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Am Ende waren sie wie verwandelt. Woodstock-Spirit



 Tom Law lebte in Amerikas erster Hippiekommune. In Woodstock brachte er Hunderttausenden Yoga bei, erlebte aber auch dramatische Festivalmomente. 

Von Philipp Oehmke | SPIEGEL+


Vor 50 Jahren war Tom Law ein 29-jähriger Hippie, er ist auf einer der berühmtesten Woodstock-Fotografien zu sehen, wie er seine kleine Tochter durch das Festivalgelände trägt. Heute ist er 79 Jahre alt und lebt in einer kleinen Wohnung auf Manhattans Upper West Side. Law war eine der prägenden Hintergrundfiguren der Sechziger, von der Folk-Ära in New Yorks Greenwich Village in den frühen Sechzigern bis zu Woodstock 1969 war er dort, wo Bahnbrechendes geschah. Die Tage um das Woodstock-Jubiläum herum sind auch für ihn eine aufrührende Zeit. Über einige der Dinge von damals spricht er zum ersten Mal seit Längerem.

SPIEGEL: Mr. Law, erinnern Sie sich noch an die Situation, als dieses Foto vor 50 Jahren aufgenommen wurde?

Law: Nicht genau. Ich war ja schon einige Wochen vor Beginn des Festivals in Woodstock. Ich halte meine Tochter Pilar im Arm. Sie muss damals zwei gewesen sein. Wahrscheinlich war das schon während des Festivals. Meine damalige Frau, Pilars Mutter, war für ein paar Tage nach New York gefahren, um Riesenmengen an Verpflegung zu besorgen. Ich habe mich derweil um Pilar gekümmert. Möglicherweise ist das Foto während dieser Zeit entstanden.

SPIEGEL: Sie hatten Ihre zweijährige 
Tochter die ganze Zeit bei Woodstock dabei? - Law: Ja, klar.
SPIEGEL: Sie hatten Ihre zweijährige Tochter die ganze Zeit bei Woodstock dabei?

Law: Ja, klar.

Tom Law
privat

SPIEGEL: Aber Sie waren ja dort, um zu arbeiten. Wer hat sich um das Kind gekümmert in all dem Chaos?

Law: Wir waren ja mit einer Kommune da. Mit der Hog Farm. Wir sind mit mehr als 80 Leuten nach Woodstock aus den Bergen in New Mexico gekommen, wo die Hog Farm zu der Zeit ihren Sitz hatte. Da waren auch andere Kinder. Irgendjemand passte immer auf. Wir hatten mit der Hog Farm unseren eigenen Bereich auf dem Festivalgelände und auch eine eigene Bühne für Kinder. Da kam sogar Joan Baez und sang.

SPIEGEL: Was sollten Sie denn in Woodstock tun?

Law: Soweit ich das verstanden habe, sollten wir die Festivalwiese in eine Art kleine Stadt verwandeln, mit Wegen, Bühnen, Fluchtrouten und so weiter. Wir wollten eine Volksküche betreiben und uns Konflikten und Stress aller Art annehmen.

SPIEGEL: Das alles konnten Sie?

Law: Wir waren richtig gut darin. Wir waren als Kommune darin geschult.

SPIEGEL: Sie sind dann in New Mexico in Ihre Busse gestiegen und sind 3000 Kilometer nach Woodstock gefahren?

Law: Nein. Dafür war keine Zeit mehr. Die Organisatoren haben einen American-Airlines-Jet geschickt, der uns abholte.

SPIEGEL: Oh, nicht sehr hippiemäßig.

Law: Es war auch so, dass wir zunächst nicht unbedingt begeistert waren von der Woodstock-Sache. Wir wurden bezahlt, 8000 Dollar, glaube ich, was heute wohl rund 55.000 entspräche, auch etwas, das uns sehr selten passierte. Aber als die aus Woodstock dann den Jet geschickt haben, waren alle begeistert. Als wir am New Yorker JFK-Flughafen landeten, erwartete uns ein Haufen Reporter. Es gab das Gerücht, wir wären die Security, was für alle ein absurder Gedanke war, wenn man unsere Truppe so sah. Aber wir spielten natürlich mit. Ich steckte mir die Flugzeugkopfhörer in die Ohren und sprach in das andere Ende hinein. Als wäre ich ein Personenschützer.

SPIEGEL: Das wurde Ihnen abgenommen?

Law: Ja. Wir sagten, wir seien nicht die "Police Force", sondern die "Please Force". Wavy Gravy, der Gründer der Hog Farm, den ich schon seit Anfang der Sechziger aus den Klubs im Greenwich Village gekannt hatte, gab richtige Interviews als Securitychef. Was sein Sicherheitskonzept sei, wurde er gefragt: "Sahnetorte und Mineralwasserflaschen", war seine Antwort. Das waren Clown-Utensilien, die Reporter schrieben alles mit.

SPIEGEL: Spätestens als Sie beim Festivalgelände in Bethel ankamen, muss die Realität Sie eingeholt haben. In den Wochen vorher war man dort hoffnungslos hinter dem Zeitplan.

Law: So war es. Als wir dort ankamen, wurde mir klar: Oh, scheiße, wir haben ziemlich viel zu tun. Also überlegte ich mir, dass ich alle jeden Morgen wecken müsste. Ich hatte eine tibetische Glocke, damit rannte ich umher und rief alle zusammen. Wir machten dann ein paar kräftige Yogaübungen zusammen und begannen mit der Arbeit. Ich baute zwei Tipis auf, in dem einem schlief ich, das andere war die "Please"-Station.


Tom Law, Mitglied der "Hog Farm" (eine bis heute aktive Hippie-Gemeinschaft) und Schüler von Yogi Bhajan, erklärt den Teilnehmern des epischen Woodstock-Konzerts die Grundlage des Kundalini Yoga: Es besteht kein Grund, sich selbst zu zerstören Substanzen, die von außen aufgenommen werden, genügen, um "nur" die latente Energie zu wecken, um ein vollständiges Leben zu führen, lebendig und in Harmonie mit sich selbst und anderen. - Aus "Woodstock, 3 Tage Frieden & Musik" - Italienische Untertitel: Sadhu Singh - Übersetzung und Bearbeitung: Nimrita Kaur und Sujan Singh

(automatisch übersetzte Unterschrift im YouTube-Video von Yogajap - hochgeladen am 02.12.2014)


SPIEGEL: Yogaübungen? Heute ja normal in jedem Boutiquehotel, aber relativ unüblich für 1969, oder?

Law: Ich hatte ein paar Jahre zuvor einen Sikh kennengelernt, der mir ein paar Atemübungen und simple Yogastellungen beigebracht hatte. Wir fanden schnell heraus, dass vor allem diese Atemübungen ein einfacher Weg waren, ohne Drogen high zu werden. Sie zentrieren deinen Geist und verändern dein Bewusstsein. Das funktioniert immer und bei jedem und vor allem schnell. Ich könnte mit Ihnen innerhalb von drei Minuten ein paar Übungen durchmachen und Sie dadurch in einen anderen Zustand versetzen.

SPIEGEL: Später.

Law: Als das Festival begann, bot es sich jedenfalls an, ein paar Übungen von der Bühne aus vorzumachen, während die Hunderttausenden warteten, dass die Musik endlich losging. Also erzählte ich ihnen ein bisschen was über das Ganzheitskonzept, Energiefelder und wie sie durch Atmen high werden könnten. Ich ließ sie sich gerade hinsetzen, die Arme heben, einatmen und ausatmen. Einfach ein paar Übungen zusammen machen. Das ergab dann ein ziemlich phänomenales Bild. Es sah aus wie in China. In der westlichen Welt sind wir Bilder von Menschenmengen, die sich gemeinsam bewegen, nicht gewohnt. Das löste dann eine ziemliche Welle aus, auch weil es in dem Woodstock-Dokumentarfilm gezeigt wurde. Leute, die mich da gehört hatten, sind danach deswegen nach Indien gefahren und kamen erst vier Jahre später wieder. Und so verbreitete sich Kundaliniyoga in den USA. Während des Festivals aber war es nur einer der Wege, die vielen Menschen in den unterschiedlichen schwierigen Situationen, die auftraten, bei Laune zu halten.

SPIEGEL: Wie war das überhaupt, als nach ein paar Wochen Vorbereitung schließlich das Publikum kam? Waren Sie fertig geworden?

Law: Nein. Als die Leute auftauchten, war sofort klar: Es gibt keine Möglichkeit, die irgendwie in geregelte Bahnen zu lenken. Wir hatten die Zäune und Einlässe noch gar nicht fertig. Aber es waren schon Leute mit Kameras da, die alles filmten. Wavy und ich konnten später nicht mehr klären, wer von uns beiden mit diesem Satz kam, aber er traf den Nagel auf den Kopf. Wir haben zu den Veranstaltern gesagt: "Wollt ihr einen guten oder einen schlechten Film? Wenn ihr einen guten wollt, vergesst die Tickets und macht dies zu einem kostenlosen Konzert."

SPIEGEL: Wahrscheinlich eine der wichtigsten Entscheidungen Ihres Lebens.

Law: Es war letztlich nicht meine Entscheidung. Das mussten die Veranstalter entscheiden. Für sie bedeutete die Entscheidung einen katastrophalen finanziellen Verlust, mit dem sie die nächsten zehn Jahre zu tun hatten.

SPIEGEL: Also plötzlich waren Hunderttausende Menschen da. Was machten Sie?

Law: Sie waren ja nicht plötzlich da. Sie kamen über Tage verteilt, das fing schon Tage vor dem Festival an, ein konstanter Strom. Ich hatte ein Walkie-Talkie, und immer wenn irgendein Mist passierte, bin ich dahin und habe mich drum gekümmert. Die meisten Sachen waren ziemlich simpel. Aber es gab auch Tragödien.

SPIEGEL: Welche?

Law: Gleich am Morgen des zweiten Festivaltags starb dieser Junge in meinen Armen. Er hatte sich unter einen Jauchewagen zum Schlafen gelegt. In dem Jauchewagen wurden die ganzen Exkremente der portablen Toiletten gesammelt. Ein Bauer kam, kuppelte seinen Traktor an den Jauchewagen und fuhr los. Der Junge war 16 oder 17, kam aus New Jersey, glaube ich. Sie riefen mich, ich war in der Nähe, er lag hinter der Bühne auf halber Höhe den Hügel hoch. Er lag da und bebte und krümmte sich. Ich sah sofort, das sah nicht gut aus. Ich hielt seinen Kopf und sagte: "Man, take it easy. Hilfe ist auf dem Weg." Er blutete nicht, aber seine Brust war zerdrückt. Als der Krankenwagen kam, war er schon tot. Komplett dumme, überflüssige Sache. Der Bauer hatte einfach nicht geguckt. Das war eine ziemlich harte Sache.

SPIEGEL: Warum hat man Sie gerufen?

Law: Ich konnte mit Menschen umgehen. Wir waren mit der Hog Farm sehr gut darin, große Menschenmengen zu handeln. Und da wir in der Kommune alles selbst machten, konnten wir die meisten Probleme lösen. Ich wusste außerdem viel über Chiropraktik und chinesische Medizin. Es gibt ein paar chiropraktische Griffe, die funktionieren immer. Einen musste ich während des Festivals bei mir selbst anwenden, nachdem ich mir komplett den Nacken ausgerenkt hatte.

SPIEGEL: Wie ist das passiert?

Law: Da war ein Typ auf LSD und Speed oder so, der dachte, er sei Gott. Es muss am zweiten Tag gewesen sein. Zur Bühne führte ein Bündel aus dicken Stromkabeln, es lief über eine kleine Brücke, die wir gebaut hatten, drei bis vier Meter über der Straße. Der Typ hing zwischen den Kabeln und rief: "I am something!" Er war völlig drüber, komplett verstrahlt. In der Nähe stand ein Transporter, den habe ich unter die Brücke fahren lassen. Ich bin zu ihm hochgeklettert und habe versucht, ihn aus diesen Kabeln rauszukriegen, er war kurz davor, sich selbst unter Strom zu setzen. Ich sagte ihm: "Oh! Du bist der Allmächtige! Du bist Gott. Wir brauchen dich da unten, du musst runterkommen und zu den Menschen sprechen!" Ich hing unter ihm und versuchte ihn da rauszukriegen, wir hingen vielleicht knapp zwei Meter über dem Dach des Transporters. Er guckte mich an: "Nein, ich bin hier oben hingeschickt worden und kann hier nicht weg." Da habe ich seine Hände von den Kabeln abgeschält. Und dann stürzten wir beide rückwärts auf das Dach des Transporters. Ich landete auf dem Rücken, er auf mir drauf. Das Dach hatte eine ziemliche Beule. Wir haben ihn dann in eins der Trip-Zelte geschickt. Ich hatte mir den Nacken ausgerenkt und begab mich ins eins der medizinischen Zelte.

SPIEGEL: Sie sagten, Sie hätten sich den Nacken selbst wieder eingerenkt.

Law: Ich bin zu einem der Ärzte gegangen, mit denen ich da immer wieder zusammengearbeitet habe, und habe gesagt: "Ich nehme jetzt ein Handtuch, binde es fest um meinen Kopf, hinten am Nacken, vorn an der Stirn, lege mich hin, und dann wirst du meinen Kopf an dem Handtuch nach oben reißen." Er sagte, dass er das auf keinen Fall tun werde. Ich sagte ihm, dass ich genau wisse, was ich da tue, und er solle es einfach machen. Er tat’s, und es funktionierte. Ich stand auf und konnte weiterarbeiten.

SPIEGEL: Und was passierte mit dem Mann, der sich für Gott hielt, im Trip-Zelt?

Law: Wir hatten das schon beim Monterey Pop Festival ausprobiert. Ich hatte da ein Tipi aufgebaut, als Trip-Center sozusagen. Jeder, dem es nicht gut ging nach schlechtem oder zu viel LSD, jeder der einen "Bad Trip" durchmachte, konnte dahin kommen und bekam Hilfe. Wir hatten damit viel Erfahrung, denn wir hatten ja schon jahrelang Ken Kesey bei seinen "Acid Tests" unterstützt.

SPIEGEL: Und wie hilft man den Leuten?

Law: Die Idee war, dass man kurz die Aufmerksamkeit des Betreffenden bekam, zu ihm oder ihr vordrang, mit Ruhe und einfachen Fragen sowie der Versicherung, dass alles wieder normal werde. Dabei half natürlich, wenn derjenige merkte, dass man selbst Erfahrung mit LSD oder Ähnlichem hatte. Und wenn man sie kurz hatte, gab man ihnen eine Aufgabe. Ich suchte dann jemanden, dem es noch schlechter ging, und sagte: "Guck mal, das Mädchen da vorn, das warst du noch vor ein paar Stunden, sie braucht Hilfe. Geh zu ihr, und hol sie zurück in die Welt." Und durch die Aufgabe wurden sie verantwortungsbewusst, und es ging ihnen besser. So half jeder jedem. Diese Idee des Zusammenarbeitens hat das ganze Festival durchzogen.

SPIEGEL: Haben Sie in den drei Tagen mal geschlafen?

Law: Ich muss zugeben, dass ich Samstagnacht das Festival kurz verlassen habe. Albert Grossman, Manager von unter anderem Bob Dylan und ein guter alter Freund von mir, bot mir an, mit zu ihm nach Hause zu kommen. Er lebte in Woodstock, also 100 Kilometer entfernt. Sie wissen ja, das Woodstock-Festival fand nicht in Woodstock selbst statt. Ich war ziemlich fertig zu dem Zeitpunkt. Also nahmen wir einen Helikopter vom Festival zu einem kleinen Flugfeld in der Nähe und flogen mit einer Propellermaschine rüber nach Woodstock. Ich nahm ein Bad, schlief ein paar Stunden und war Sonntagmorgen wieder auf dem Festival. Gerade rechtzeitig zum Gewitter.

SPIEGEL: Wie schlimm war das Gewitter?

Law: Es war ein Sturmgewitter. Auch hier haben alle Beteiligten unglaublich gut reagiert, um die Gefahren maximal einzudämmen.

SPIEGEL: War es denn so gefährlich?

Law: Er war gefährlich. Wir hatten eine Menge Strom, der auf die Bühne floss. Da gingen Millionen Volt in das Bühnenequipment und in die Verstärkertürme. Das musste sofort abgedeckt und vor dem Regen geschützt werden. Wir waren relativ gut vorbereitet. Wir hatten viele Plastikplanen, die sofort einsatzbereit waren. Und es gelang, sehr schnell alle Leute von der Bühne zu kriegen, die dort nicht unbedingt arbeiten mussten. Deswegen fand ich Leute wie Country Joe McDonald, die auf die Bühne kamen und die berühmten "No Rain"-Gesänge anfingen, ein bisschen albern. Das war unnötig gefährlich, und außerdem sind die keine Hopi-Indianer.

SPIEGEL: Der Securitychef Wes Pomeroy, ein ehemaliger Sicherheitsexperte der US-Regierung, hat später gesagt, die Frage, ob man das Festival laufen lässt oder angesichts des Gewittersturms abbricht, sei die kritischste Entscheidung in den drei Tagen gewesen.

Law: Ja. Wes hat schließlich entschieden, dass unter großen Vorsichtsmaßnahmen das Festival weiterlaufen kann. Das war auch richtig. Ein Abbruch bei dem Wetter hätte unvorhersehbare Folgen gehabt. Wes, ein großartiger Typ, passte eigentlich nicht zu den Woodstock-Leuten, weil er ein klassischer Mann aus dem Sicherheitsapparat war, der vorher Republikanische Parteitage beschützt hatte. Ich kam mit ihm besonders gut klar, weil mein Vater Detective beim Los Angeles County Sheriff‘s Department in Hollywood war.

SPIEGEL: Kam Ihr Vater damit klar, dass Sie Hippie wurden?

Law: Das hat er nicht mehr erlebt. Er starb, als ich 13 war. Aber als Kind bin ich nur unter Polizisten aufgewachsen. Ich wusste genau, wie sie redeten und tickten. Die Welt, in der ich in den Vierzigerjahren in Hollywood aufwuchs, war wie in einem Roman von Raymond Chandler oder dem Film "L.A. Confidential". Meine Erfahrung und Vertrautheit mit Cops haben mir später oft geholfen, auch in der Kommune, wo immer mal wieder die Polizei anrückte, und natürlich auch in Woodstock.

SPIEGEL: Sie wuchsen dann bei Ihrer Mutter auf?

Law: Unsere Mutter verließ meinen Bruder und mich bald nach dem Tod des Vaters. Sie zog nach Hawaii mit ihrer Mutter

SPIEGEL: Wieso das?

Law: Sie war Schauspielerin, doch mit der Depression in den Dreißigern endeten ihre Engagements. Seitdem war sie ein gebrochener Geist.

SPIEGEL: Wie ging es weiter für Sie und Ihren Bruder?

Law: Wir schlugen uns durch. Mein Bruder war da schon Schauspieler, ein Kinderstar. Und auch ich hatte im Alter von fünf bis zwölf als Kinderschauspieler und Statist gearbeitet. Wir lebten im Haus unseres verstorbenen Vaters gleich hinterm Sunset Boulevard in Hollywood. Dort war auch die Tankstelle, bei der ich dann arbeitete. Ich schlug mich durch und lernte dabei einiges. 1960 reiste ich ein Jahr durch Europa, 1961 landete ich in New York und arbeitete in den Folk-Music-Klubs in Greenwich Village. Dort lernte ich dann Bob Dylan und seinen Manager Albert Grossman kennen, beide wurden gute Freunde. Dylan wohnte später für eine Zeit lang bei mir im Castle.

SPIEGEL: Im Castle?

Law: Das war ein kleines Schlösschen, das mein Bruder und ich und ein weiterer Freund 1965 in den Hollywood Hills gekauft hatten. Wir vermieteten Zimmer an Musiker, Schriftsteller, Schauspieler und Freunde. Dylan und The Band haben sich dort auf ihre Tour vorbereitet und geprobt. Abends sind wir mit dem Cadillac des Regisseurs Otto Preminger in die Klubs von Hollywood gefahren.

SPIEGEL: Was bleibt von all dem aus heutiger Sicht?

Law: Woodstock zeigte in drei Tagen, worum es in den Sechzigern ging. Es hat eine ganze Gemeinschaft von im Grunde sehr konservativen Farmern, Tante-Emma-Ladenbesitzern und Kleinstadtbewohnern überzeugt, dass das, was die Kids da aufzogen, gar nicht so übel war. Viele waren zunächst skeptisch oder hatten Angst, manche offen feindselig. Und dann veränderte sich das. Plötzlich verteilten sie Essen und Trinken und vergaßen den ganzen autoritären Scheiß. Am Ende waren sie wie verwandelt.

SPIEGEL: Mr Law, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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sinedi 70er jahre
also - ich finde, yoga lehren und praktizieren und früh und spontan verantwortung übernehmen im leben und in woodstock bzw. im flecken "bethel" dort, hält jung - wenigstens sieht der inzwischen 79-jährige tom law doch noch sehr passabel aus, wenn ich das mal als etwas neidischer 72-jähriger mann so ausdrücken darf.

nun war ich nicht in woodstock, aber ich war vor 50 jahren natürlich angetan von dem spontanen chaosgeschehen dort.

ich freue mich, dass man sich 50 jahre später doch auch noch mit einigem wohlwollen daran erinnert (und ich habe vor einigen wochen ja auch schon mal etwas zu "meinem" immerwährenden "woodstock-schrei für die ewigkeit" hier im blog geschrieben...).

mein bild (click) vom "woodstock-schrei für die ewigkeit": joe cocker in "with a little help from my friends"


und außerdem ist dieser interview-text von spiegel-redakteur philipp oehmke mit tom law auch eine hervorragende ergänzung - wie gerufen - zu meinem post von vorhin hier ...

bei allem, was wir heute nach 50 jahren von diesem hippie-fest längst nicht mehr wahrgaben wollen, bleibt diese weltweite leichtigkeit festzuhalten, die law da in woodstock-bethel bei einem solchen chaos mit unsäglichen begleitumständen angetroffen hat und von denen er immer noch in guter erinnerung berichtet: dieses vertrauen und diese innere gewissheit: "es geht alles gut"...

diese 68er geisteshaltung hat ja menschen verändert ihr leben lang bis heute - einfach so...

doch ertappe ich mich jetzt justement dabei an diesen alten satz aus dem "dritten reich" und aus der ddr zu denken: "ja - früher war nicht alles schlecht" - (und hitler hat ja immerhin die autobahn gebaut - und die ddr hatte viele goldmedaillen gewonnen...)"...

aber ich will ja gar nicht woodstock unbotmäßig verklären, aber meine innerlich gefühlte rückbesinnung unterstreicht den satz von tom law: "am ende waren sie wie verwandelt" - verwandelt vom "68er-/woodstock-spirit", der bis heute noch "weht, wo er will": make love - not war !!!




kaspar - der mann aus dem nichts

Kaspar Hauser

Der junge Mann, der aus dem Nichts kam

Im April 1812 soll das berühmteste Findelkind des 19. Jahrhunderts zur Welt gekommen sein. Wer aber war Kaspar Hauser - und wer tötete ihn? Über einen mysteriösen Fall von großer Symbolkraft.

Von Rudolf Neumaier | SZ [link]


Das Damen-Conversations-Lexikon verstand sich als Lektüre für "das Nützliche, Schöne, Wissenswerthe im Geiste der Frauen". Darüberhinaus hatte die Redaktion auch ein sehr gutes Gespür für Themen, die eindeutig der Rubrik "Ratsch und Klatsch" zuzuordnen sind.

Die zehn Bände erschienen von 1834 bis 1838 und waren topaktuell. Zwischen dem Eintrag der Opernsängerin Karoline Haus und dem Stichwort "Hausfrau" fand sich ein farbiger Bericht über einen Mann namens Kaspar Hauser.







Abb. Repro: Damen-Conversations-Lexikon 1834, Bd. 5 - S. 191 - 193 (Kaspar Hauser)


Wenn man die Geschichte aus dem Damen-Conversations-Lexikon mit den Kaspar-Hauser-Studien der vergangenen zehn Jahre vergleicht, kommt am Ende das gleiche Ergebnis heraus: Über diesen Burschen kann man ebenso trefflich spekulieren wie über seine Herkunft. Mehr nicht. Wer den jungen Mann getötet hat, auch das wird ein Rätsel bleiben, sofern nicht irgendwo ein stichhaltiges Bekennerschreiben auftaucht.

"Am zweiten Pfingstfeiertag 1828", heißt es im Lexikon, "erschien gegen 5 Uhr Abends am Hallerpförtchen in Nürnberg ein in Bauerntracht gekleideter junger Mensch, dessen körperliche Haltung und Jammergestalt jedermann auffiel und der wie ein Trunkener vorwärts wankend einen Brief in der Hand hielt."

Adressiert war der Brief an einen Rittmeister. Doch weil der dienstlich unterwegs war, nahm sich dessen Personal des "Erbarmungswürdigen" an. Der Junge konnte sich kaum artikulieren, seine Zunge erwies sich als ungeschult im Umgang mit Sprache. Auch mit der Nahrungsaufnahme hatte er Probleme: "Man setzte ihm Bier und Fleisch vor, aber kaum genossen, brach er es wieder von sich, dagegen stillte er seinen Heißhunger und Durst mit Schwarzbrod und frischem Wasser."

Eher Bub als Mann: Eine Radierung nach einem Stahlstich von Friedrich Fleischmann zeigt ein Porträt Kaspar Hausers aus dem Jahr 1828. (Foto: dpa)




Ein Symbol für die Verstoßenen

Eine fantastische Geschichte war in der Welt. Ein Mythos und Symbol für die Verstoßenen und Verbannten. Ein Rätsel, das von Historikern über Mediziner, von Linguisten bis hin zu Rechtsgelehrten die Wissenschaften beschäftigt hat. Ein gigantischer Stoff für Künstler. Peter Handkes 1968 uraufgeführtes Stück "Kaspar" steht heute noch auf Theaterspielplänen. Kurt Tucholsky schrieb Texte unterm Pseudonym Kaspar Hauser.

Immer wieder, wenn in einem Verlies Menschen entdeckt werden, deren Existenz unbekannt war und die lange Zeit sozialer Kontakte entbehrten, wird Kaspar Hauser als Referenz und Ahn der Weltentfremdeten aufgeboten. Oder war er nur ein Aufschneider, der sich von geschickten Geschäftemachern für die Rolle einer Jahrmarktsattraktion instrumentalisieren ließ? Diese Sichtweise gibt es auch.

Der mysteriöse Absender des Briefes an den Rittmeister gab sich als Tagelöhner mit zehn Kindern aus. Er schrieb, der Überbringer des Schreibens sei ihm 1812 als Neugeborener vor die Tür gelegt worden.

Wenn alles stimmt im Brief, hatte der anonyme Verfasser die Pflege des Findelbuben übernommen, den Fund des Säuglings aber nicht gemeldet. Wollte er sich keinen Papierkram aufhalsen? Oder war er bezahlt? Oder stimmte die Geschichte nicht? Jedenfalls gab der Schreiber an, er habe den Buben christlich erzogen und ihn das Schreiben gelehrt.

Im Briefkopf stand "Von der Bäierischen Gränz", doch auch das kann eine Nebelkerze sein, um die wahre Provenienz zu verschleiern.

Kaspar ließ viele Versuche über sich ergehen

Fünfeinhalb Jahre lebte Kaspar Hauser vom plötzlichen Erscheinen bis zum Tod. Er war nacheinander bei Bürgern untergebracht. Der berühmte Strafrechtspionier Anselm von Feuerbach hatte als Obervormund Aufsicht über die Entwicklung und förderte Kaspar, wo er konnte, er starb aber 1833.

Mit der Zeit lernte Hauser das Sprechen, die Lehrer lobten das handwerkliche Geschick, auch seine Begabung im Zeichnen soll beachtlich gewesen sein. Jeder Betreuer versuchte, dem Rätsel der Abstammung auf die Spur zu kommen. Alle mussten sich mit den Angaben Kaspars begnügen, er sei in einem dunklen Kerker bei Wasser und Brot gehalten worden.

Allerlei Versuche ließ er über sich ergehen. Okkultisten begutachteten ihn, homöopathische Tests wurden ebenso vorgenommen wie Experimente mit Magnetismus. Die Aufmerksamkeit, die er auf sich zog, störte ihn nicht. Im Gegenteil.

Das Damen-Conversations-Lexikon reihte sich als eine der ersten Publikationen bei den Zweiflern ein, die Kaspar mit wachsender Skepsis betrachteten:



"Fast interessirte man sich nicht mehr für ihn, als ein auf ihn gerichteter Mordversuch neue und allgemeine Theilnahme erregte, aber Niemand vermochte den Thäter zu entdecken."


1829 war das erste Mal, dass Hauser eine Stichwunde erlitt. Nach seiner Schilderung suchte ihn der Täter auf der Toilette heim. Das Märchen eines Betrügers, um im Gespräch zu bleiben? Hauser bekam Polizeischutz und wurde später nach Ansbach gebracht.

Der reiche englische Adelige Philip Henry Stanhope nahm sich seiner an und investierte viel Zeit und Geld in die Recherche der Herkunft. Umsonst. Stanhope gestand sich später ein, einem Lügner aufgesessen zu sein.

Hauser starb am 17. Dezember 1833, drei Tage nach einem Messerstich. Wer ihm die Wunde zugefügt hatte, ließ sich nie klären. Er selbst? Die Spekulationen über den seltsamen Kerl schossen nun erst recht ins Kraut. Dass er ein badischer Erbprinz sei, dieses Gerücht etwa hat sich bis heute gehalten.

Das Damen-Conversations-Lexikon verzichtete auf eine eigene Theorie zur Abkunft Kaspars. Aber so viel wusste es: Dass es sich bei den Leuten, die ihn gefangen gehalten hatten, um "unnatürliche Tyrannen" handelte.

An der Stelle, an der Kaspar angeblich überfallen wurde und den Todesstich erlitt, stellten die Ansbacher einen Gedenkstein auf mit der Inschrift: "Hier wurde ein Geheimnisvoller auf geheimnisvolle Weise getötet."


HIC OCCULTUS OCCULTO OCCISUS EST XIV. DEC. MDCCCXXXIII
(„Hier wurde ein Geheimnisvoller auf geheimnisvolle Weise getötet 14. Dez. 1833“) - Inschrift auf einem Denkmal im Ansbacher Hofgarten

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Reinhard Mey: Kaspar (1969)

Sie sagten, er käme von Nürnberg her und er spräche kein Wort.
Auf dem Marktplatz standen sie um ihn her und begafften ihn dort.
Die einen raunten: „Er ist ein Tier“,
Die andern fragten: „Was will der hier?“
Und daß er sich doch zum Teufel scher‘. „So jagt ihn doch fort, – so jagt ihn doch fort!“ –

Sein Haar in Strähnen und wirre, sein Gang war gebeugt.
„Kein Zweifel, dieser Irre ward vom Teufel gezeugt.“
Der Pfarrer reichte ihm einen Krug
Voll Milch, er sog in einem Zug.
„Er trinkt nicht vom Geschirre, den hat die Wölfin gesäugt!“

Mein Vater, der in uns‘rem Orte Schulmeister war,
Trat vor ihn hin, trotz böser Worte rings aus der Schar;
Er sprach zu ihm ganz ruhig, und
Der Stumme öffnete den Mund
Und stammelte die Worte: „Heiße Kaspar“.

Mein Vater brachte ihn ins Haus, „Heiße Kaspar!“
Meine Mutter wusch seine Kleider aus und schnitt ihm das Haar.
Sprechen lehrte mein Vater ihn,
Lesen und schreiben, und es schien,
Was man ihn lehrte, sog er in sich auf – wie gierig er war!

Zur Schule gehörte derzeit noch das Üttinger Feld,
Kaspar und ich pflügten zu zweit, bald war alles bestellt;
Wir hegten, pflegten jeden Keim,
Brachten im Herbst die Ernte ein,
Von den Leuten vermaledeit, von deren Hunden verbellt.

Ein Wintertag, der Schnee lag frisch, es war Januar.
Meine Mutter rief uns: „Kommt zu Tisch, das Essen ist gar!“
Mein Vater sagte: „... Appetit“,
Ich wartete auf Kaspars Schritt,
Mein Vater fragte mürrisch: „Wo bleibt Kaspar?“
Wir suchten, und wir fanden ihn auf dem Pfad bei dem Feld.
Der Neuschnee wehte über ihn, sein Gesicht war entstellt,
Die Augen angstvoll aufgerissen,
Sein Hemd war blutig und zerrissen.
Erstochen hatten sie ihn, dort am Üttinger Feld!

Der Polizeirat aus der Stadt füllte ein Formular.
„Gott nehm‘ ihn hin in seiner Gnad“, sagte der Herr Vikar.
Das Üttinger Feld liegt lang schon brach,
Nur manchmal bell‘n mir noch die Hunde nach,
Dann streu‘ ich ein paar Blumen auf den Pfad, für Kaspar.

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ich lernte das schicksal kaspar hausers erstmals kennen durch den song von reinhard mey - in der hoch-zeit der 68er - also vor 50 jahren. ich war damals 21/22 jahre alt - und seltsame schauer zogen und ziehen mir beim text dieses liedes über den rücken.

das schicksal dieses bei seinem auffinden ungefähr 15-jährigen "findel"menschen löste eine betroffenheit aus, die ich bis heute nicht weiß, richtig einzuordnen. nach wie vor bin ich jeweils berührt ...

zur gleichen zeit damals begann ich meine neue berufliche heilpädagogische laufbahn in der diakonie in bethel - und stand bald tatsächlich vor menschen, die ich durchaus mit "kaspar hauser" vergleichen konnte: auch sie manchmal wegen ihrer "behinderung" regelrecht verstoßen von zu hause - aus ihrer familie - lebten sie nun unter obhut - bekamen nie besuch und kannten ihre eltern und ihren namen nicht. 

außerdem war "kaspar hauser" damals in der heilpädagogik als "interessanter fall" wegen seiner "verwilderung" genannt - oft in einem atemzug mit den "wolfskindern", die als ausgesetzte findelkinder aufgefunden wurden - und bei denen mit heilpädagogischen bemühungen - früher oft nach den erziehungs-konzepten von jean-jacques rousseau (stichwort:"émile") - versucht wurde, sie in die bestehende gesellschaft zu integrieren.

damals reihte sich reinhard mey's "kaspar"-song mit ein in die "kampflieder" für die emanzipation in eine bessere welt - und daran hat sich bis heute wenig geändert ...

mit den großen flüchtlingtrecks im herbst 2015 kamen ja dann wieder viele traumatisierte "alleinreisende jugendliche", die keine papiere haben und mehrere identitäten gleichzeitig, die kein wort deutsch konnten und kaum englisch - und das sind junge menschen, die einfach nach einer neuen bleibe suchen - und nach einer chance im leben: so ähnlich wie kaspar - und die aber auch dringend einer (heil-)pädagogischen betreuung bedürfen...

und als schlürschluck nochmals die 68-er

Einmal getragen und weg

Von Guido Speckmann | nd


Die 68er-Bewegung als Geburtshelferin der Wegwerfgesellschaft und als Vorreiterin der neoliberalen Ideologie des Individualismus? Das zumindest ist eine Frage, die ein anderes Licht auf die Chiffre »68« zu werfen vermag. Denn das 50. Jubiläum hat im Unterschied zum 40. kaum kontroverse Debatten ausgelöst. Während vor zehn Jahren Götz Aly mit seinen Thesen zur Parallelität von NS- und 68er-Bewegung die Schlagzeilen beherrschte, stand im Jahr 2018 ein eher pflichtschuldiges Erinnern an die Ereignisse vor 50 Jahren im Vordergrund.

Damit scheint zunächst auch die Ausstellung »68. Pop und Protest« im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zu beginnen. Den Zuschauer empfangen mehrere Kinoleinwände, auf denen längst ikonografische Fotos und Filme zu sehen sind: Benno Ohnesorgs Tod, der Leichnam von Che Guevara oder die Hinrichtung eines Vietcong-Kämpfers.

In der Schau geht es zunächst um das, was man für gewöhnlich mit ’68 verbindet: Demonstrationen, der Muff unter den Talaren, Anti-Springer- und Anti-Schah-Proteste. Musikinstallationen, Fotografien, viele Filme, Plakate und historische Artefakte zeichnen ein beeindruckendes Stimmungsbild der damaligen Zeit. Im Zentrum steht zwar Deutschland, aber es wird durchaus dem Fakt Rechnung getragen, dass ’68 eine globale Revolte war. Der Pariser Mai, der Summer of Love oder die Proteste der Black Panther gegen die Diskriminierung der Afroamerikaner sind ebenso Thema wie feministische oder andere Kämpfe der sexuellen Selbstbestimmung.


Ronald Traeger (1936–1968): Twiggy, 1966 Foto: Tessa Traeger - click here







Die Explosion der Kreativität wird an Beispielen aus Theater, Film, Design, Popmusik und Mode veranschaulicht. Erinnert wird beispielhaft an das Oberhausener Manifest, das mit deutschem NS- und Heimatfilm bricht und eine ökonomische, inhaltliche und formale Neuausrichtung fordert. Auch die »Bühnen der Revolte« sind Thema. Etwa mit Egon Monks Inszenierung von »Über den Gehorsam« am Hamburger Schauspielhaus. Die Parallelisierung des KZ-Kommandanten Höß und des damaligen Kanzlers Kiesinger löste einen Sturm des Protestes aus. Das Bildungsbürgertum wollte von der Kontinuität des deutschen Untertanengeistes nichts wissen.

Die Hippiekultur des Summer of Love ist besonders hervorzuheben. Sie, so ist zu lesen, stand für einen freien Lebensstil, Drogen, Individualismus und Selbsterfahrung. Hier nahm allerdings auch seinen Ursprung, was als kalifornische Ideologie bezeichnet wird. Die Verschmelzung eines Teils der Hippie-Bewegung mit dem Glauben an die befreienden Möglichkeiten der Technik und Informationsgesellschaft. Im Silicon Valley kann man das heute wiederfinden, amalgamiert in einer ultraliberalen Ideologie. Das allerdings ist nicht Gegenstand von »68. Pop und Protest«. Die Dialektik von einerseits notwendigem Protest gegen autoritäre Strukturen und andererseits Zielen, Werten der 68er, die sich problemlos in einen neoliberal gewendeten Kapitalismus integrieren ließen, macht das Spannende an der Beschäftigung mit der globalen Revolte aus. In der Ausstellung wird das nur angedeutet, vornehmlich wenn es um Design, Mode und Werbung geht.



Besonders bei der Mode kann beobachtet werden, wie schnell sich ein modisches Statement wie ein Minirock, zunächst auch als politisches Statement gedacht, in den Schaufenstern der Warenhäuser wiederfindet. Die Werbung reagiert ebenso schnell. Charles Wilps Afri-Cola-Reklame greift den neuen subkulturellen Zeitgeist auf. Der Videoclip preist Körperlichkeit, Erotik, Psychedelic Chic und Bewusstseinserweiterung.

Die Dialektik von Befreiung und Regression findet sich auch beim Design. Rechte Winkel, harte Kanten und solide Farbgebung passten nicht zum modernen Lebensgefühl von ’68. Das Material der Stunde war Plastik, Umweltbewusstsein noch kein Thema. Sorglos wurde konsumiert, einmal getragen und weg damit: Das Papierkleid wird zum Trendsetter.

Es wäre übertrieben, ’68 als Geburtsjahr der Wegwerfgesellschaft zu bezeichnen. Aber die in der Ausstellung nur angedeuteten Fragen verdienen allemal eine nähere Betrachtung.

»68. Pop und Protest«, bis 17.3., Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Steintorplatz, Hamburg.
Ausstellungsflyer = click here

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(update)

tja - nun ist diese ausstellung zu den 68ern in hamburg noch just im oktober des verflossenen jahres eröffnet worden  (geht bis zum 17.märz.2019) - gerade noch pünktlich zum 50-jährigen "jubiläumsjahr" ... 

insgesamt scheint ja nicht vielen zum feiern mit sekt und präsentkorb zumute gewesen zu sein - es gab und gibt ja auch viele kritische, z.t. sogar gehässige töne - so, als müsse man sich entschuldigen heutzutage als 75/70-jähriger dino überhaupt damals schon existiert zu haben, in  dieser zeit des aufbruchs und der umwertung alter werte - sich entschuldigen für das alles, was damals angestoßen wurde und sich im einzelnen wie rasend schnell umfallende aufgereihte dominosteine fortsetzte: einmal angeschnippt wurden entweder lawinen daraus - oder ein kleines rinnsal trocknete aus und ward nicht mehr wahrgenommen - je nachdem - und wie immer im leben ...

bei den 68er-rückblicken fixiert man immer gern die (west-)deutschen und west-berliner bzw. universitären ereignisse um rudi dutschke und den sds, den "marsch durch die institutionen" und den "muff der 1000 jahre" in genau diesem jahr - aber verkennt dabei oft die internationalen weltweiten kultur-bezüge, allerdings fast ausschließlich innerhalb der "westlichen hemispäre", die schon zehn jahre früher ab mitte der fünfziger als reaktion auf den weltkrieg einsetzten aber nun vollends zum durchbruch kamen und angenommen wurden und die diskurse bestimmten: 
  • mit dem ende des fatal-brutalen vietnam-kriegs, wo schließlich entnervt (auch nach chemisch entlaubten bäumen und deswegen fehlgebildeten embryos) die usa ihre truppen endlich abzogen - 
  • mit dem lokalen französischen aufbegehren um daniel cohn-bendit 
- und all die kulturstiftenden umwälzungen:
  • das woodstock-festival 1969 mit dem ausleben des befreiten 68er-"gefühls" als prozess und protest, und dem aufkommen nie gehörter rhythmen und klänge, aber auch neuer internationaler musikvermarktungs-strategien - 
  • in der literatur die bewegung der "beat-literatur" um jack kerouac u.a. und die "konkrete poesie" z.b. eines eugen gomringers hand in hand mit der "konkreten malerei", 
  • mit happenings, konzeptkunst, partizipation - mit "pop art", "minimal art", "konzeptkunst", "arte povera" und auch das ("deutsche")"informel" und die "art brut" - 
  • das weltweite pubertäre aufbegehren der jugend und der jungen menschen - in west-deutschland konkret gegen die tätergesellschaft nazi-deutschlands, 
  • mit der symbolischen aktions-"ikone": die ohrfeige für bundeskanzler kiesinger von beate klarsfeld - 
aber auch in den familien muckte die jugend auf und befreite sich endlich ein für allemal von vielen unnötigen zwängen, die zuvor einfach unkritisch weitergeführt wurden mit gewalt und züchtigung in der wörtlich genommenen er-"ziehung" ("zögling"), eben als dieser muff von 1000 jahren... - 
  • die alten autoritäten wurden zum abdanken gezwungen oder geradezu lächerlich gemacht -  
  • ---- und das war gut so ... 
höchst kritisch ist allerdings anzumerken, dass mit der recht abrupt eingesetzten und angelesenen sogenannten "sexuellen befreiung" und den neuen auslebe-versuchen eines "herrschaftsfreien anarchismus" auch hier und da neue abhängigkeiten und subtilere gewalt (die man oft mit " gleichberechtigt liebe leben" verwechselte) auf den plan traten bzw. offensichtlich wurden - besonders in den "totalen institutionen" (wie sie erving goffman beschrieben hat) - in den kirchen und den geschlossenen "erziehungs-" und kranken-anstalten - z. t. auch als verirrte reaktionen auf die libertären konzepte einer "antiautoritären erziehung" (a.s.neill) oder den schriften wilhelm reichs zur überwindung der "massenpsychologie des faschismus" - mit z.t. auch individuell ganzheitlichen übungen zur "lockerung des 'muskelpanzers'" - eben in diesen nur laienhaft zusammengelesenen zusammenhängen auch mit völlig überzogenen und übergriffigen tendenzen zur "sexual-befreiung" - sogar auch der wehrlosen und somit tatsächlich "verführten" (klein-)kinder ...

trotzdem - insgesamt überwiegt bei mir zu dieser zeit, die mich mit geprägt hat, ein gutes und dankbares gefühl ...

also - nix für ungut - und chuat choan