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der kunstmarkt - das bist du & ich...

Kunstmarkt

Schluss mit dem Kult der Exklusivität!

Die Kunstwelt muss endlich demokratisch werden. Ein Aufruf zum Neuanfang – für Künstler und Betrachter

Ein Gastbeitrag von Stefan Heidenreich und Magnus Resch

DIE AUTOREN
  • Stefan Heidenreich unterrichtet Medientheorie an der Universität Basel und lebt in Berlin.
  • Magnus Resch ist Gründer der Magnus-App, Professor für Kulturmanagement und lebt in New York .

Die Kunst ist in einer Sackgasse. Seit Jahren wächst die Abhängigkeit vom Markt und von den großen Sammlern. Und so bleiben im Grunde nur zwei Alternativen: Entweder die Kunst verliert sich in einem Kult leerer Exklusivität – oder aber sie wendet sich dem Publikum zu.



Damien Hirsts berühmter Diamantenschädel mit dem Titel "For the Love of God" © Reuters - ZEIT


Die Stimme der Betrachter ist in den letzten Jahrzehnten überall stärker geworden. Mittlerweile sind es alle gewohnt, sich den eigenen Kulturgebrauch jederzeit nach eigenen Vorlieben zusammenzustellen. Dass die vielen Stimmen sich äußern und wahrgenommen werden, hat viel mit sozialen Medien und Online-Plattformen zu tun. Wie nie zuvor wird kommentiert, bebildert, gelikt und geteilt.

Nur in der Kunst ist die neue Souveränität der Betrachter noch nicht angekommen. Sie lebt weiter in ihrer alten Welt, nach wie vor entscheiden allein Kuratoren, was in den Ausstellungen gezeigt wird. Wenn es hoch kommt, zählt man die Besucher. Ihre Ansichten interessieren nicht.

Hinzu kommt, dass die meisten Ausstellungen heute auf die Unterstützung von Galerien und von Sammlern angewiesen sind, sodass öffentliche Institutionen und Großevents wie Biennalen vieles von dem zeigen, was der Geldelite gefällt und von dieser gekauft wird. Manchmal kann es einem vorkommen, als seien die Museen zu einer Dauerwerbesendung für den Kult der großen Preise verkommen.

Dabei wäre es nicht schwierig, dem Publikum mehr Mitsprache einzuräumen. Sobald die Betrachter erst merken, dass sie nicht nur die Vermögenswerte anderer bestaunen sollen, sondern mit ihrer Stimme entscheiden können, was sie für sehenswert halten und was gezeigt werden soll, werden sie die Kunst wieder als ihr eigenes Anliegen wahrnehmen. Als eine Kulturform, an der sie selbst beteiligt sind, für die sie sprechen können, die auf ihre Stimme hört und die umgekehrt auch für sie spricht.

Unternehmen wir also den Versuch, die öffentlichen Institutionen der Kunst demokratischer zu gestalten. Wir fordern:

Besucher, wählt aus, was sehenswert ist! 
Der erste Aufruf richtet sich an alle, die gerne Kunst anschauen und gemeinsam entscheiden wollen, was ausgestellt wird. Sucht Gleichgesinnte, und entscheidet mit, was ihr für sehenswert haltet! Die Demokratie der Kunst muss nicht auf eine Diktatur der Mehrheit hinauslaufen. Wir können viele verschiedene Kunstformen von vielen verschiedenen Betrachtern auswählen lassen. Nur so wird Kunst wieder zu etwas, das nicht dem Markt dient, sondern unsere eigenen Interessen abbildet und wiedergibt. 
Künstler, mobilisiert eure Fans! 
Der zweite Aufruf geht an die Künstler: Verlasst die Sackgasse des Marktes. Verweigert dem Kult der Exklusivität euren Dienst. Wartet nicht darauf, "entdeckt" zu werden. Wendet euch den Betrachtern zu. Löst euch von den Formzwängen der Moderne: Wir brauchen keine Werke, die es nur einmal gibt. Vergesst die Aura, diese jämmerliche Marketing-Lüge des Exklusiven. Macht Kopien, ahmt nach, mischt neu, sampelt. All das, was in der Musik längst geht, steht auch Künstlern frei. Nutzt die Freiheiten der Kunst! Sie sind ein Recht, das es zu verteidigen gilt. 
Kuratoren, belebt eure leeren weißen Kuben! 
Werdet Teil eines institutionellen Ökosystems, in dem Betrachter der Kunst Bedeutung geben. Belebt wird Kunst nicht durch Vermittler, Experten und Sammler, sondern durch die vielen Stimmen, die dazu etwas sagen wollen. Hört auf sie! Gebt ihnen ein Echo! Gebt ihnen Raum! 
Käufer, erwerbt, was euch gefällt, nicht, was sich lohnt! 
Die große Menge möglicher Käufer wird vom Kult des Exklusiven vor den Kopf gestoßen. Und um diese vielen kleinen Sammler können sich die Galeristen in ihrem nomadischen Gehetze von Messe zu Messe nicht kümmern. Diese Kunstliebhaber, die Kunst nicht als Investment, sondern aus Begeisterung kaufen, müssen wir erreichen, an neuen Orten, mit Apps und Plattformen. Kunst ist keine Geldanlage, Kunst ist erschwinglich. Wir brauchen einen Kunstmarkt für die vielen und nicht nur für einige wenige.
Ob das der Kunst guttut? Aus Sicht der herrschenden Experten wohl kaum, denn das Urteil der vielen wird mit ihrem eigenen nicht unbedingt übereinstimmen. Zu Recht fürchten sich Künstler, die Jahrzehnte in Netzwerke von Sammlern und Kuratoren investiert haben, vor dem Publikum. Kuratoren schrecken vor dem Kontrollverlust zurück, wenn in ihren Räumen plötzlich Betrachter mitreden sollen.

Wir werden eine ganz andere Kunst bekommen, weil sie sich an ganz andere Bedürfnisse richtet und ihre Anerkennung im Publikum sucht. Sollte es gelingen, die Kunst demokratisch neu zu beleben, werden am Ende alle etwas davon haben. Die Betrachter, die mit den Werken wieder etwas anfangen können. Die Künstler, die wieder Anerkennung finden, auch außerhalb der kleinen Szene, auf die sie jetzt zurückgeworfen sind. Die Sammler, die wieder Dinge von Bedeutung erwerben können. Wir glauben an die Kraft der Kunst. Befreien wir sie vom Kult des Exklusiven und öffnen sie den vielen, die Kunst lieben.

Quelle: click here 

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Kunstmarkt

Kunst für alle? Ja, aber nicht so!

Eine Erwiderung

Ein Kommentar von Christian Kaspar Schwarm


  • CHRISTIAN KASPAR SCHWARM ist Gründer der Online-Plattform Independent Collectors und wurde dafür 2019 mit dem Art Cologne-Preis für Kunstvermittlung ausgezeichnet. Er lebt in Berlin.

Vorige Woche erschien in diesem Feuilleton ein Appell: Unter dem Titel "Schluss mit dem Kult der Exklusivität!" riefen Stefan Heidenreich und Magnus Resch die Kunstwelt dazu auf, "endlich demokratisch" zu werden. Ich entgegne: Unbedingt, aber nicht so!



Die Kunstwelt hat sich doch längst auf Publikumswünsche eingestellt. Zum Beispiel mit Werken von Olafur Eliasson. © Timothy A. Clary/​AFP/​Getty Images - ZEIT

Die beiden Autoren beschreiben einen Kunstmarkt, der immer abhängiger wird von sehr wenigen Sammlern, Händlern und Strippenziehern. Und es stimmt, der globale Kunstmarkt befindet sich in einer unguten Konzentrationsbewegung, immer mehr Macht bündelt sich in den Händen immer weniger Akteure. Doch was folgt daraus?

Resch und Heidenreich fordern, das Publikum solle künftig auswählen, was in den Museen gezeigt wird. Keine Elitenkunst mehr, dafür das, was die "eigenen Interessen abbildet und wiedergibt". Diese Forderung ist schon deshalb erstaunlich, weil sie vielerorts längst umgesetzt wird: Kaum ein Museum erlaubt sich heute noch, Ausstellungen zu konzipieren, ohne auf die erwarteten und tatsächlich erzielten Besucherzahlen zu schielen. Im Fernsehen nennt man das "die Quote", und die allgemeine Quotenhörigkeit hat keineswegs dazu geführt, dass das TV-Programm in den letzten Jahrzehnten besser wurde. Es ist, ganz im Gegenteil, so fad, dass sich innovative Streamingdienste wie zum Beispiel Netflix den größten Teil der jungen Zielgruppe wegschnappen – durch inhaltliche Qualität.

Auch die Forderung, die Künstler sollten endlich das große Publikum für sich erschließen – "Wendet euch den Betrachtern zu" –, kommt mir einigermaßen absurd vor. Wer wartet denn heute noch im stillen Kämmerlein darauf, "entdeckt" zu werden. Fast alle Künstler präsentieren sich auf eigenen Websites und in den sozialen Medien. Auch hier nicht nur mit guten Folgen, schließlich weist die Anzahl der erzielten Likes nicht zwingend den Weg zu einer erfolgreichen Kunstproduktion.

Ähnliches gilt für die Kuratoren, auch sie verschließen sich nicht in elitären Zirkeln, sondern suchen das große Echo: Ich entdecke auf meinen Reisen immer mehr interaktive Formate und ausgesprochen zugängliche Formen der Kunstvermittlung.

Wenn man sich also in der Kunstwelt umschaut, erkennt man rasch, dass sie keineswegs so selbstbezogen ist, wie Heidenreich und Resch es darstellen. Im Gegenteil, sie versucht das Publikum einzubinden, Partizipation wird in den meisten Museen groß geschrieben. Die Frage ist nur, was das eigentlich bringt.

Leider wird ja die Kunst kein bisschen demokratischer, wenn wir ihre Inhalte verallgemeinern. Sie wird nur eines: flacher. Übertragen auf unser Bildungssystem, hieße das, was Heidenreich und Resch planen, einfach die Bildungsstandards radikal zu senken, um endlich mehr Menschen ein Abitur oder einen Hochschulabschluss zu ermöglichen. Das aber sähe nur vordergründig nach mehr Demokratie aus, denn die Wohlhabenden einer Gesellschaft fänden gewiss immer Wege, sich weiterhin hochklassig auszubilden. Statt die Kluft zwischen den unterschiedlichen Milieus zu verkleinern, wäre sie am Ende nur noch größer – und noch zementierter.

Das Gleiche droht, wenn wir den Vorschlägen von Heidenreich und Resch für die Kunstwelt folgen. Es würde gerade nicht dazu führen, dass die Masse der Kunstmarkt-Elite eine wie auch immer geartete, "volksnähere" Kunst aufzwingen könnte. Vielmehr würden sich die Ungleichheiten noch verstärken.

In der Bildung wie in der Kunst muss die Lösung darin liegen, mehr und mehr Menschen für die lohnende Herausforderung zu begeistern, sich auch mit anspruchsvolleren Inhalten auseinanderzusetzen. Aktive, persönliche Beschäftigung mit Kunst darf dabei nicht – wie von Resch und Heidenreich getan – auf reines Konsumverhalten heruntergebrochen werden. Sie gleicht vielmehr dem Erlernen eines Instruments: Die Freude entsteht beim Spielen. Und es ist doch das Neue, das Unbekannte, das noch Ungelernte, das uns Menschen wachsen lässt. Das ist es, was wir all jenen erzählen müssen, die noch gar nicht ahnen, was gute Kunst mit ihrem Seelenleben anstellen kann. Ich fürchte, Stefan Heidenreich und Magnus Resch zählen dazu.

Quelle: click here 


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ach - wer bin ich denn, dass ich mich hier mit diesem thema zum schiedsichter aufplustern würde. das ist so wie der volksmund sagt: die einen sagen so, die anderen sagen so: resch & heidenreich sagen so, und schwarm sagt so - und beide parteien betreiben eine "app" oder eine "online-plattform" und schreiben sicherlich auch zu diesem thema, um sich clicks abzuholen - also nur bedingt selbstlos... - und unrecht haben ja beide nicht.

insofern sind beide aufsätze sicherlich auch "ein stück weit" pr-arbeit in eigener sache...

ich war vor ein paar tagen in münster im dortigen lwl-museum, und habe mir nach dem obligatorischen geduldsfaden in der warteschlange die dortige turner-ausstellung angeschaut: joseph mallord william turner (1775-1851) "horror and delight", mit seinen flauschig-wattigen licht-schatten-landschaften wie auf schwülstig-alten theater-bühnenbildern, wie extra betonte kulisse: oftmals "riesen-schinken" - aber dann auch wieder kleine exquisite aquarelle unter gedämpfter beleuchtung - eine ausstellung in kooperation mit der "tate"-gallery im brexit-erwartungsland.



licht und farbe (goethes farblehre) -
der morgen nach der sintflut -
mose schreibt das buch genesis -
j.m.w. turner, 1843 . (handyfoto von sinedi in münster)
von daher war es schon auch etwas besonderes, hier auf dem europäischen festland diese kunst zu schauen - wer weiß wann und ob das wieder einmal geht.

und als kunstbanause hätte ich mir vor allem bei den "see-stücken" oft einen vergleich gewünscht - ein gegenüber - vielleicht mit dem hier in ungnade gefallenen expressionisten emil nolde, der hier im norden deutschlands 100 jahre später mit wesentlich kräftigerer palette und grober und abgehackter sein innerstes expressionistisch auf die leinwand bannte.

und während der "romantiker" turner schon von jugend auf mit der "royal academy" auf du und du stand, musste nolde ja 100 jahre später immer um die gunst der jeweils auch regional "herrschenden" und des publikums rundherum buhlen - und musste sich dazu anbiedern und seine biographie je nach gusto verknoten und verschränken...

in der ländlichen heimatgegend von nordfriesland und süddänemark gab es
emil nolde: brecher, 1936 - das abgehängte bild aus dem
kanzlerin-büro
nach kunst von haubarg zu haubarg wenig nachfrage - und deshalb suchte nolde anschluss an die salons und galerien in berlin und hamburg.


und doch haben beide künstler immer auf ihre art und weise landschaft und (un)wetter und sturm und sonnenuntergang und sonnaufgang prachtvoll festgehalten - jeder auf seine "art" - jeder in seiner "kunst"...

ja - warum will ich die beiden gegenüberstellen: mir ging es in der turner-ausstellung zu "schön" und zu "geleckt" zu, alles war fast photographisch korrekt in gedeckten farben und ganz hauchzart hingetupft und wie in einem bebilderten tagebuch festgehalten. hinzu kamen zwar auch ein paar "ungegenständliche" nuancen oder wirbel und strömungen, die wohl eher der psyche des mr. turner geschuldet waren, vielleicht war es aber auch schon zu der zeit sein "verkaufs-gag", seine "marke", die er setzte.

nolde hatte da ja eher einen groben pastös grellen farbaufstrich - und trotz seiner
sinedi.art: venedig
anbiederei an den nationalsozialismus geriet er damit auf das abstellgleis und wurde als "entartet" aussortiert - und bekam auch vielleicht tatsächlich ein "malverbot" aufgebrummt - vielleicht war das aber auch nur eine "vertelleken" für die verkaufserlöse nach dem krieg und der nazi-zeit gut ausgedacht...


in der diskussion von oben war turner wohl eher der publikumsabgehobene, darüber hinwegschwebende selbstbezogene "royal-academy"-künstler, mit verbindungen zur "national-gallery" und den feinen top-museen - während noldes kunstproduktion wohl eher bodenständig ja mit kleinen postkarten anfing und dem dazugehörenden "klinkenputzen" vor ort - und dann rasch da oben im norden für das rauhe nordseeklima seinen unverwechselbaren stil entwickelte, aus dem noch kräftig die ölfarben nachdampften - und der die kunstsammler in den metropolen verblüffte mit seiner holzschnittartigen farbigkeit.


sinedi.art: eine lese meiner "werke" (= jeder ist künstler)
click here
wie gesagt - die diskussion oben, wie man heute "kunst" am besten und am zeitgemäßesten etabliert, damit das publikum davon auch etwas hat, ist für mich einfach "unentscheidbar"... - "jeder nach seiner facon"... - und noldes kraft-protz-bilder bilden sich in mir eher ab als turners photo-wisch im gewitter-blitz, wie ein kurzes blitzlicht - und dann wieder dunkelheit und grollen...

am besten aber geht es mir damit, wenn ich selber kreativ werde nach der methode "beuys": "jeder ist künstler" - "alles ist kunst"... - dann brauch ich kein museum, keine agentur, keinen kurator dann muss ich auch nicht auf preise schielen, dann entscheidet ganz still der betrachter in meiner sinedi-gallery vorm pc oder auf dem smartphone was er mag oder nicht mag - was er herunterlädt für seine wand oder weiterverschickt an freunde und bekannte...

und "barrierefrei" und "kostenlos" sind auch ein hohes gut in dieser zeit: ganz natürlich und urmenschlich...

alles so schön bunt hier



Synästhesie

Mein Montag ist gelb und rund

Ich sehe Geräusche, fühle Farben, schmecke Wörter: In meinem Gehirn sind Bereiche verknüpft, die eigentlich nicht zusammenarbeiten sollten. Ich bin Synästhetikerin.

Von Julia Schmitz

Es ist Mittwochmorgen, halb sieben: Vor meinem inneren Auge explodiert urplötzlich ein Feuerwerk, gleichzeitig fühlt es sich an, als drücke jemand meinen Oberkörper auf die Nägel eines Fakirbretts. Ich stehe senkrecht im Bett, weil die Müllabfuhr mit laufendem Motor vor meinem Haus hält und Hunderte Glasflaschen mit lautem Klirren in den Wagen kippt. Für die meisten Menschen in der Großstadt ist so eine Situation nicht weiter erwähnenswert, sie stopfen sich Watte in die Ohren und schlafen weiter. Aber nicht für mich: Ich höre das zerbrechende Glas nämlich nicht nur, ich spüre es auch körperlich – und ich kann das Geräusch sehen.

Was ist bei mir anders, warum nehme ich akustische Eindrücke auf diese Art wahr? Synästhesie nennt man das neurologische Phänomen, das sich hinter der Hypersensibilität meiner Sinnesorgane verbirgt. Während der Großteil der Menschen auf Reize mit nur einem Sinn reagiert – Töne hören, Farben sehen, Gerüche riechen – feuern bei mir oftmals alle Synapsen durcheinander. Areale, die im Gehirn weit auseinander liegen, reagieren bei Synästheten gemeinsam: Wir sehen Geräusche, schmecken Farben, fühlen Buchstaben. Oft sind zwei, manchmal auch drei oder vier Sinne miteinander in Kontakt. Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich und der Kölner Universitätsklinik für Neurologie fanden vor einigen Jahren heraus, dass Synästheten mehr graue Gehirnsubstanz aufweisen als Nicht-Synästheten; unter anderem in dem Bereich, der für die Farbwahrnehmung zuständig ist.

Nur eine Person unter tausend, hieß es lange, besitze diese Form der Wahrnehmung. Mittlerweile wird die Dunkelziffer aber weitaus höher eingeschätzt, rund vier Prozent aller Menschen könnten von Synästhesie betroffen sein, ohne es zu wissen. Denn wer fragt seine Freunde schon, ob sie das Geräusch eines vorbeifahrenden Motorrads auch als ein bräunliches Knäuel sehen oder sich von einem orangefarbenen M unangenehm bedrängt fühlen? Wer kommt von sich aus auf die Idee, dass nicht für alle Menschen der Freitag die Form eines blauen Quadrates hat? Viele Jahre lang erzählte ich kaum jemandem von der bunten Welt in meinem Kopf. Tat ich es doch, stieß ich oft auf Unverständnis. Du siehst Farben, wenn du Musik hörst? Nimmst du zu viele Drogen?



Was in der Zusammenfassung tatsächlich wie die Halluzinationen eines LSD-Trips klingt, kann auf Dauer ganz schön anstrengend sein: Weil alle Kanäle weit geöffnet sind, befindet sich mein Gehirn rund um die Uhr im Dauerbeschuss. Fährt ein Krankenwagen mit eingeschalteter Sirene an mir vorbei, muss ich mich stur auf meinen Weg konzentrieren, überhöre dabei Fragen oder vergesse, wo ich hinwollte. Zu stark ist der Druck auf meine Kehle in diesem Moment, zu einnehmend das Bild eines wabernden roten Streifens vor meinem inneren Auge. Noch unangenehmer ist es bei Regen, wenn das Geräusch des aufspritzenden Wassers auf der Straße mich zusätzlich im Ohr kitzelt und einen silbrig-glimmernden Vorhang vor mein inneres Auge schiebt. Gibt es einen Knall oder eine Explosion, setzen mich ein riesiger brauner Fleck und ein gefühlter Faustschlag in die Magengrube für einen Augenblick außer Gefecht.

Um Körper und Geist von diesem Neuronenfeuer zu befreien, fahre ich regelmäßig in den Wald, wo es ruhig ist. Dann legt sich die Stille wie eine samtig weiche und weiße Decke über mich, ein Specht klopft ein paar schwarze Punkte in mein Sichtfeld und das Rauschen der Kiefern wird zu einem sanften Glitzern.

Dass ich die Welt um mich herum anders wahrnehme als die meisten meiner Bekannten, wurde mir erst spät bewusst. Dabei hatte ich meine Synästhesie schon früh entdeckt: Mit fünf Jahren – ich hatte gerade die Namen der einzelnen Wochentage gelernt – fragte ich meinen Vater, welche Farbe und Form der Montag für ihn habe, meiner sei gelb und rund. "Bei mir ist er grün und dreieckig", antwortete er, nahm sich meine Buntstifte und malte seine Woche auf ein Blatt Papier. Den Begriff Synästhesie hatte er zu dem Zeitpunkt noch nie gehört, erst viele Jahre später sollten wir feststellen, welche wundersame Fähigkeit wir beide teilten.

Wäre der Alltag nicht viel zu farblos?

Ob Synästhesie tatsächlich genetisch vererbt wird und wenn ja, wie, ob sie immer nach dem gleichen Muster oder individuell entsteht – das alles konnte die Wissenschaft bisher noch nicht endgültig entschlüsseln. Während eine Theorie besagt, dass sich Synästhesie erst mit dem Erlernen von Sprache und Schrift entwickelt, somit von Kultur und Umwelteinflüssen geprägt wird, setzt eine zweite Theorie früher an: Möglicherweise seien die neuronalen Verbindungen bereits im Fötus vorhanden und wären im Falle von Synästheten einfach nicht zurückgebildet worden. Ist Synästhesie also gar keine Abweichung der Wahrnehmung, sondern der von der Natur gedachte Normalzustand, den die Menschen im Laufe der Evolution einfach nur verlernt haben?

Das Phänomen der gekoppelten Wahrnehmung ist bereits seit Jahrhunderten bekannt, doch galt es lange Zeit als unheilbare Krankheit. Erst im 19. Jahrhundert erstarkte das Interesse daran, wurde der Begriff Synästhesie geprägt, der sich aus den altgriechischen Worten syn (zusammen) und aisthesis (Empfinden) zusammensetzt. Seitdem wird unermüdlich gerätselt und geforscht, auch die Kunst hat diese ungewöhnliche Gemeinschaft der Sinne Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt. Viele Komponisten, Maler und Schriftsteller waren und sind Synästheten, darunter Vladimir Nabokov, Wassily Kandinsky oder David Hockney.

Mehr als 150 verschiedene Arten der Synästhesie gibt es laut dem amerikanischen Neurologen Richard E. Cytowic, der sich seit den Achtzigerjahren intensiv mit dem Phänomen beschäftigt. Manche davon haben nicht einmal eine Bezeichnung, weil sie schlicht nicht in Worte zu fassen sind. Als ich im Zuge einer Recherche auf eine Auflistung stoße, kann ich immerhin rund 15 Formen der Synästhesie bei mir entdecken.

Am häufigsten verbreitet sind das Farbensehen und die Graphem-Farb-Synästhesie, bei letzterer werden Buchstaben und Zahlen automatisch mit einer Farbe verknüpft. Lese ich die Zahl fünf, sehe ich sofort Rot, auch wenn mir bewusst ist, dass der Text in Schwarz gedruckt ist. Das B und das H tragen ebenfalls diese Farbe, genau wie der Dienstag – und der Schmerz, wenn ich mal wieder mit der Hüfte gegen die Schreibtischkante gestoßen bin. Führe ich ein Gespräch, werden die Worte dank Ticker-Tape-Synästhesie vor meinem inneren Auge als Untertitel angezeigt. Meine Termine stehen wie in einem Kalender auf den bunten Wochentagen aufgelistet, Abgabefristen und Telefonnummern vergesse ich selten, weil ich mir die Farbkombination der Zahlen gemerkt habe.

Manchmal hat die Farbe eines Namens sogar Einfluss darauf, ob mir eine Person sympathisch ist oder nicht: M und F in sattem Orange und hellem Braun haben es schwer, sympathischer sind das zitronengelbe C, das grasgrüne G oder das royalblaue L. Höre ich klassische Musik, sieht es in meinem Kopf aus wie auf einem expressionistischen Gemälde, Techno erscheint als gleichmäßiges Raster aus meist schwarzen Punkten. Alle Synästhesien werden noch verstärkt, wenn ich müde bin; manchmal muss ich meine Mitbewohnerin bitten, das Geschirrspülen auf später zu verschieben, weil sich das Klappern des Porzellans wie Nadelstiche in meinem Gesicht anfühlt.

Andere geben viel Geld aus, um mit chemischen Drogen ähnliche Effekte zu erzeugen. Ich hingegen habe keine Wahl: Die Synästhesie kann man nicht abstellen, sie wird mich bis an mein Lebensende begleiten. Und trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, ohne sie zu sein. Wäre der Alltag nicht viel zu farblos? Die meiste Zeit läuft sie zum Glück einfach nebenher und stört mich nicht, doch manchmal bin ich von den ganzen Eindrücken der Großstadt überfordert. Dann wünsche ich mir ein kleines Haus am Meer: Wo mich das Wellenrauschen wie flauschige Zuckerwatte umhüllt und meine fünf überaktiven Sinne gemeinsam zur Ruhe kommen können.


  • Julia Schmitz, geboren 1983 in Köln, arbeitet als freie Kulturjournalistin und Autorin in Berlin. Sie ist Gastautorin vom Autorinnen-Kollektiv "10 nach 8".

aus: zeit/kultur


ich habe mal gelernt, das gehirn sei ähnlich in seiner "fitness" wie ein muskel: ein entsprechendes training sensibilisiere seine synapsen und weiterleitungsbahnen zu neuen oder routinierten aktivierungssträngen und ermöglicht verknüpfungen: entweder zur neuen idee: "heureka" = ich hab's - oder eben zum automatisierten routineablauf wie viele unbewusste funktionsabläufe z.b. beim autofahren "fast wie im schlaf" ...

gerade bei schlaganfall-patienten werden so ja bei partiellen ausfällen die alten funktionen wieder neu trainiert und oft gänzlich wiederhergestellt.

aber wenn dem so ist, müsste ich doch auch ein synästhetisches empfinden "antrainieren" können - zumal es ja keine "normen" dafür gibt. das jeweilige synästhetische wahrnehmen ist ja bei den davon "betroffenen" bzw. "beschenkten" personen jeweils unterschiedlich: wat dem einen sin uhl - is dem annern sin nachtijall - was der eine als gelb und als wohltat empfindet, schreckt vielleicht den symästheten nebenan, der dazu ein kackbraun sieht - bis er sich eben daran gewöhnt hat: jawohl - so ticke ich eben - und der andere eben anders...

die synästhesie ist eine gabe, die meines erachtens flexibilität und toleranz erfordert - sowohl im geben wie im nehmen ...

ich stelle manchmal sogar bei meinem kurzen mittagsnickerchen oft ein "farberwachen" von einigen zehntelsekunden dauer fest - vollständig grell wechselnd zwischen den 3 grundfarben: gelb - rot - blau, bis sich dann flugs die gewohnten farben in ihren "tönen" wieder einstellen und kalibrieren.

meine augenärztin meinte, das seien durchblutungs-umschaltstörungen, die im "augenblick" vom schlaf ins wach auftreten könnten - und je nach frequenz so unterschiedlich daherkommen...

auch habe ich mich gefragt, ob das "blaumachen" bzw. der "blaue montag" eine von synästhetikern geprägte redensart ist - aber meine recherche hat ergeben, dass daran die alten stofffärber schuld waren. die legten nämlich die stoffe, die sie färben wollten, am sonntag in ein färbebad, und erst am montag wurde die gefärbte wolle dann aus dem bad genommen und an der luft getrocknet, wodurch der stoff durch eine chemische reaktion die farbe blau bekam. aber an diesem montag konnte keine andere färbung durchgeführt werden: es wurde der "blaue montag"...  - war also nix mit synäshesie ...

aber wie sollte auch: was für den einen synästhetiker der "blaue montag" tatsächlich "blau" war - fühlte sich für den "kollegen" vielleicht quittengelb an ... "gelber montag" ...

ich glaube aber, ein bisschen "synästhetiker" sind wir alle, steckt in jedem menschen - denn wir alle empfinden individuell nuanciert und entwickeln ja verschiedene "geschmäcker" - und während ich den bass bei der musik gern aufdrehe, geht meine frau laufen - und der bass verursacht ihr regelrecht schmerzen - und dreht ihn wieder ab.

und auch die verschiedenen vorlieben für speisen sind sicherlich von der synästhetischen hirnfunktionen gesteuert.

so viel ich weiß, ist nicht klar. ob wir objektiv tatsächlich alle exakt die gleichen farbtöne sehen, oder ob die bei jedem einzelnen nuncierte individuelle eigenheiten und abweichungen von person zu person haben. diese individualität lässt sich ja auch kaum objektiv testen - auch nicht beim "farbblindheits-test" - denn die optische wahrnehmung lässt sich kaum irgendwie neutralisieren. zum beispiel weiß man auch nicht, ob beim alten johann sebastian bach der 4/4-takt metronomisch genauso war wie heutzutage - da gibt es sogar glaubenskriege von musikschule zu musikschule, von orchester zu orchester...

ein schönes experiment dazu ist es wohl auch, nach musik zu malen, ohne sich von der person am nebentisch bzw. an der nebenstaffelei inspirieren zu lassen: und zu der gleichen musik werden fünf menschen fünf völlig unterschiedliche kunstwerke erschaffen: ein jeder nach seinem synästhesie-gusto - nach seiner fasson ... und der eine ist muslim und der andere zeuge jehovas - und beide haben recht -
auf denn ...