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Himmlers Dienstkalender


Notizen eines Massenmörders

Die Dienstkalender des SS-Chefs Heinrich Himmler wurden lange unter Verschluss gehalten. Die bürokratischen Eintragungen verraten viel über die Arbeitsweise und Gedankenwelt des Holocaust-Organisators.

Von Michael Wildt - im SPIEGEL

SS-Führer Himmler um 1943 - Walter Frentz / ULLSTEIN BILD



  • Michael Wildt, 65, zählt zu den führenden deutschen Holocaust-Experten. Er ist Professor am Institut für Geschichtswissenschaften der Berliner Humboldt-Universität.


Am 12. Februar 1943 schrieb Heinrich Himmler in seinen Tischkalender: "8.00 Uhr aufgestanden, 9.00 Uhr gearbeitet, 10.00 Uhr Abfahrt Hochwald". An diesem Tag flog er von seinem Hauptquartier in Ostpreußen nach Lublin im besetzten Polen. Der Dienstkalender hielt fest: "12.00 Uhr Landung Lublin; Abholung durch SS-Obergruppenführer Krüger und SS-Gruppenführer Globocnik; Essen im Flughafenhotel. 12.30 Uhr Start mit Wagen nach Cholm. 14.00 Uhr Start von Cholm mit Sonderzug zum SS-Sonderkommando. 15–16.00 Uhr Besichtigung des SS-Sonderkommandos."

Terminnotizen: "15–16.00 Uhr Besichtigung des SS-Sonderkommandos"

Hinter diesen kargen Eintragungen verbarg sich Himmlers Besuch des Vernichtungslagers Sobibór, das war eine der Massenmordstätten der "Aktion Reinhardt". Von April 1942 bis Oktober 1943 wurden hier bis zu eine Viertelmillion Menschen mit Gas ermordet. Da an diesem 12. Februar kein Deportationszug zu erwarten war, schleppte die SS 200 jüdische Mädchen und Frauen aus der Umgebung herbei, um dem Reichsführer SS die Effizienz des Mordens vorzuführen.

Tags darauf war Himmler in Hitlers Hauptquartier "Wolfsschanze": "16.00 Uhr Termin beim Führer". Obwohl sich die Unterredung in erster Linie um die Aufstellung neuer Waffen-SS-Divisionen drehte, dürfen wir annehmen, dass Himmler auch über seine Beobachtungen aus Sobibór berichtet hat.

Erst vor knapp vier Jahren wurde das Original des Dienstkalenders in Moskau gefunden. In einem Archiv hatten, über Jahrzehnte geheim gehalten, von der Roten Armee beschlagnahmte NS-Unterlagen gelagert. Jetzt erscheint die Edition des Kalenders für die Jahre 1943 bis 1945 (ab 6. April). Sie umfasst mehr als 1100 Seiten, auch Himmlers persönliche Aufzeichnungen aus seinem Tischkalender und die Notizen über seine Telefongespräche wurden aufgenommen. Kein Buch, das als Urlaubslektüre dienen könnte, vielmehr das Ergebnis einer immensen wissenschaftlichen Leistung. Wie das Beispiel des 12. Februar 1943 zeigt, können die nüchternen Terminangaben, die Himmlers Adjutant jeden Tag auf einem DIN-A4-Blatt zusammenstellte, nur durch historische Forschung zum Sprechen gebracht werden.

Die Geschichte des Holocaust muss nicht neu geschrieben werden. Doch ist nun - nach den Editionen von Himmlers Kalendern für die Jahre 1940 und 1941/42 - die Tätigkeit eines der wichtigsten Akteure des NS-Regimes im Krieg so vollständig und detailliert dokumentiert wie kaum eine andere. In den bürokratischen Eintragungen wird auf gespenstische Art die Arbeitsweise eines Topmanagers des NS-Regimes erkennbar.

Himmler leitete als Reichsführer SS nicht nur ein weitverzweigtes SS-Imperium, sondern war seit 1936 auch Chef der gesamten deutschen Polizei und seit 1939 oberster Siedlungskommissar. In den Jahren 1943/44 erreichte er den Zenit seiner Macht: Er wurde Reichsminister des Innern, Befehlshaber des Ersatzheeres und Chef des Kriegsgefangenenwesens. 1945 übernahm er sogar als militärischer Oberbefehlshaber die Heeresgruppe Weichsel.

Diese vielfältigen Kompetenzen spiegeln sich in den zahlreichen Besprechungsterminen mit unterschiedlichen Funktionsträgern der SS und des NS-Regimes wider. Die Herausgeber erläutern in Fußnoten und Kommentaren für jeden Tag den Kontext der Gesprächsinhalte. Himmler, das zeigt der Dienstkalender deutlich, hielt seinen Machtapparat weniger durch Aktenstudium zusammen, für das der Eintrag "gearbeitet" steht. Wichtiger waren persönliche Kontakte. Neben den täglichen Besprechungen unternahm er etliche Inspektionsreisen, um vor Ort mit Verantwortlichen zu reden. In diesem paternalistischen Verständnis von Menschenführung kümmerte sich Himmler selbst um persönliche Angelegenheiten von SS-Angehörigen. Er sei "sehr hart", so schilderte ihn ein SS-Führer 1944 in britischer Kriegsgefangenschaft. "Man kann sehr schnell etwas werden, man kann aber auch sehr schnell fallen."

Anfang 1943 war der Großteil der europäischen Juden bereits ermordet. Himmler hatte im Sommer des Vorjahrs die Führung des Reichssicherheitshauptamts übernommen und den Massenmord forciert. Das Warschauer Getto ließ er im Frühjahr 1943 restlos zerstören. Als die Wehrmacht nach dem Sturz Benito Mussolinis im September 1943 weite Teile Italiens besetzte, deportierte die SS die italienischen Juden nach Auschwitz. Im Frühjahr 1944 sorgten SS-Kommandos unter der Leitung Adolf Eichmanns für die Deportation von 437.000 ungarischen Juden. Himmler kümmerte sich persönlich über einen Sonderemissär - dessen zahlreiche Treffen mit Himmler der Dienstkalender dokumentiert - um die räuberische Übernahme von Metallfabriken in jüdischem Besitz.

Da zeichnete sich Deutschlands Niederlage bereits ab, 1943 war das Jahr der Kriegswende. Nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad lebte überall in Europa der Widerstand gegen die Besatzung auf. Hitler übertrug die "Bandenbekämpfung" Himmlers SS, deren Einheiten zusammen mit der Wehrmacht in Osteuropa die Zivilbevölkerung ganzer Landstriche ausrotteten und "tote Zonen" schufen. Ebenfalls fielen in West- und Nordeuropa zahlreiche Zivilisten "Strafaktionen" zum Opfer.

Im August 1943 avancierte Himmler zum Reichsinnenminister, um mit Terror die deutsche Kriegsgesellschaft unter Kontrolle zu halten. Das KZ-System weitete sich enorm aus. Waren Anfang 1943 etwa 123.000 Menschen inhaftiert, so stieg deren Zahl bis zur Jahreswende 1944/45 auf 718.000 an. Die meisten waren ausländische Häftlinge, die zur Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion wie der Herstellung der V2 verschleppt worden waren. Himmler genehmigte persönlich medizinische Menschenversuche an Häftlingen.

Vor allem aber bedeutete die Kriegswende 1943, dass nun dringend neue Soldaten benötigt wurden, um den Krieg fortführen zu können. 168 Treffen zwischen Hitler und Himmler führt der Dienstkalender für die Zeit von Januar 1943 bis März 1945 auf, das heißt, dass sich beide durchschnittlich etwa sechsmal im Monat trafen. Dabei ging es in erster Linie um die Aufstellung neuer Waffen-SS-Divisionen. Ende 1942 umfasste die Waffen-SS annähernd 250.000 Mann, ein Jahr später hatte sich deren Stärke verdoppelt, Mitte 1944 stieg sie auf etwa 600.000 Soldaten. Dazu zählten sogar muslimische Einheiten wie die 13. SS-Division "Handschar" aus Bosnien. Dank Himmlers geschickter Propaganda galt die Waffen-SS als besonders kampfentschlossene und ideologisch zuverlässige Truppe - alles Eigenschaften, die Hitler als entscheidend für den Krieg ansah.

Zwar konnten auch die Waffen-SS-Einheiten den Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront im Sommer 1944 nicht verhindern, aber Himmlers Nimbus strahlte bei seinem Oberbefehlshaber dennoch hell genug, dass Hitler ihn nach dem Attentat vom 20. Juli zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannte und ihm damit die Gesamtrekrutierung neuer Soldaten übertrug.

Tatsächlich war Himmlers militärische Kompetenz gering. Seine Berufung als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel Ende Januar 1945 endete im Desaster. Hitler beschuldigte ihn, für die schwere Niederlage der deutschen Truppen in Pommern verantwortlich zu sein, und berief ihn Mitte März von seinem Posten ab.

Privates taucht im Dienstkalender nur schemenhaft auf. Gelegentlich schaute sich Himmler Spielfilme an. Der Dienstkalender vermerkt am 16. Oktober 1943 einen gemeinsamen Filmabend in der "Wolfsschanze" mit Hitler sowie Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, und Karl Dönitz, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine. Gezeigt wurde die "Feuerzangenbowle". Doch solche Abende blieben Ausnahmen. Häufiger gab es "Doppelkopf"-Runden mit Angehörigen seines Stabes.

Beim Filmabend mit Hitler 
in der »Wolfsschanze« 
wurde die »Feuerzangenbowle« gezeigt.

Oft telefonierte er mit seiner Tochter Gudrun, die zusammen mit ihrer Mutter in Gmund am Tegernsee lebte. An dem Bild einer intakten Familie hielt er unbeirrt fest, obwohl er seit 1938 ein Verhältnis mit seiner damaligen Privatsekretärin Hedwig Potthast hatte. Die beiden hatten zwei Kinder. Die Besuche bei seiner Geliebten, deutlich öfter als bei seiner Familie, erscheinen im Dienstkalender nur mit kryptisch-verdrucksten Vermerken wie "unterwegs".

Die Herausgeber schildern Himmler als einen "intriganten, kleinlichen, pedantischen, nachtragenden, schulmeisterhaften, verbissenen und mitunter skurrilen Bürokraten". Aber er war auch ein erfolgreicher Organisator der SS, der im NS-Herrschaftssystem geschickt agierte und seinen Machtbereich stetig vergrößerte. Sein Fixpunkt war Adolf Hitler, dem er seine Karriere verdankte und dessen rassistische und antisemitische Weltanschauung er bedingungslos teilte.

Himmlers Fall ging mit seinem Irrglauben in den letzten Kriegswochen einher, er könnte von den Alliierten als Verhandlungsführer eines Nach-Hitler-Deutschlands für einen Separatfrieden akzeptiert werden. Geheim aufgenommene Kontakte wie zum schwedischen Roten Kreuz, die selbstredend nicht im Dienstkalender notiert sind, nutzten die ausländischen Verhandler aus: Mit Himmlers "Angebot", KZ-Häftlinge freizulassen, brachten sie möglichst viele Menschen in Sicherheit. Als Hitler von Himmlers Aktivitäten erfuhr, entließ er ihn wutentbrannt als Reichsführer SS und stieß ihn aus der NSDAP aus.

Auch Admiral Dönitz als Hitlers Nachfolger mochte mit Himmler nichts mehr zu tun haben und entließ ihn am 6. Mai 1945 aus allen Ämtern. Der einst zweitmächtigste Mann des NS-Regimes und einer der größten Massenverbrecher des 20. Jahrhunderts hielt es noch ein paar Tage in Flensburg aus. Dann versuchte er, mit gefälschten Ausweispapieren nach Süddeutschland zu fliehen. Im Raum Lüneburg fiel er dem britischen Militär in die Hände; am 23. Mai 1945 nahm sich Himmler mit einer Giftkapsel das Leben.
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Historiker über Himmler-Tagebücher

"Einer der schlimmsten Massenmörder der Geschichte"

SS-Chef Himmler war Hitlers mächtigster Vollstrecker. Nun veröffentlicht ein Historikerteam seine Diensttagebücher aus den letzten Kriegsjahren. Matthias Uhl erklärt die Hintergründe zu dem Fund.

Ein Interview von Klaus Wiegrefe - im SPIEGEL

Heinrich Himmler war ein Mann ohne Gnade. Bei einem Besuch hinter der Ostfront 1941 fiel ihm ein russischer Gefangener auf, weil dieser blonde Haare hatte. Folgender Dialog ist überliefert:

Himmler: "Sind Sie Jude?"
Gefangener: "Ja."
Himmler: "Sind Ihre beiden Eltern Juden?"
Gefangener: "Ja."
Himmler: "Haben Sie irgendwelche Vorfahren, die keine Juden waren?"
Gefangener: "Nein."
Himmler: "Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen."

Der Gefangene wurde erschossen.

So war Himmler, der Radikalste unter Hitlers Radikalen, ein unermüdlicher Antreiber des Todes, dessen Name auf ewig mit dem Holocaust verbunden bleibt. In einem russischen Archiv ist sein Dienstkalender aus den Jahren 1943 bis 1945 aufgetaucht.

Aufgefunden hat den Kalender der Historiker Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut Moskau. Gemeinsam mit Kollegen hat er ihn nun veröffentlicht.

SPIEGEL: Wo haben Sie den Dienstkalender gefunden?

Matthias Uhl: Im Archiv des russischen Verteidigungsministeriums in Podolsk, einer Großstadt südlich von Moskau. Das Archiv dort ist in einer ehemaligen Kaserne aus den Dreißigerjahren untergebracht. In einem Gebäude im zweiten Stock lagern die sogenannten deutschen "Trophäenakten", wie die Russen sie nennen. Darunter ein Bestand mit der Bezeichnung "Akten der Waffen-SS und Polizei" samt Himmlers Dienstkalender aus den letzten Kriegsjahren.

SPIEGEL: Wie muss man sich das vorstellen?

Uhl: Das sind zwei dicke Mappen, da liegen die Blätter für jeden Tag drin, allerdings durcheinander.

SPIEGEL: Was sind das für Blätter?

Uhl: Himmlers Adjutant Werner Grothmann hat dem SS-Chef jeden Tag die anstehenden Termine aufgeschrieben.

SPIEGEL: Was ist daran interessant?

"Hitler sah in Himmler
 einen potenziellen Nachfolger"

Uhl: Himmler war einer der schlimmsten Massenmörder der Geschichte. Aus dem Kalender geht hervor, wie unerbittlich er den Holocaust vorantrieb. Er besuchte Vernichtungslager, inspizierte Gettos und beklagte sich darüber, dass das Morden nicht schnell genug gehe. Man muss den Kalender im Zusammenhang lesen mit Himmlers sonstiger Korrespondenz, also den täglichen Weisungen und Befehlen. Auch diese haben wir daher in unser Buch aufgenommen. Alles zusammen ergibt das Bild eines Mannes, den nur zwei Dinge wirklich interessierten: der Holocaust und der Ausbau seiner Macht. Hitler sah in ihm einen potenziellen Nachfolger.

SPIEGEL: Privates findet man also nicht im Kalender?

Uhl: Doch, er verzeichnet penibel die Besuche bei seiner Geliebten und den beiden gemeinsamen Kindern, die er häufiger als seine Ehefrau und die eheliche Tochter Gudrun sah.

SPIEGEL: Wie ist der Kalender nach Moskau gekommen?

Uhl: Die SS hatte das Schloss Wölfelsdorf im damals deutschen Niederschlesien, heute Polen, angemietet. Himmler hatte nach alliierten Luftangriffen auf Hamburg und Berlin 1943 befohlen, Dokumente auszulagern, damit sie nicht zerstört wurden. Der Dienstkalender kam wohl Anfang 1945 nach Wölfelsdorf und fiel im Mai der Roten Armee in die Hände.

SPIEGEL: Nur der Dienstkalender?

Uhl: Nein, die Russen haben allein von dort insgesamt mehr als 2600 Kisten mit Akten abtransportiert.

SPIEGEL: Was wollte der damalige Kremlchef Josef Stalin mit diesen Papiermengen?

Uhl: Die Sowjets suchten nach Material zur Aufklärung deutscher Kriegsverbrechen. Und dann war es damals üblich, Archive als Beutegut zu betrachten. Da unterschied sich Stalin nicht von Hitler oder auch Napoleon. Kurioserweise nahm die Rote Armee in großem Stile auch Unterlagen mit, welche die Deutschen zuvor Franzosen und Polen geraubt hatten.

SPIEGEL: Wie ging es weiter mit Himmlers Kalender?

Uhl: Die Beuteakten wurden beim sowjetischen Innenministerium gelagert. 1954 übernahm der Geheimdienst KGB die Unterlagen. Er hat sie nach Personen verschlagwortet, offenkundig auch, um belastende Unterlagen aus der Nazizeit für Kampagnen gegen westdeutsche Politiker zu nutzen.

SPIEGEL: Aber Himmler hatte sich 1945 das Leben genommen.

Uhl: Deswegen hat sich auch niemand für den Kalender interessiert. Ende der Fünfzigerjahre wurde er mit anderen Papieren dem sowjetischen Militär übergeben und landete in Podolsk. Dort blieb alles bis vor wenigen Jahren weggeschlossen.

"Es gab beim sowjetischen Militär 
eine Tradition der Geheimhaltung, 
die ins Absurde reichte"

SPIEGEL: Warum die Geheimniskrämerei?

Uhl: Es gab beim sowjetischen Militär eine Tradition der Geheimhaltung, die ins Absurde reichte. Ihre Folgen sind auch im heutigen Russland noch zu spüren. Zudem sprechen viele Archivare kein Deutsch und trauen sich nicht, Papiere herauszugeben, deren Inhalt sie nicht einschätzen können.

SPIEGEL: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 haben sich die russischen Archive doch zunächst geöffnet.

Uhl: Podolsk war für Ausländer immer unzugänglich. Umso bedeutender, dass die russische Seite heute mit dem Deutschen Historischen Institut Moskau kooperiert. Wir haben knapp 15.000 Beuteakten - überwiegend der Wehrmacht sowie aus Reichsministerien - gemeinsam mit dem russischen Verteidigungsministerium im Netz veröffentlicht. Eine ähnliche Menge soll noch publiziert werden. Irgendwann werden dann auch die Himmler-Dokumente dort zu finden sein.

SPIEGEL: Erwarten Sie weitere Funde zu Himmler?

Uhl: Wir suchen seine Diensttagebücher aus den Jahren 1939 und 1940. Auch wissen wir, dass Himmler zeitweise Besprechungsnotizen gefertigt hat. Gut möglich, dass da noch Neues auftaucht.
Zur Person
  • Historiker Matthias Uhl (Jahrgang 1970) ist seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Moskau. Er forscht vor allem zur Geschichte des Kalten Krieges sowie zur sowjetischen Militär- und Sicherheitspolitik.


Matthias Uhl, Martin Holler, Jean-Luc Leleu (Hrsg.)
Die Organisation des Terrors - Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945
Herausgeber: Piper
Seitenzahl: 1152
Für 48,00 € kaufen













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in einer rezension dieses buches über himmler in der süddeutschen zeitung steht der erschreckende background dieser massenmorde: himmler handelte zwar ziemlich einsam in seiner erbarmungslos grausamkeit - aber er benötigte
zu seinem perfiden mörderischen tun ein team von hilfswilligen - und für dieses "geschäft" fanden sich genügend handlanger an seinem rocksaum ein.

die süddeutsche schreibt: Erst durch diese akribische Dokumentation und Einordnung der Kalenderblätter der fünf Historiker gewinnen diese Konturen, die sich für den Leser zu einem facettenreichen Bild des Managers des Terrors und zu einer nuancierten Darstellung des arbeitsteilig und bürokratisch organisierten Verbrechens zusammenfügen.

Es waren keine irren Monster, die die Vernichtung des europäischen Judentums planen und durchführen ließen, sondern Männer einer durch die Kriegsniederlage von 1918, die missratene Revolution und den verbiesterten Frieden von Versailles geprägte, akademisch gebildete Generation.

Diese orientierte sich mental und emotional an Ideen, die auf nationalistisch-völkisch-militaristischen Ressentiments beruhten. Deren ideologische Basis bildete der hetzerische Dualismus von Freund und Feind, der nach der Wirtschaftskrise von 1929 das Weltbild der bürgerlichen Eliten total und fast der Mehrheit der deutschen Bevölkerung vergiftete.

ja - und diese handlanger und stiefellecker waren nicht etwa irgendwelche tumben hurra-schreier, sondern zum großteil eben auch eine "akademisch gebildete generation" und lehrende "elite" - und eben "keine irren monster" von einem anderen stern. das war kein science-fiction... - sondern schreckliche wirklichkeit - in unseren familien und vor der tür und in der nachbarschaft unserer altvorderen.

das passiert ja oft im nachhinein in der aufarbeitung hier, dass man von "ns-deutschland" spricht, von "nazi-deutschland", von den "nazis" usw., wo man implizit so tut, als sei das eine mörderische und grausame aber überschaubare extra-truppe gewesen - eben in gewisser weise der "abschaum", die "monster" des bösen - und die "anderen" - und gleichzeitig soll das ja suggerieren, als stünde man da außen vor, und wäre in keinster weise mit "solchem pack" irgendwie verstrickt "gewesen".

aber das ist ein trugschluss: hitler, himmler und konsorten waren
karrieretypen mitten aus dem "volk", geduldet von kirche, der "intelligenz", den medien - und auch der wirtschaft, die mit rüstungsaufträgen bei laune gehalten wurde - und die deshalb diese "führungsriege" auch mithätschelte und mittätschelte - und wo man nach dem krieg vielen der schergen einen sicheren unterschlupf bot, wo sie gesellschaftlich abgesichert ihren lebensabend verbringen konnten.

überhaupt sagt ja die umschreibung der "arbeitsteilig und bürokratisch organisierten verbrechen", dass diese massenmorde eben nicht durch eine handvoll massenmörder hinterrücks begangen wurden, sondern dass es neben den "vollstreckern" auch eine ganze reihe auch von schreibtisch-mittätern und mitwissern geben musste, eben auch mitten aus dem "volk", in diesem bürokratisch penibel durchorganisierten staat, der alles notierte und tonnen von papier produzierte, die zum teil noch immer unsortiert und ungelesen in den archiven mitschlummern und vergilben.

da ist zum beispiel der schreiber und chefadjutant himmlers, werner grothmann (1915-2002), der zumindest die täglichen terminplanungen für himmler zusammenstellte (s. abb. oben) - und der folglich im wahrsten sinne des wortes minutiös wusste, wo sich himmler aufhielt und was dessen sinnen und trachten war. aber wikipedia schreibt:
Während der Nürnberger Prozesse wurde Grothmann von 1946 bis 1948 mehrfach als Zeuge vernommen. Obwohl die Anklage ihn in Nürnberg mit belastenden Dokumenten konfrontierte, wurde er nicht angeklagt. Er behauptete, als Adjutant lediglich Sachbearbeiter ohne fachliche Zuständigkeit gewesen zu sein und erst im Herbst 1944 vom Holocaust erfahren zu haben. 
Ab Juli 1948 war Grothmann im Internierungslager Dachau inhaftiert und wurde am 15. September 1948 als „Hauptschuldiger“ von der Lagerspruchkammer zu vier Jahren Haft verurteilt, unter anderem, weil er die Abstellung von KZ-Häftlingen für medizinische Versuche genehmigt hatte. Er legte Einspruch ein, wurde am 29. September 1948 aus Dachau entlassen, zunächst von der Berufungskammer für Oberbayern als „Minderbelasteter“ eingestuft und schließlich im Juli 1950 von der Hauptkammer München als „Mitläufer“ entnazifiziert.In der Bundesrepublik Deutschland mied Grothmann die Öffentlichkeit, stand aber in engem Kontakt zu SS-Kreisen und der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS. 
1961 wurde er im Verfahren gegen Karl Wolff als Zeuge geladen. Aufgrund von belastenden Dokumenten wurde ein Verfahren gegen ihn wegen Mordes eröffnet. Zwar konnte ihm sein Wissen um die Aktion Reinhard, aber keine individuelle Schuld nachgewiesen werden, so dass das Verfahren am 7. Januar 1966 eingestellt wurde.
und daneben gab es eben ein ganzes heer von mord-vollstreckern vor ort, sicherlich vornehmlich aus der ss, aber eben auch aus der "normalen wehrmacht", denn so wurde ja jüngst noch einmal bewusst gemacht, dass, um nur ein beispiel zu nennen, die leitung und verantwortung des berüchtigten gefangenen-stammlagers 326 (VI-K) in stukenbrock-senne mit seinen ca. 65.000 (i.w.: fünfundsechzigtausend) opfern unter den russischen kriegsgefangenen bei der "wehrmacht" lag. wo doch immer wieder so getan wird (diskussion um die "wehrmachts-ausstellungen" von philipp reemtsma seinerzeit), als habe man dort nur brav "befehle" im "kampf für's vaterland" befolgt.

nein - das ganze deutsche volk war nicht nur opfer des krieges, sondern eben in jener zeit auch mit in der täter- und mittäterschaft involviert - und der "zeitgeist", gespeist aus der niederlage im 1. weltkrieg und aus der dominanz aus kleinstaatlich "nationalistisch-völkisch-militaristischem" fühlen und denken und der daraus erwachsenen "rassenheilkunde" und dem begriff eines "gesunden volkskörpers" rührte da diesen unsäglich tödlichen sud an, aus dem in diesen rund 25 jahren (ca. 1925 - 1950) "gelebt" wurde - und der heutige generationen noch nachhaltig beschäftigt und beeinflusst - zum guten und zum schlechten...


You'll Never Walk Alone - Am Ende des Sturms wartet ein goldener Himmel - die internationale Corona-Hymne

Radio-Aktion in Coronakrise

Am Ende des Sturms wartet ein goldener Himmel - 

Europaweit spielen Radiostationen gleichzeitig "You'll Never Walk Alone". Ein Lied, das schon durch viele Krisen getragen hat. Und wie!

Von Holger Gertz | sueddeutsche.de

Freitagfrüh, 8.45 Uhr, wurde europaweit auf vielen Radiostationen ein- und dasselbe Lied gespielt, You'll never walk alone, unter anderen bei Bayern 2, WDR 2, 1Live, SWR3 und bei Deutschlandfunk Kultur war es zu hören, bei BBC 1, Ö1 und überall. Der niederländische Radiomoderator Sander Hoogendoorn hatte die Idee: Ein Lied, das die Nationen verbindet, sollte es sein - in Tagen, wo sich draußen fast niemand mehr umarmen darf. Eine Hymne mit einer Botschaft. Hoogendoorn schrieb: "You'll Never Walk Alone wäre erste Wahl, denn es könnte die ansprechen, die im Moment eine unglaubliche Arbeit im Gesundheitswesen leisten, die krank sind oder die ihr Haus für eine Weile nicht verlassen können."

You'll Never Walk Alone - Kenner nutzen im Alltag das Kürzel YNWA - ist eigentlich ein Song aus dem Musical Carousel, Musik von Richard Rodgers, Text von Oscar Hammerstein II. Es wurde 1945 am Broadway in New York uraufgeführt, richtig populär wurde es aber erst, als Gerry & the Pacemakers es 1963 coverten, eine Band aus der englischen Arbeiterstadt Liverpool, in der man leidenschaftlicher singt als anderswo, und in der man auch leidenschaftlicher kickt. So kam eins zum anderen.

YNWA ist ein einfaches, aber deshalb nicht weniger kraftvolles Lied. Es handelt von Hoffnung, die angeblich nie restlos aufgebraucht ist, und von der Solidarität untereinander. YNWA würdigt den Menschen als Gruppenwesen - und ist deshalb gerade heute so berührend, wo der Mensch wegen Corona weltweit auf sich selbst zurückgeworfen ist und lernen muss, dass Begegnungen mit anderen kaum mehr möglich sind.

When you walk through a storm
Hold your head up high
And don't be afraid of the dark.
At the end of a storm
There's a golden sky
And the sweet silver song of a lark.

Wenn Du durch einen Sturm gehst
Halte Deinen Kopf hoch
Und hab keine Angst vor der Dunkelheit.
Am Ende des Sturms
Wartet ein goldener Himmel
Und den süßen silbernen Gesang einer Lerche.

Seine heutige Bedeutung wuchs dem Lied zu, als es beim FC Liverpool, im legendären Stadion an der Anfield Road, von den Fans gesungen wurde. Der Stadionsprecher dort spielte schon in den Sechzigern vor dem Spiel seine Lieder, YNWA war bald so bekannt, dass die Fans imstande waren, es ganz allein weiterzusingen, wenn der Lautsprecher mal ausfiel. George Sephton, seit 1971 Liverpools Stadium Announcer, hatte früher immer drei Vinyl-Platten mit der Aufnahme in seiner Sprecherkabine dabei, zur Sicherheit, falls zwei Scheiben einen Sprung haben sollten. Inzwischen hat er einen Stick im Gepäck. Er spielt das Lied vor jedem Spiel.


ähhh - dies ist ein artikel aus der "süddeutschen zeitung" - und der verlagsort ist in bayern, in münchen - wohlgemerkt: münchen. und das ist für mich die einzige erklärung dafür, dass der autor holger gertz nicht einmal erwähnt, wie dieser legendäre song auch vor jedem borussia-dortmund-spiel von über 80.000 fans rituell mit hochgerecktem fanschal über dem kopf stimmungsvoll intoniert wird. deren aufführung steht dem gesang an der anfield road nicht viel nach.

und heute abend sollte wegen der corona-krise in dortmund um punkt 19.09 uhr (gründungsjahr borussia dortmund: 1909) aus den fenstern der wohnungen im kreuzviertel in dortmund mit einem balkonsingen nach italienischem vorbild das lied erschallen - aber es wurde nur von ein paar balkonen aus mitgemacht - und ist durchaus noch ausbaufähig.

unvergessen ist mir noch der trauer-gottesdienst 2009 für den nationaltorhüter robert enke, in dem die damalige regional-bischöfin margot käßmann den text dieses songs zur grundlage ihrer predigt machte. robert enke litt an einer schleichenden in schüben immer wiederkehrenden depression, die ihn dazu brachte, seinem leben ein ende zu setzen.

insofern ist es eine symbolträchtige idee - mit dieser "corona-hymne" in der krise: You'll Never Walk Alone

und hier im idunapark-original:

die basis ist längst gelegt - hanau auf den grund gehen

Rassistische Anschläge

Sie sind wieder da, sie waren nie weg

Die Historikerin Barbara Manthe erforscht die Geschichte rechtsterroristischer Gewalt in der Bundesrepublik. Ein Gespräch über Kontinuitäten und Unterschiede, über "einsame Wölfe" und Vernetzung - und über das Fehlen ausreichender Forschungsförderung auf diesem Feld.


INTERVIEW VON ALEX RÜHLE | SUEDDEUTSCHE ZEITUNG, 28.02.2020, Feuilleton


Trotz aller Mahnwachen und aller polizeilichen Maßnahmen steht zu befürchten, dass die rassistischen Anschläge in Hanau nicht die letzten in Deutschland sein werden. Vor allem aber sind sie nicht die ersten Verbrechen dieser Art. Die Düsseldorfer Historikerin Barbara Manthe forscht über rechtsterroristische Gewalt in der Bundesrepublik. Sie erkennt Kontinuitäten – aber auch Unterschiede.

SZ: Ist die These gerechtfertigt, dass der Terrorismus von rechts in der BRD in der Politik, aber auch in der Geschichtswissenschaft unterschätzt wurde?

Barbara Manthe: Ich forsche seit sechs Jahren zu dem Thema Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik. Als ich anfing, gab es zu den Siebziger- und Achtzigerjahren kaum aktuelle Forschung. Viele Gruppen waren unbekannt und sind es bis heute.

Bei einem Schusswechsel zwischen Rechtsradikalen und der Polizei kamen zwei Terroristen ums Leben: Spurensuche in München im Jahr 1981. Foto: Fritz Neuwirth/SZ Photo



Welche?

Etwa die Gruppe um Paul Otte, einen Neonazi und Rechtsterroristen aus Braunschweig, die sich ab 1977 mit Neonazis aus Hamburg, Hannover und Schleswig-Holstein vernetzt hat und zwei Anschläge auf Justizgebäude in Flensburg und Hannover verübte. Der Staat und speziell Justizbehörden waren damals häufige Angriffsziele ebenso wie Symbole oder Repräsentanten der NS-Vergangenheitsbewältigung. Es wird wenig bedacht, dass und wie stark sich die Ziele gewandelt haben.

Björn Höcke sagt offen, dass die Zivilgesellschaft und die momentane Staatsform verschwinden müssen.

Stimmt. In den ersten Jahren der BRD war das vielleicht stärkste Motiv für den Rechtsterrorismus der Antikommunismus. Es gab viele Anschläge und Übergriffe gegen Einrichtungen der DDR und der Sowjetunion, aber auch gegen vermeintliche „innere Feinde“ wie DKP-Geschäftsstellen oder Juso-Büros. Die vermeintliche Rettung der BRD vor dem Kommunismus war auch in den Originaltexten jener Zeit der Hauptmotor für die meisten Attentate.

Was sind das für „Originaltexte“?

Rechte Bekennerschreiben waren meist nur ganz knapp. Handbücher waren sehr wichtig. Es gab ja noch kein Internet oder soziale Netzwerke, in denen Wissenstransfer hätte stattfinden können. Wichtig war etwa „Werwolf – Winke für Jagdeinheiten“, ein Ausbildungsheft, das Arthur Ehrhardt erarbeitet hatte, ein Alt-Nazi und SS-Mann, der in der Neonaziszene der BRD aktiv war. Ebenfalls weit verbreitet war „Der totale Widerstand – Kleinkriegsanleitungen“, eine siebenbändige Lehrbroschüre eines Schweizer Majors, für den Fall, dass die Sowjetunion die Schweiz angreift. Für Rechtsterroristen war dies von unschätzbarem Wert, weil man lernte, wie man Sabotageakte begeht oder welche Taktiken man im Guerillakrieg anwenden muss.

Waren die Amerikaner auch Feinde?

Die Agitation gegen die alliierte „Besatzung“ Deutschlands gab es schon länger. Das Narrativ vom Widerstand gegen den amerikanischen Imperialismus führte in der rechtsterroristischen Szene jedoch erst Ende der Siebzigerjahre zu konkreten terroristischen Taten. Da ist besonders die Hepp-Kexel-Gruppe zu nennen, benannt nach den Neonazis Odfried Hepp und Walther Kexel, die den Abzug der US-Truppen erzwingen wollten. 1982 haben sie Anschläge gegen Einrichtungen der U.S. Army in der Bundesrepublik verübt. Die entsprechen am ehesten einer gängigen Vorstellung vom „Untergrund“.

Inwiefern?

Sie waren bereit, alle Verbindungen ins bürgerliche Leben zu kappen. Viele Rechtsterroristen sind aus ihrem legalen Leben heraus aktiv geworden und hatten weiterhin bürgerliche Berufe. Die rechtsterroristische Szene war sehr dynamisch. Es war eher selten so, dass feste Gruppen über einen langen Zeitraum hinweg aktiv waren.

Welche Rolle spielte Antisemitismus?

Die allermeisten Gruppen, die ich untersucht habe, vertraten einen offenen Antisemitismus. 1980 wurden in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke ermordet. Und gerade war der 50. Jahrestag des Brandanschlags auf das jüdische Altersheim in München, bei dem sieben Menschen gestorben sind. Die Täter dieses zweiten Anschlags wurden nie gefunden.

Ab wann gab es rassistisch motivierte Attentate?

Das fing früher an, als man heute denkt. Ende der Siebzigerjahre wurde der rassistische Diskurs immer lauter, ab 1980 gab es die ersten organisierten Anschläge gegen Flüchtlinge. Die „Deutschen Aktionsgruppen“ um den Rechtsextremisten und Holocaustleugner Manfred Roeder sind 1980 ebenso wie andere in den Untergrund gegangen. Die haben erst Anschläge verübt gegen Orte, an denen NS-Vergangenheitsbewältigung betrieben wurde – so etwa ein Bombenanschlag gegen eine Auschwitz-Ausstellung. Dann folgten vier Anschläge auf Asylbewerber- und Flüchtlingsunterkünfte. Bei einem Anschlag in Hamburg am 22. August 1980 sind zwei junge Vietnamesen ums Leben gekommen.

Beziehen sich heutige Gruppen auf die damaligen Terroristen?

Manfred Roeder wurde zu 13 Jahren Haft verurteilt nach seinem „Aktionsgruppen“-Terror. Als er rauskam, wurde er wieder aktiv. Als er nach einem Farbanschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Erfurt 1996 vor Gericht kam, haben die späteren NSU-Terroristen Mundlos und Böhnhardt und mehrere ihrer Helfer die Gerichtsverhandlung besucht. Da sieht man bildlich die Verbindung zwischen alten und neuen Rechtsterroristen.

Welche Gruppen gingen neben HeppKexel und den Deutschen Aktionsgruppen damals noch in den Untergrund?

Beispielsweise eine Gruppe um Nikolaus Uhl und Kurt Wolfgram, zwei junge hochgradig radikalisierte Männer, die 1980/81 in den Untergrund gegangen und in Frankreich abgetaucht sind. Andere Neonazis sind ihnen gefolgt. Die haben von dort aus Aktionen und Attentate geplant, einen Banküberfall durchgeführt.

Wussten die Behörden, dass sie sich nach Frankreich abgesetzt hatten?

Ja, aber es gab anscheinend nicht den Willen, aktiv nach ihnen zu fahnden. Es war ein wenig wie beim NSU, sie waren zwar zur Fahndung ausgeschrieben, aber richtig effektiv war diese Fahndung nicht. Es existiert etwa ein Fernsehinterview mit Nikolaus Uhl in Frankreich, aus einer „Monitor“-Sendung vom Oktober 1980. WDR, beste Sendezeit.

Man hätte sie finden können?

Ja. Dann gab es eine Gruppe von Rechtsterroristen, die nach dem Verbot der Wehrsportgruppe Hoffmann 1980/81 unter der Führung Hoffmanns in den Libanon gegangen sind um dort ein PLO-Camp zu besuchen. Sie nannte sich Wehrsportgruppe Ausland.

Um eine Ausbildung dort zu absolvieren?

Ja, und um dort ungestört ihre Vorstellung einer bewaffneten Kampfgruppe zu realisieren. Das waren rund ein Dutzend Leute, unter ihnen Odfried Hepp, die sollten dort trainiert werden. Das hat aber nicht wirklich geklappt. Die Campleitung der PLO hatte wenig Interesse an einem direkten Kontakt mit den Rechtsterroristen; sie wurden zwar im Camp geduldet, aber auch nicht mehr. Und die Gruppe war so zerstritten, dass sie gar nicht handlungsfähig war. Die internen Konflikte führten sogar zu einem Mord an einem deutschen Gruppenmitglied, weil er das Camp verlassen und nach Deutschland zurückkehren wollte.

Wie gut waren diese Gruppen untereinander vernetzt?

Teilweise sehr eng, Paul Otte hatte Kontakt zum Neonazifunktionär Michael Kühnen in Hamburg, der 1977/78 einer rechtsterroristischen Gruppe angehörte. Und Hoffmann kannte jeder; er hatte aber einen absoluten Führungsanspruch, mit dem die anderen nicht klarkamen. Es gab einige, die isoliert gehandelt haben, etwa ein Mann, der 1971 den damaligen Bundespräsidenten Heinemann umbringen wollte.

Waren das einsame Wölfe?

Es gab immer wieder welche, die alleine gehandelt haben. Ein Rechtsterrorist, Frank Schubert, hat 1980 an der deutsch-schweizerischen Grenze zwei Schweizer Grenzbeamte erschossen. 1982 ist der Neonazi Helmut Oxner, ähnlich wie jetzt in Hanau, in eine Nürnberger Diskothek gestürmt, die bei Afroamerikanern beliebt war, und hat dort zwei schwarze US-Bürger umgebracht und mehrere schwer verletzt. Oxner hatte nationalsozialistische Sticker in der Tasche, auf denen stand „Wir sind wieder da“, er hat während der Tat gerufen: „Es lebe der Nationalsozialismus.“ Er ist dann auf die Straße und hat Passanten gesagt, dass er ja „nur Türken“ erschießen möchte und Deutsche keine Angst zu haben brauchen. Dann hat er auch noch einen Ägypter erschossen und einen weiteren Mann verletzt.

Wurden diese Taten öffentlich als rassistische Verbrechen diskutiert oder als Einzeltat eines Irren abmoderiert?

Gerade wenn der Täter die Tat alleine ausgeführt hatte, konzentrierte sich die Öffentlichkeit auf seine Persönlichkeit, insbesondere auf vermeintlich „krankhafte“ Züge. Das hatte zur Folge, dass die Einbettung des Täters in die Neonaziszene und ihr politisches Weltbild nicht ausreichend beachtet wurden. Oxner ist ein gutes Beispiel: Er war vor seiner Tat als neonazistischer Straftäter polizeibekannt und hatte Kontakt zu extrem rechten Führungspersonen; aus seinem rassistischen und antisemitischen Weltbild machte er kein Hehl. Und obwohl auch die Ermittler damals von einem politischen Motiv ausgingen und schrieben, dass von einem Amoklauf nicht die Rede sein könne, wurde und wird Oxners Tat in der Öffentlichkeit als „Amoklauf“ gewertet. Das suggeriert, dass die Gründe für die Morde vorrangig in Oxners Persönlichkeit zu suchen seien.

Wie viele Rechtsterroristen gab es in den Siebziger- und Achtzigerjahren?

Schwer zu sagen, weil es keine verlässlichen Statistiken gibt. Und es fehlen weitgehend soziologische Untersuchungen über die Täter. Ich mache gerade eine qualitative Untersuchung über den Aufbau der Gruppen und ihre Ziele. Ich habe etwa 250 Personen identifiziert, von denen aber viele eher Sympathisanten waren. Der harte Kern, das waren in diesen zwei Jahrzehnten rund 25 Gruppen, die zwischen zwei und 20 Mitglieder hatten.

Hat sich die Forschung zu wenig mit den historischen Kontinuitäten beschäftigt?

Es gab in den Achtzigerjahren Forschungen zum Rechtsterrorismus und in den Neunzigern viele Untersuchungen zur vermeintlich plötzlich aufbrechenden rechten Gewalt und Ideologie. Da hat man vielleicht die Kontinuitäten aus dem Blick verloren. Wichtiger erscheint mir aber, dass es keine ausreichende Forschungsstruktur zur Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland gibt. Es gibt zwar engagierte Wissenschaftler, die sich mit dem Thema beschäftigen, aber eine langfristige institutionelle Förderung fehlt.

War für die Erforschung des Linksterrorismus mehr Geld da?

Oh, da gab es sehr große und ausgesprochen produktive Forschungsverbünde. So hat beispielsweise das Münchner Institut für Zeitgeschichte in einem jahrelangen historischen Projekt den Linksterrorismus erforscht. Aber für die Erforschung des Rechtsterrorismus gibt es sehr wenige Institute und noch weniger Geld, gerade im Vergleich zur Extremismus- oder Dschihadismusforschung. Von einem großen Institut wie dem norwegischen Center for Research on Extremism: The Extreme Right, Hate Crime and Political Violence in Oslo, das nach Breiviks Anschlägen gegründet wurde, können wir hier nur träumen.

  • Barbara Manthe ist Historikerin und leitet am Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus an der Hochschule Düsseldorf das DFG-Projekt „Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, 1970 – 1990“. 
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es ist doch gut, dass es historikerinnen an unis, hochschulen und instituten gibt, die auch dieses "randthema" der geschichte, des rechtsterrorismus in der bundesrepublik in ost und west, untersuchen, festhalten und auflisten.

ich habe ja neulich hier schon geschrieben, dass es auch schon vor pegida und afd und den anschlägen von halle und hanau eine vielzahl rechtsterroristischer übergriffe gegeben hat, aber wie frau manthe ja herausgefunden hat, haben die fahndungsbehörden anscheinend "nicht immer den notwendigen willen aufgebracht, aktiv nach ihnen zu fahnden". 

da verlief und verläuft fiel im sande - und man kann nach diesem historisch fundierten artikel ja zu recht behaupten, dass diese behörden insgesamt "auf dem rechten auge" recht blind zu werke gehen, während sie im linksextremen milieu dank größerer fahndungsmittel auch viel entschlossener zu werke gingen bzw. gehen mussten, weil das politische großklima das anscheinend so vorgab.

und rechtslastige soldaten und beamte und sogar ganze netzwerke hat man ja in letzter zeit einige bei bundeswehr und polizeibehörden ausfindig gemacht.  

vielleicht hat sich da ja nun inzwischen etwas geändert, besonders anscheinend auch nach der ermordung von walter lübcke, dem regierungspräsidenten von kassel.

denn nun traf es einen politiker und repräsentanten des staates selbst - genau wie damals bei der raf - und da erwacht man endlich aus dem dornröschenschlaf, der sich ja noch bei der "aufklärung" der nsu-morde an schlendrian und vertuschung offenbarte.

viele fahndungsakten zum nsu-komplex sollen anscheinend für 120 jahre unter verschluss bleiben - und die behörden tun so, als sei das nun und für alle zeit einfach mal unumstößliches recht, an dem niemand rühren dürfe. aber angesichts der rechtsterroristischen "hochkonjunktur" dieser wochen sollte man schleunigst diese verfügung bedenken.

das sind für mich reine staatliche willkürakte, die in einer demokratischen verfassten gesellschaft nichts zu suchen haben. hier hat die öffentlichkeit ein recht auf volle aufklärung - und auch aufklärung der fehler und falsch-entscheidungen, schlecht-leistungen und der missgriffe von den beteiligten staats"schutz"-abteilungen.

wenn man mit solchen verfügungen aber eventuelle informanten aus dem rechtsradikalen milieu auf lebenszeit schützen will (ein anderer grund fällt mir dazu nicht ein), so wäre es mit einer entsprechenden indentitätsänderungsmaßnahme getan - denn die rechten organisationen sind ja nicht dumm - sie werden ihre pappenheimer ebenso kennen - und vielleicht gibt es ja auch auf diesen ebenen ein ("il-")"legales" geben und nehmen und einige unbotmäßige zweifelhafte strafbefreiungs- und strafminderungszusagen, die dem selbstverständnis und den regeln eines "rechtsstaats" nicht ganz entsprechen - ein kuhhandel mit infos hinüber und hernüber.

dies ist alo schon der fünfte beitrag zu meiner kleinen serie: "hanau auf den grund gehen", und bildet vielleicht die basis für das tatsächliche "grund"klima in diesem unserem lande, auf dem kassel, halle und hanau gedeihen konnten und vielleicht nur die derzeitige spitze eines eisbergs sind.

hoffentlich schüttet nun der neue weltweite panik-"hype" um die corona-viren alle mühsam ausgehobenen gräben zum thema und zu den erscheinungsbildern der rechtsradikalen übergriffe und attentate nicht wieder zu, dass man danach vielleicht nicht mehr "den rechten willen" aufbringt, diese scene zu beleuchten und mit allen rechtsstaalichen mitteln auch auszuhebeln...

man kümmert sich ja meist nur um die just aktuelle "sau", die gerade durchs globale "dorf" medienmäßig gejagt wird - und blendet das was war und vielleicht "unangenehm" ist, gern aus ...