei der legendären Gruppe 47 auf entlarvendes Missverständnis stieß, das später kanonisiert, nach Celans Ansicht schon „lesebuchreif gedroschen“, 1988 schließlich zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht von der Schauspielerin Ida Ehre im Bundestag rezitiert wurde.

„Die ’Todesfuge’ ist ein Störenfried der deutschen Literaturgeschichte“, stellt Sparr fest. „Den einen war sie zu schön, den anderen zu schlicht; mal wurde sie als Plagiat eingestuft, dann wieder als surrealistisch.“

Mit der wechselvollen Geschichte dieses Gedichts samt der Aufnahme in anderen Sprachkreisen skizziert Sparr aber auch das Leben Celans in vielen Facetten, sein gespanntes, gestörtes Verhältnis zu dem Land, mit dem ihn die Muttersprache verband, über dem er jedoch auch noch den Schatten jenes Meisters wahrnahm. Gerade indem es das objektiv aufbereitete Material zu dem Jahrhundertgedicht „Todesfuge“ eng mit der Existenz dieses Dichters verknüpft, erschließt das Buch ein gutes Stück weit die Welt, das Werk Paul Celans, das so hermetisch gar nicht ist, wie es oft scheint.

Text: Neue Westfälische, 20.04.2020, S.6 Kultur/Medien

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Todesfuge - Biographie eines Gedichts: Paul Celan 1920-1970 - Mit zahlreichen Abbildungen und Faksimiles
von Thomas Sparr - DVA

Zum Celan-Jahr 2020

Kein anderes Gedicht hat nach 1945 solche Berühmtheit erlangt wie Paul Celans »Todesfuge«. Entstanden unter dem unmittelbaren Eindruck der Ermordung seiner Eltern durch die Nationalsozialisten, gilt es als eines der frühesten literarischen Zeugnisse im Angesicht der Shoah. Thomas Sparr zeichnet die Geschichte dieses Gedichts nach, das wie kein zweites deutschsprachiges Werk in der Nachkriegszeit eine ganze Epoche ins Bild setzt und eine enorme, bis heute andauernde internationale Wirkungsgeschichte entfaltet. Er spannt den Bogen von seiner Entstehung über seine zunächst kontroverse Aufnahme in den 1950er Jahren bis hin zu den Literaten und Künstlern, die sich bis in unsere Tage davon inspirieren lassen. Seine Erzählung zeigt auch, dass das Gedicht auf besondere Weise die Biographie Celans birgt. Bedruckter Vorsatz, Lesebändchen, Abbildungen.

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Paul Celan


Todesfuge
1944/1945

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete

er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith

wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus  Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus
Deutschland  
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

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Immanuel Weißglas


ER
1944

Wir heben Gräber in die Luft und siedeln
Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.
Wir schaufeln fleißig, und die andern fiedeln,
Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort.

ER will, dass über diese Därme dreister
Der Bogen strenge wie sein Antlitz streicht:
Spielt sanft vom Tod, er ist ein deutscher Meister,
Der durch die Lande als ein Nebel schleicht.

Und wenn die Dämmrung blutig quillt am Abend,
Öffn’ ich nachzehrend den verbissnen Mund,
Ein Haus für alle in die Lüfte grabend:
Breit wie der Sarg, schmal wie die Todesstund.

ER spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet,
In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar.
Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet:
Da weit der Tod ein deutscher Meister war.

CLICK ON THE PICTURE

3Sat - Paul Celan zum 50. Todestag Die Erfahrung, als Jude den Holocaust überlebt zu haben und die Ermordung seiner Eltern, war für Paul Celan zentral. Zwischen den Lagern der deutschen Intellektuellen fand sich der Dichter nie zurecht.

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ja - dieses jahr 2020 ist "celan-jahr": in diesen tagen um den 18./19. april, vor 50 jahren, ertränkte sich paul celan in der seine bei paris - und am 23. november jährt sich sein geburtstag zum 100. mal. und deshalb gibt es eben eine ganz reihe von rezensionen, nachrufen und artikeln.

in der aufzählung aller relevanten neuerscheinungen zu paul celan, die hier vor ein paar tagen bereits aufgezählt und angekündigt wurden, kommt nun dieses buch hinzu: zur "todesfuge", dem wohl bekanntesten lyrischen werk celans.

wenn ich die "todesfuge" lese, habe ich immer schnurstracks die stimme celans im ohr, wie er es vorträgt (höre oben). und da beeindruckt mich immer dieser vers-duktus, dieser fast mechanisch maschinell abspulende rhythmus all dieses unsagbaren, all dieser lyrisch verpackten metapher für tod und verwesen und vergehen und verwehen...

und so hatte deutschland damals ja auch diese schnöden millionenfachen massenmorde an jüdischen, kranken, an tippelbrüdern, zwangsarbeitern, an homosexuell orientierten männern, "unnützen"  und nicht "(kriegs-)verwendungsfähigen" mitmenschen industriell und fast maschinell durchorganisiert in vernichtungsanstalten und kz's - mit gas, giftinjektionen und durch systematischen nahrungsentzug, vorher akribisch "wissenschaftlich" mit ärzten und laboren durchgetestet.

und dieser perfide massenmord lief als background-sound zum entfachten vom zaun gebrochenen krieg an vielen fronten einfach mit: im unbarmherzigen stakkato einer riesigen unsäglichen vernichtungsmaschinerie - und unterfütterte das kettenrasseln der panzer, den kanonendonner und die schusssalven und kampfhandlungen an den fronten.

wir erleben ja zur zeit in unserem lockdown in der coronakrise mit sicherheit nur einen hauch von bewegungseinschränkungen gegenüber damals, aber wir können uns ja vielleicht trotzdem in etwa hineinfühlen, wie sich ungewissheit anfühlt und plötzliche unberechenbare hereinbrechende bedrohung und tod - heutzutage zwar flankiert vom weltweiten überlebenskampf mit dem tödlichen virus, dem einsatz von wissenschaft und intensivpflege und atemschutz und beatmungsmaschinen und billionen und aber billionen an kapital, sowie einem täglichen bulletin für die allmählichen maßnahmen zur überwindung des ganzen - aber damals geschah vielfach das gegenteil, wenn "wissenschaft" und "ärzte" und "pflegepersonal", sowie die "ordnungskräfte" und die "wehrmacht" mitbeteiligt waren und hand anlegten zum massenhaften töten. damals gab es kein virtuell tödliches "virus" (seuchen und ansteckungen begleiteten den krieg erst in den allerletzten kriegsmonaten) - ja, es waren die menschen selbst, menschen wie du und ich, die sich aus weltanschaulichen, nationalistischen und falsch verstandenen erbgesundheits-"gesetzen" gegenseitig liqui-dierten - und mensch & leben waren ein nichts... 

paul celan's tod vor 50 jahren

»Etwas ist faul im Staate D-Mark«

Ein Briefwechsel und neue Bücher zu Paul Celan, der sich vor 50 Jahren in der Seine ertränkt hat 

von Iris Radisch | ZEIT-Feuilleton


Das genaue Todesdatum ist ebenso unbekannt wie der Ort des Todes. Nachdem die Leiche Paul Celans am 1. Mai 1970 zehn Kilometer westlich von Paris aus der Seine geborgen wurde, fand man in seiner Wohnung in der Avenue Émile Zola seine Hinterlassenschaft auf dem Tisch ordentlich aufgereiht, Armbanduhr, Brieftasche, Ausweise und die aufgeschlagene Hölderlin-Biografie von Wilhelm Michels mit einem wie zur Erklärung unterstrichenen Satz von Clemens Brentano: »Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens.« Im Taschenkalender stand am 19. April 1970 die Eintragung »départ Paul«, Abfahrt Paul. Vermutlich ist Celan in der Nacht vom 19. auf den 20. April vom Pont Mirabeau aus in die Seine gegangen. »Er hat sich«, schreibt seine getrennt von ihm lebende Ehefrau Gisèle de Lestrange am 10. Mai an Celans ehemalige Geliebte Ingeborg Bachmann, »den einsamsten und anonymsten Tod ausgesucht.«


Paul Celan - swr.de



Der einsame und anonyme Tod des am 23. November 1920 geborenen Dichters aus der Bukowina wird in der Literaturgeschichte als eine Spätfolge der Shoah verbucht. Paul Antschel, wie er damals noch hieß, überlebte die Judenverfolgung in seiner Heimatstadt Czernowitz (bis 1918 habsburgisch, dann rumänisch, später sowjetisch, heute ukrainisch). Doch seine Eltern wurden in den Vernichtungslagern ermordet. Über Bukarest und Wien, wo er Ingeborg Bachmann kennenlernte, kam er 1948 völlig unbekannt und mittellos nach Paris. Vier Jahre später las er zum ersten Mal vor der Gruppe 47, veröffentlichte seinen Gedichtband Mohn und Gedächtnis und heiratete die 25-jährige Tochter des Marquis und der Marquise de Lestrange. Die Familie logiert im großbürgerlichen 16. Pariser Arrondissement in der Rue de Longchamps. Der Überlebende aus der für immer verlorenen Welt des vielsprachigen osteuropäischen Kulturjudentums hat einen rasanten Aufstieg bewältigt und gilt sehr schnell als der bedeutendste Dichter der deutschen Nachkriegsliteratur – als der bis heute einzige, dessen Gedichte dem Unaussprechlichen der Shoah angemessen sind. Er ist im engen freundschaftlichen Austausch mit den namhaftesten deutschsprachigen Kolleginnen und Kollegen seiner Generation, mit Heinrich Böll, Günter Grass, Hermann Lenz, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Marie Luise Kaschnitz, Nelly Sachs, Walter Jens und Peter Szondi. Und doch konnte eine vergleichsweise banale Literaturintrige sein Leben zerstören: eine Plagiatsanschuldigung durch die Witwe des deutsch-französischen Lyrikers Ivan Goll, mit dem Celan sich kurz nach seiner Ankunft in Paris angefreundet hatte.

Von der im deutschen Feuilleton der 1960er-Jahre hingebungsvoll debattierten Plagiatsaffäre zwischen zwei bedeutenden deutschsprachigen jüdischen Dichtern aus Paris blieben am Ende nicht mehr als zwei seltsam verwandte Verszeilen übrig (Goll 1953: »Die Eber mit dem magischen Dreieckskopf / Sie stampfen durch meine faulenden Träume«; Celan 1954: »In Gestalt eines Ebers / stampft dein Traum durch die Wälder am Rande des Abends«). Alle darüber hinausgehenden Plagiatsvorwürfe ließen sich durch einen simplen Blick auf die Publikationsdaten vom Tisch wischen. Die Redakteure und deren Mitarbeiter, die die Affäre befeuert hatten, entschuldigten sich für ihre ungeprüften Behauptungen.

Doch Celan war unheilbar verletzt. Die in deutschen Blättern ausgebreiteten Zweifel an seiner künstlerischen Integrität erlebte er wie neuerliche »Hitlerei«. Er war auch tief gekränkt vom salbadernden Ton der alten Kritikergeneration der Günter Blöcker und Hans Egon Holthusen, die seine Gedichte wegen ihrer magischen Dunkelheit in den Herrgottswinkel reiner, also auch wirklichkeitsbereinigter Poesie im Stil der Surrealisten oder der hermetischen Dichter Stéphane Mallarmé und Stefan George abschoben – und damit ihren Bezug zur Shoah leugneten. Solche Deutungen hielt er für bequeme Schöngeisterei und im Fall seiner Todesfuge – seiner grausam schönen Totenklage um die Opfer des Holocausts – für eine Schändung des Grabes seiner Mutter. An Walter Jens, der ihn in der ZEIT gegen die Plagiatsbeschuldigungen der Witwe Goll enthusiastisch verteidigte, schrieb er: »Das ›Grab in der Luft‹ – lieber Walter Jens, das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott weder Entlehnung noch Metapher.« Wer an der Zeugenschaft und am unmittelbaren Wahrheitsethos eines solchen Gedichtes zweifelte, rückte für ihn in die Nähe eines literarischen Holocaust-Leugners.

Im Februar 1970, zwei Monate vor seinem Tod in der Seine, tauchte jedoch plötzlich ein angeblich aus dem Jahr 1944 stammendes Gedicht seines Czernowitzer Schulfreundes Immanuel Weißglas auf, das ausgerechnet die eindringlichen Sprachbilder der 1945 entstandenen Todesfuge noch ganz ungelenk und wie im Rohentwurf vorwegzunehmen schien (das Grab in der Luft, der Gräber schaufelnde, tanzende und fiedelnde Chor der jüdischen Opfer, der Tod als deutscher Meister, der im Haus mit den Schlangen spielt, das Haar von Gretchen, das Grab in den Wolken, das nicht eng ist). Eine Neuauflage der Diskussion um Entstehungsdaten, Entlehnungen und Zeugenschaft wollte Celan womöglich nicht mehr erleben. Sie hat auch nicht mehr stattgefunden.

Celans deutsche und österreichische Schriftstellerfreunde haben die traumatisierende Dimension der Plagiatsaffäre nicht nachempfinden können. Ich erinnere mich daran, wie Günter Grass noch in den Neunzigerjahren über die Überempfindlichkeit seines Pariser Freundes scherzte, der ganze Nachmittage niedergestreckt und unfähig zu sprechen auf dem Sofa vegetiert haben soll, in der ausgestreckten Hand die Zeitungsseiten, die von der Goll-Affäre handelten.

In dem Band mit annähernd 700 Briefen aus den Jahren 1934 bis 1970 (davon 330 bisher unpubliziert), der zum Celan-Jubiläum erschienen ist, lässt sich seine wachsende Vereinsamung verfolgen. In seinem letzten Lebensjahrzehnt bricht er mit sämtlichen nicht-jüdischen deutschen und österreichischen Freunden, nachdem sie für ihn in die Liga des »Hitler-Nachwuchses« wechselten – auch Günter Grass setzt er wegen dessen »kleinen und großen Verlogenheiten, vermehrt um die mittlerweile noch höher ins Kraut geschossene Selbstgefälligkeit« schon Anfang der 1960er-Jahre vor die Tür. »Ich werde, wenn’s drauf ankommt, an allen Fronten Krieg führen, und wenn auch nur eine Handvoll Menschen dabei zu mir stehen«, schreibt er an den Wiener Freund Klaus Demus, bevor auch dieser in Ungnade fällt. In seiner Not wendet er sich an die Weltstars der Literatur: Jean-Paul Sartre möge den jüdischen Dichter vor dem deutschen »Nazismus« retten; Jean Starobinski möge ihm einen jüdischen Arzt schicken; an Adorno ergeht der Hilferuf: »Etwas ist faul im Staate D-Mark.« Doch schickt er die Briefe nicht mehr ab. Nach einem Mordversuch an seiner Frau und einem Suizidversuch verbringt Celan in den 1960er-Jahren viele Wochen und Monate in psychiatrischen Anstalten.

Es ist wenig verwunderlich, dass die Bücher über Celan, die im Jubiläumsjahr in großer Zahl erscheinen, sich ausnahmslos mit der tragischen Hassliebe des Dichters zu Deutschland beschäftigen. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich untersucht die Zerrissenheit eines Dichters, dessen Muttersprache zur Mördersprache wurde. Sein Buch ist vorläufig der beste Ersatz für die noch immer ausstehende maßgebliche Celan-Biografie, auf die man im Jubiläumsjahr vergeblich gewartet hat. Der Autor und Literaturkritiker Hans-Peter Kunisch stürzt sich in das halsbrecherische Unternehmen, Celans insgesamt drei Treffen mit Martin Heidegger in Freiburg und auf der Philosophenhütte in Todtnauberg semiliterarisch nachzuerzählen, weshalb man in seinem Buch allerhand Spekulationen über Ereignisse aufgetischt bekommt, die sich möglicherweise ganz anders zugetragen haben. Es kann ja schließlich niemand wissen, ob Heidegger wirklich auf »eine vertrackte Weise gerührt war über sich und diesen jüdischen Dichter«, der von ihm ein klärendes Wort verlangte über sein philosophisches Edel-Nazitum. Angeblich, schreibt Kunisch, habe Celan, nachdem der deutsche Philosoph auf die Zusendung seines Gedichts Todtnauberg phrasenhaft reagiert habe, von diesem »gar nichts mehr erwartet«. Das ist aber nur unbeweisbares Literaturgeschichtskino.

Auch passt es nicht zu den verbürgten Erlebnissen, von denen der ehemalige Suhrkamp-Lektor Klaus Reichert als letzter lebender Zeitzeuge in seinem Erinnerungsbuch über den Dichter erzählt. Der habe ihn unmittelbar nach dem zweiten Treffen mit Heidegger in Frankfurt besucht und einen Abend lang über das Amt des Dichters monologisiert, »schwärmerisch getragen von den Sympathien, die er in Freiburg erfahren habe«.

Helmut Böttiger beschäftigt sich in seinem mittlerweile dritten Buch über Celan ebenfalls ausgiebig mit dessen Heidegger-Verehrung. Beide verbindet eine hohe, an Hölderlin maßnehmende Auffassung deutscher Dichtung, jenseits des nüchternen Tagesgeschäfts, mit dem sich Celans Auffassung nach die fortschrittlichen Kollegen von der Gruppe 47 abgaben. Aus dem Traum von einer gemeinsamen deutschen Überlieferung, das zeigt Böttiger sehr überzeugend, nährt sich Celans Missverständnis, im Kreis des über den Holocaust beharrlich schweigenden Schwarzwälder Kulturkonservatismus besser aufgehoben zu sein als an der Seite der kritischen deutschen Autoren, die der Dichter in völliger Verkehrung aller Proportionen für seine eigentlichen Feinde hält.

Es ist bewegend, zu sehen, wie Celan bis zuletzt um die deutsche Kultur und die Anerkennung durch die alte deutsche Kulturelite kämpft. Noch drei Wochen vor seinem Tod liest er Heidegger in Freiburg seine späten Gedichte vor. Aus diesen späten Gedichten ist die rauschhafte Musikalität seiner Anfänge verschwunden. Sie sind von grandioser Trostlosigkeit, Verse wie Karstlandschaften, wie Steinwüsten, nah am Verstummen und stolz in der Würde des Scheiterns. Man muss sie noch immer lesen. Besser noch auswendig lernen. Ob ihr unwiderstehlicher Zauber die deutschen Zuhörer erreicht hat? Heidegger soll aufmerksam zugehört haben.

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Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen; Wallstein Verlag, Göttingen 2020; 400 S., 24,– €, als E-Book 18,99 €

Hans-Peter Kunisch: Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung; dtv, München 2020; 352 S., 24,– €, als E-Book 16,99 €

Helmut Böttiger: Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist; Galiani-Berlin, Köln 2020; 208 S., 20,– €, als E-Book 16,99 €

Klaus Reichert: Paul Celan – Erinnerungen und Briefe. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020; 297 S., 28,– € (erscheint erst im Juni)

Paul Celan: »etwas ganz und gar Persönliches« Briefe 1934–1970; Suhrkamp Verlag, Berlin 2019; 1286 S., 78,– €

Foto: Hans Müller/Insel Verlag
Paul Celan (re.) und Ingeborg Bachmann 1952 beim Treffen der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee

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fast möchte man ja zumindest denken: wie gut, dass paul celan die tatsächlichen braunfärbungen in der gesellschaftlichen atmosphäre dann im "wiedervereinten" deutschland ab 1990 gar nicht mehr erlebt hat: 

  • beispielsweise die rechtsradikalen ausschreitungen gegen ausländer in rostock-lichtenhagen, 
  • die kette der nsu-morde über jahre hinweg, mit ihren seltsamen verstrickungen bis in verfassungsschutzkreise - mit "versehentlichen" aktenvernichtungen im schredder und verschluss-bestimmungen von akten für die nächsten 120 jahre und der immer noch ausstehenden urteilsbegründung des nsu-prozesses seitens des gerichts, für die es 93 wochen zeit hat, die aber ende april 2020 enden, und vorher ist das urteil gegen frau zschäpe immer noch nicht rechtskräftig... - 
  • die rechtslastigen demos in chemnitz und die stellungnahmen des obersten verfassungsschützers maaßen dazu, 
  • die rechtsterroristischen morde in kassel, in halle und hanau u.a., 
  • das aufkommen der pegida-aktivitäten und 
  • die wahlergebnisse der afd - und 
  • die erklärung des afd-vorsitzenden gauland, der nationalsozialismus von 1933-1945 sei nur ein "vogelschiss" in der deutschen geschichte gewesen - 
  • die späte offenbarung seiner waffen-ss-mitgliedschaft vom dichter-kollegen günter grass, den celan aber bereits für sich "wegen dessen »kleinen und großen Verlogenheiten, vermehrt um die mittlerweile noch höher ins Kraut geschossene Selbstgefälligkeit« schon Anfang der 1960er-Jahre" vor die Tür gesetzt hatte;

celan war ein äußerst empfindsamer und zuletzt einsamer mensch, der all diese entwicklungen wahrscheinlich ahnte und in sich aufkommen sah, und der bereits in den plagiats-vorwürfen gegen seine zeilen immer eine wiederaufkommende "hitlerei" vermutete.

okay - manches dieser ängste war sicherlich unbegründet und reines misstrauen und künstlerischer "minderwertigkeitskomplex".
und celan's vergeistigte metaphern verklärten für so knallharte realisten sicherlich die "tatsächliche" wirklichkeit (rudolf augsteins credo im "spiegel" lautet ja zum beispiel: "schreiben, was ist"...)

aber lyrik ist ja in erster linie wohl immer auch ein umwandeln und schwelgen und durchdringen und die "dinge" auf einen erträumten und sinnierten punkt bringen.
lyrik ist ja keine zustands-reportage, sondern umflort ja die gemüts- und gefühlslage zu einem realen ereignis oder einer zeitstimmung, die "mitschwingt".

aber celans lyrik, die er zur "shoah" z.b. in der "todesfuge" fand, gilt immer noch als die bis heute einzige, die dem unaussprechlichen vielleicht in etwa angemessen scheint - und das unfassbare überhaupt tastend metaphernd zur sprache bringt.

und vor allen dingen anselm kiefer hat zu einzelnen versen und zeilen aus diesen dichtungen celans dann immer wieder große bildwerke geschaffen, und sie sowohl in tel aviv oder auch in jerusalem ausgestellt, die großen anklang fanden.

celan stellte sich mit seinem misstrauen und seinen eigenbrötlerischen elementen auch von der gruppe 47 rasch ins abseits und verkarstete auch künstlerisch-dichterisch, zumindest wurde seine sprache "grandios trostlos" und verlor "ihre rauschhafte musikalität". 

seinen kampf um die breite anerkennung seiner lyrik hat ihm alle kraft genommen, er schlittert sogar für wochen und monate mehrere male in die psychiatrie, wobei sich die traumatisch-faktischen jugenderinnerungen und das ästhetische dichterische fühlen und empfinden eine ungute mixtur ergaben, für die er kein "meta"-navi fand, das ihn aus diesem nach unten ziehenden sog befreite und wonach er sich hätte orientieren können.

den satz von brentano, den celan unterstrichen auf dem tisch zurückließ, ehe er im seine-wasser unterging, lautete ja auch:

»Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens.«

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Paul Celan


Todesfuge
1944/1945

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete

er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith

wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus  Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus
Deutschland  
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

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Immanuel Weißglas


ER
1944

Wir heben Gräber in die Luft und siedeln
Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.
Wir schaufeln fleißig, und die andern fiedeln,
Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort.

ER will, dass über diese Därme dreister
Der Bogen strenge wie sein Antlitz streicht:
Spielt sanft vom Tod, er ist ein deutscher Meister,
Der durch die Lande als ein Nebel schleicht.

Und wenn die Dämmrung blutig quillt am Abend,
Öffn’ ich nachzehrend den verbissnen Mund,
Ein Haus für alle in die Lüfte grabend:
Breit wie der Sarg, schmal wie die Todesstund.

ER spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet,
In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar.
Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet:
Da weit der Tod ein deutscher Meister war.

NACHT & NEBEL - der erste Holocaust-Film nach dem Krieg - Frankreich 1956

In einem Interview von Elisabeth von Thadden mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer in der neuen ZEIT mit dem Titel: »Ich glaube eh nicht an die Apokalypse« hieß die Frage 2:

Welcher politische Moment hat Sie geprägt – außer dem Kniefall von Willy Brandt am Warschauer Ghetto?

Welzer: Ein Film war für mich dieser prägende politische Moment: Als Schüler, im Alter von etwa 13 Jahren, habe ich den Film »Nacht und Nebel« gesehen, von Alain Resnais, mit dem Kommentar von Paul Celan


click here - bitte die bildqualität entschuldigen


Von wegen also: Wir haben nichts gewusst - dieser Film wurde bereits 1955 abgedreht und 1956 veröffentlicht - und der deutschen Kommentator war Paul Celan.

Die Bundesregierung war bei einer geplanten Teilnahme des Films an den Filmfestspielen in Cannes als französischer Beitrag "not amused". Frankreich hat daraufhin auf diese Nominierung  gänzlich verzichtet... - Aber dazu: klick hier