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Manchmal trifft die Zufallsstichprobe ins Schwarze

um die "dynamik" dieses artikels und des darin geschilderten ergebnisses richtig nachzuvollziehen - ist es vielleicht gut, sich mit den folgenden artikel-links zu beschäftigen:


Link zur Studie von Sylvia Wagnerhttp://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=42076 
Links zur NW-Berichterstattung zum Thema - ab 10/11 2016https://www.nw.de/lokal/bielefeld/gadderbaum/20953177_Medikamententests-an- 
Kindern-Bethel-aeussert-sich-heute-zum-Vorwurf.html 
https://www.nw.de/lokal/bielefeld/gadderbaum/20953575_Bethel-will-Arznei-Tests-an-Kindern-kritisch-aufarbeiten.html 
https://www.nw.de/lokal/bielefeld/gadderbaum/20953177_Medikamententests-an-Kindern-Bethel-aeussert-sich-heute-zum-Vorwurf.html 
https://www.nw.de/nachrichten/zwischen_weser_und_rhein/20954751_In-Bethel-gibt-es-noch-die-alten-Patientenakten.html 
https://www.nw.de/lokal/bielefeld/mitte/20964689_Chefarzt-zu-Medikamententests-Alles-muss-transparent-gemacht-werden.html


Studie gibt Aufschluss über Medikamententests in Bethel an Minderjährigen

„Bedauern die Versäumnisse zutiefst“

Nach rund zweieinhalbjähriger intensiver Forschungsarbeit hat jetzt das Projekt zu Arzneimittelprüfungen in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel seinen Abschluss gefunden. Dabei ging es um die Frage, inwieweit und unter welchen Umständen zwischen 1949 und 1975 in Deutschland noch nicht zugelassene Medikamente (neu entwickelte BRD-Medikamente und importierte non-BRD-Medikamente) bei Kindern und Jugendlichen in Bethel angewendet worden sind. Anstoß für das Ende 2017 begonnene unabhängige Forschungsvorhaben war die Studie von Sylvia Wagner zu Arzneimittelprüfungen an Minderjährigen in Heimen in Deutschland nach 1945. Unter anderen wurde in diesem Zusammenhang auch Bethel erwähnt. 

Die Medizinhistorikerin und Psychiaterin Prof. Dr. Maike Rotzoll (Heidelberg), der Kinderneurologe Prof. Dr. Dietz Rating (Heidelberg) und der Historiker Dr. Niklas Lenhard-Schramm (Münster) haben die Studie erarbeitet. Das Forschungsprojekt wurde von einem Beirat unter Vorsitz des Theologen Prof. Dr. Traugott Jähnichen von der Ruhr-Universität Bochum begleitet.


sinedi.mach@rtLab: jugendliches "versuchskaninchen": wenn es denn der forschung dient ...

Zufallsstichprobe

Im Ergebnis zeigt sich, dass bei den länger als sechs Monate in Bethel stationär behandelten Kindern und Jugendlichen in knapp einem Viertel der Fälle noch nicht in Deutschland zugelassene Medikamente, sogenannte Prüfpräparate und Import-Medikamente, zum Einsatz kamen. Im Untersuchungszeitraum wurden 2.741 junge Patienten in Bethel aufgenommen. Der Studie liegt eine Zufallsstichprobe von 265 jungen Patientinnen und Patienten zugrunde; bei 63 (23,8 %) von ihnen wurden Prüfpräparate verordnet. Bei zwei Dritteln ging es um Antiepileptika, bei einem Drittel um Psychopharmaka. Zur Gruppe der 63 Patienten und Patientinnen nennt Prof. Dr. Dietz Rating die Zahlen im Detail: „In den Akten der 265 zufällig ausgesuchten Patienten sind Arzneimittelprüfungen für neu entwickelte Antiepileptika und für neu entwickelte Psychopharmaka belegt. Prüfungen wurden an insgesamt 63 Patienten vorgenommen: 55 Prüfungen bei 44 Patienten mit einem oder zwei neuen Antiepileptika, 28 Prüfungen bei 23 Patienten mit neuen Psychopharmaka, darunter sechs Patienten, bei denen sowohl ein Antiepileptikum als auch ein Psychopharmakon untersucht wurde.“ Ferner sei bei weiteren zwei Patienten ein neues, noch nicht zugelassenes Tuberkulostatikum eingesetzt worden.

Für die Arzneimittelerprobungen oder die Anwendung in Deutschland nicht zugelassener Arzneimittel wurden in den Krankenakten keine schriftlichen Genehmigungen der Eltern oder eines Vormunds gefunden. In Einzelfällen gab es Hinweise auf eine indirekte oder mündliche Zustimmung durch Erziehungsberechtigte.

„Die Einwilligung in und die Aufklärung über Arzneimittelerprobungen waren auch zeitgenössisch rechtlich und ethisch geboten, allerdings kein Standard der klinischen Praxis. Bethel unterschied sich hier nicht von anderen Einrichtungen, in denen Arzneimittel erprobt wurden“, erklärt Dr. Niklas Lenhard-Schramm zur damaligen Behandlungspraxis in Bethel.

Eltern nicht gefragt

Prof. Dr. Maike Rotzoll führt dazu weiter aus: „Arzneimittelprüfungen an Kindern und Jugendlichen wurden bekanntlich in zahlreichen Heimen und Psychiatrien durchgeführt. Um aber die vielschichtigen Motivationen zu verstehen, aus denen auch und gerade in Bethel Arzneimittelprüfungen stattfanden, muss man den historischen Kontext berücksichtigen. So war Bethel eine der größten und traditionsreichsten Einrichtungen, die Menschen mit Epilepsie aufnahmen und häufig langfristig versorgten. Bis Ende des 2. Weltkrieges gab es wenig wirksame Medikamente gegen Epilepsie, so dass ein großes Interesse an neuen Arzneimitteln bestand. Dies traf sich mit dem Interesse Bethels, sich auch als Forschungsinstitution, ähnlich einer Universitätsklinik, zu etablieren.“

Der Beiratsvorsitzende Prof. Dr. Traugott Jähnichen unterstreicht diese Triebfeder für den Arzneimittel-Einsatz: „Vor dem Hintergrund der Aufnahme vieler schwerster Fälle von Epilepsie-Erkrankungen hat sich Bethel auch in der klinischen Forschung engagiert, um die Möglichkeiten medikamentöser Therapien zu verbessern. Der Bericht leuchtet in diesem Zusammenhang gut die Verbindung der alltäglichen pflegerischen und therapeutischen Herausforderungen mit der Erprobung von Medikamenten aus.“

Das zeige sich auch in den Ausführungen zu sogenannten Importmedikamenten, die in anderen Ländern bereits zugelassen gewesen seien und um deren Einsatz in der Behandlung sich Bethel mit Nachdruck bemüht habe.

Jähnichen resümiert: „Mit der jetzt vorliegenden, von unabhängigen Experten verfassten Studie tragen die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel erheblich zur Versachlichung und Klärung der Arzneimittelprüfungen an Kindern und Jugendlichen in der Zeit seit Mitte der 1950er- bis zu Beginn der 1970er-Jahre bei.“

Bethel-Vorstand Pastorin Dr. Johanna Will-Armstrong unterstreicht die Bedeutung der Studie für die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel: „Auch wenn hier ein längst abgeschlossenes historisches Kapitel aufgearbeitet wurde, nehmen wir die Versäumnisse der Vergangenheit deutlich wahr und bedauern sie zutiefst. Dass in der Studie auf der Grundlage der untersuchten Krankenakten kein unmittelbarer Zusammenhang gefunden werden konnte zwischen einer möglichen Schädigung von Bewohnern und der Arzneimittelerprobung erleichtert mich sehr.“ Es bleibe aber dabei, man hätte die Eltern über die Arzneimittelerprobungen aufklären und ihre Zustimmung einholen müssen, so Dr. Will-Armstrong.

Symposium geplant

„Diese Praxis, die der zeitgenössische Kontext erklärt, aber nicht entschuldigt, gehört lange der Vergangenheit an“, ergänzt Bethel-Vorstand Prof. Dr. Ingmar Steinhart. Er weist darauf hin, dass die Studie in den Gesamtzusammenhang der kritischen Auseinandersetzung Bethels mit seiner Geschichte einzuordnen ist: „Wir arbeiten traditionell auch die problematischen Phasen und Ereignisse unserer inzwischen über 150-jährigen Geschichte auf und haben damit mehrfach schon Diakonie-Geschichte geschrieben.“

Den drei Wissenschaftlern gilt der besondere Dank des Bethel-Vorstandes für ihre akribische und professionelle Arbeit. Bethel will die Ergebnisse des Forschungsprojekts auch in einem Symposium voraussichtlich im Oktober dieses Jahres (abhängig von der Corona-Entwicklung) in der Fachöffentlichkeit zur Diskussion stellen. Dafür wurde u.a. bereits der renommierte Medizinhistoriker Prof. Dr. Cornelius Borck/Kiel gewonnen. 

Die gut 200 Seiten starke Studie ist im Internet nachzulesen über Links auf:: www.bethel.de/arzneimittelpruefungen.

Textquelle: WESTFALEN-BLATT Bielefeld v. 21.07.2020

es ist geschafft: bethel gibt gravierende fehler zu in der behandlung seiner "lieben" patienten in all den jahren, während ja bisher zumeist ähnliche und manchmal gravierendere anwürfe zumeist ausgesessen oder unaufbereitet blieben, führte hier sogar eine selbst von bethel in auftrag gegebene studie zu ergebnissen, die aufhorchen lassen.

und während nun von einer rund "zweieinhalbjährigen 'intensiven' forschungsarbeit" die rede ist - darf man nicht übersehen, dass die ersten artikel dazu zumindest in der "neuen westfälischen" in bielefeld aus 10/11-2016 (siehe die artikel-links oben!!!) stammen - also so flott war man nun mit der aufarbeitung auch nicht, denn das liegt ja nun bald vier jahre zurück - und dabei war nun nicht "corona" schuld. 

gerade die selbst in auftrag gegebenen studien sollen ja oft von der "eigenen schuld reinwaschen" - und zumindest implizit schwingt ja bei den auftragsannehmenden wissenschaftlern oft der einstellungskern: "wess brot ich ess - dess lied ich pfeif" bei solchen heiklen themen mit.

nun habe ich die stiftungen bethel in verschiedenen pflegehäusern aus eigener anschauung schon ab meinem eintritt als als zivildienstleistender am ende des untersuchten zeitraums, nämlich ab anfang der 70er jahre, kennengelernt - und sehe noch die weißen packungen mit nummernaufdrucken vor mir - beispielsweise wie "DX-3704" oder ähnliches - die nicht in einer verkauften grafisch designten arzneimittelpackung zur verfügung standen beim medizinstellen für die täglichen patientenrationen.

die waren eben vom arzt angeordnet - und basta. - und diese anordnungen wurden nach meinen beobachtungen damals auch von den durchaus auch manchmal kritischen eltern so mitgetragen, die manchmal verzweifelt nach pharmazeutischen hilfen suchten für die oft damals noch verheerenden anfallshäufungen ihrer kinder - und die dazu ein großes vertrauen zu den ärzten aufbrachten, die da "alles menschenmögliche" taten, um "zu helfen" - in bethel (!) ...

epilepsie war und ist wahrscheinlich heute noch beileibe nicht eine medizinisch voll beherrschte oder beherrschbare nervenerkrankung und hirnentladung. ich glaube sogar, dass eine herzverpflanzung heutzutage in den zuständigen fachkliniken routinierter von der industriell organisierten und digital augestatteten leistungsmedizin-teams bewältigt wird, als etwa ein kompliziertes epileptisches anfallsleiden gar mit individuellen psychosomatischen auslösern (über)lebensfähig "in den griff" zu bekommen und dauerhaft stabil für eine gute lebensqualität einzustellen.

dass allerdings diese quasi ständig selbst in medizinischen versuchsstadien experimentierenden epileptologen noch in die eigene tasche bei den großen arzneimittelkonzernen abrechneten, ist natürlich verwerflich - da hätte man zumindest die angehörigen und die patienten selbst umfassend aufklären und mitbeteiligen sollen - sie hätten es tatsächlich "verdient" gehabt...

zum produktionskalkül der parmakonzerne sei noch hinzugefügt: für vielleicht nur 200 in genau dieser einen konsistenz bedürftige epilepsiepatienten wird nirgendwo auf der welt eine serienproduktion in angriff genommen: es muss sich eben "rechnen" ...

gedenktag an ein ss-kriegsverbrechen: vor 75 jahren wurde walter barking hinterrücks hingerichtet

75 jahre nach 1945: da gibt es vielerorts jetzt anlässe des gedenkens an das ende des krieges und der befreiung von kz's, gefangenenlagern und vieles mehr.

ein besonders perfides stück kriegsgeschichte geschah vor 75 jahren - hier fast direkt vor der haustür, zumindest aber damals vor der deelentür meiner oma - die ja ein jahr zuvor ihre tochter erna kronshage beerdigen musste als ein mordopfer der ns-krankenmorde - und die auch 4 monate später ihren mann verlor, der an seinem asthma starb, was sich seit diesem tod seiner 21-jährigen tochter verstärkt hatte. 

also direkt vor erna kronshages geburtshaus, dem pachtgehöft der kronshages - nähe bahnhof kracks - an der heutigen beschrankten kreuzung verler straße / sender straße / krackser straße, geschah so kurz vor kriegsende (am 4.april 1945) hier im raum bielefeld eine solche fatale und provinziell-verrückte kurzschluss-handlung:


Der schließlich ausgebrannte Königstigerpanzer als Kriegs-Mahnmal in Senne I


Ein fataler Fehlschuss

Bielefeld, das ist für Walter Barking nicht mehr als eine Zwischenstation. Der 25-jährige stammt aus Bocholt, seine Frau wohnt in Sende bei Schloß Holte, und genau dahin zieht es den Soldaten nach seiner Entlassung aus dem Bethel-Lazarett Eckerdsberg. Wo sich seine Einheit befindet, weiß Barking nicht, er ist ein Versprengter, der Anschluss sucht, wie so viele in jenen Tagen. Am Krackser Bahnhof begegnen ihm SS-Männer, die ihn zunächst für einen Deserteur halten. Nach Überprüfung seiner Papiere drücken sie ihm eine Panzerfaust in die Hand und geben ihm den Auftrag, sie auf einen feindlichen Panzer abzufeuern. Walter Barking bezieht Stellung auf dem Anwesen des Kaufmanns Karl Freitag. Dieser hatte schon in der Frühe einen amerikanischen Panzerspähwagen gesehen. Gegen 8 Uhr rollt tatsächlich ein Panzer aus Schloß Holte kommend heran. Barking nimmt Deckung hinter einem Kaninchenstall, zielt und drückt ab. Das Geschoss streift den Turm des Panzers, zwei Männer, die auf dem Panzer sitzen, sterben.

Barking erkennt sogleich seinen Irrtum. Er hat auf einen deutschen Königstiger geschossen, 70 Tonnen schwer, zehn Meter lang. Und die Besatzung merkt sogleich: Das war kein amerikanisches Panzergeschoss, sondern eine Panzerfaust, die nur die Deutschen benutzen. Barking ergreift die Flucht, wird jedoch wenig später aufgespürt und zunächst verprügelt. Dann führt man ihn in ein nahe gelegenes Waldstück. Der 14-jährige Sohn der Familie Freitag beobachtet, wie Barking stürzt und dann hinterrücks erschossen wird. Ein ganzes Magazin feuert ein SS-Mann auf den Soldaten ab.
[einschub sinedi: dieser damals 14-jährige sohn der familie freitag - inzwischen hochbetagt - hat mir vor einiger zeit als zeitzeuge bei einem besuch erzählt, dass seine nachbarin erna kronshage ihm beim lesenüben und beim üben von diktaten geholfen habe - und dass er auch ende februar 1944 den güterwagen auf dem bahn-abstellgleis hat stehen sehen, in dem der sarg mit ernas leiche aus gniezno/gnesen zur beisetzung direkt bis quasi vor den bauernhof der kronshages, ernas geburtshaus, rangiert worden ist...]
Map-Ausschnitt beschrankte Kreuzung Senne II: am roten Punkt hat
Walter Barking mit der SS-Panzerfaust gestanden -
oben halb links der "Mühlenkamp", Erna's Geburtshaus 
Etwa eine Stunde braucht die Panzerbesatzung, um den Königstiger wieder flott zu bekommen, dann fahren sie in Richtung Elbrechter Hof. Dort gerät der Königstiger unter amerikanischen Beschuss und in Brand, ohne auch nur einen Schuss abgegeben zu haben. Bis auf einen Mann, der sich verletzt retten kann, kommt die Besatzung ums Leben. Erst Tage später werden die verkohlten Leichen geborgen, der zerstörte Königstiger steht noch lange zwischen dem Bahnhof Kracks und Windelsbleiche, bis er zerlegt und fortgeschafft wird.

Quelle: WESTFALEN-BLATT vom 01.04.2020 - S.11 - Sonderseite zum Einmarsch der Amerikaner in Bielefeld vor 75 Jahren - Autor: Heinz Stelte WB - Infos auch auf Seiten des Bielefelder Stadtarchivs


Befreiung des Stalag 326 - Stukenbrock

DAS AMERIKANISCHE PRESSEFOTO ZEIGT DEN TAG DER BEFREIUNG DES STALAG 326 IN STUKENBROCK-SENNE AM 2. APRIL 1945 DURCH DIE US-AMERIKANER. 2015 HAT BUNDESPRÄSIDENT JOACHIM GAUCK DEN AUFTRAG ERTEILT, DAS SCHICKSAL DER MENSCHEN AUS DEM ERINNERUNGSSCHATTEN ZU HOLEN. FOTO: ARCHIV DER GEDENKSTÄTTE STALAG 326 (VI K) SENNE



Das Ende des Grauens

Befreiung des Stalag 326 jährt sich zum 75. Mal

Von Monika Schönfeld | WB

Schloß Holte-Stukenbrock. Sie sahen aus wie von den Toten auferstanden: verwahrloste Männer, abgemagert, krank, schmutzig, gehalten wie Tiere. Was die Soldaten der zweiten US-amerikanischen Panzerdivision am 2. April 1945 am Rande des Truppenübungsplatzes in Stukenbrock vorfanden, ließ ihnen den Atem stocken. An diesem Tag wurde das größte Lager der Wehrmacht für sowjetische Kriegsgefangene und Verschleppte im Gebiet des damaligen Deutschen Reiches befreit.




In der Zeit zwischen 1941 und 1945 durchliefen etwa 300.000 Gefangene das „Stalag 326“ zur Musterung von Zwangsarbeit im Ruhrbergbau, auf Höfen und in Fabriken. Schätzungen zufolge starben bis zu 65.000 aufgrund der katastrophalen Lagerbedingungen, in dem nah gelegenen Lazarett Staumühle (Hövelhof, Kreis Paderborn) und den Arbeitskommandos. Die Toten wurden in Massengräbern einen Kilometer entfernt verscharrt – auf dem heutigen Sowjetischen Ehrenfriedhof.

Nach den Juden waren sowjetische Kriegsgefangene mit mehr als drei Millionen Toten die zweitgrößte Opfergruppe der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Diese „vergessene Gruppe“ aus dem Erinnerungsschatten zu holen, ist der Auftrag, den vor fünf Jahren der damalige Bundespräsident Joachim Gauck erteilt hat. Er war zum 70. Jahrestag des Kriegsendes zur Gedenkveranstaltung in Stukenbrock und hat die erste der Stelen enthüllt, die die Namen der bisher knapp 16.000 identifizierten Toten tragen.

„Es gab einige Projektteams, die bereits in den 1990er-Jahren zu den sowjetischen Kriegsgefangenen geforscht haben. Im Expo-Jahr 2000 haben wir versucht, den Bekanntheitsgrad des Stammlagers aufzuwerten“, sagt Oliver Nickel, Geschäftsführer der Gedenkstätte Stalag. Während die Gräueltaten in Konzentrationslagern bekannt sind, weiß kaum jemand etwas über die Kriegsgefangenenlager. »Die Bedingungen in dem Lager haben sich eigentlich nicht sehr von denen in einem KZ unterschieden«, sagt Oliver Nickel. Auf dem Papier war das Stalag 326 (VI K) ein Kriegsgefangenenlager. Es unterstand nicht der SS, wie die Konzentrationslager, sondern der Wehrmacht. Es war auch kein Vernichtungslager, wie zum Beispiel Auschwitz, wo die Juden in die Gaskammern geschickt wurden. „Ich habe aber mit ehemaligen Gefangenen gesprochen, die sagten: ‚Was für die Juden Auschwitz war, war für uns Stukenbrock‘“, erzählt Nickel.

Seit 1996 gibt es die Dokumentationsstätte Stalag 326 im Arrestgebäude des ehemaligen Lagers, am Original-Schauplatz. Denn das Gelände des Stalag war nach dem Krieg zwei Jahre lang Internierungslager für Wehrmachtsoffiziere, von 1948 bis 1970 wurden die alten Baracken weiter genutzt, um hier Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten aufzunehmen, später DDR-Flüchtlinge und Spätaussiedler. Das „Sozialwerk Stukenbrock“ wurde von verschiedenen Organisationen getragen, hatte Kinder- und Altenheime, Theater, Geschäfte und war damit eine Stadt innerhalb der Stadt. 1970 ist die Bereitschaftspolizei eingezogen, heute ist das Gelände „Polizeischule“ – der offizieller Name lautet Landesamt für Aus- und Fortbildung der Polizei und Personalangelegenheiten NRW. Die Hoheit der Polizei auf dem Gelände schützt die Gedenkstätte, macht sie aber auch schwer zugänglich.

Um die Gedenkstätte Stalag 326 zu einem internationalen Bildungs- und Begegnungsort zu entwickeln, hat sich nach dem Gauck-Besuch ein Lenkungskreis unter der Leitung des Landtagspräsidenten André Kuper gebildet. Das Land Nordrhein-Westfalen, die Landeszentrale für politische Bildung und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe als obere Denkmalbehörde und Museumsträger wollen die kleine und bisher überwiegend ehrenamtlich geführte Gedenkstätte ausbauen. Der Förderverein der Gedenkstätte hat gemeinsam mit der Polizei und Privatleuten einen Fundus von Gegenständen wie Strohkörbchen und geschnitzten Holzlöffeln gesammelt, die die Kriegsgefangenen angefertigt haben, um sie gegen Brot zu tauschen. Es gibt Filmmaterial, Fotos, die der Lagerarzt gemacht hat, aber auch bei Bauarbeiten im Aushub gefundene Schuhe, Blechnäpfe, Löffel. Diese Fundstücke aus Ausgrabungen haben Archäologen des Landschaftsverbandes vergangenes Jahr dokumentiert.

Angelaufen ist die wissenschaftliche Aufarbeitung mit ei­nem Symposium und dem inzwischen dritten Workshop. Parallel ist eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben worden. Die Technische Hochschule OWL hat eine Synopse geliefert, Masterstudenten haben 2019 Ideen für ein Besucherzentrum auf dem Gelände vorgestellt. Das soll die denkmalgeschützten Gebäude (Arrestgebäude, Entlausung, Lagerkirche, Lagerstraße und Sozialwerksbaracken) und das historische Umfeld mit dem Bahnhof Hövelhof, dem Lazarett Staumühle, dem Russenpatt, der Waschstelle an der Ems mit dem Ehrenfriedhof sowjetischer Kriegstoter einbeziehen.

Bis zum 31. Juli soll der Antrag auf eine Anschubfinanzierung des Bundes gestellt sein. Bis Ende des Jahres geht es um eine neue Trägerstruktur, an der sich Stadt, Kreis, Land und Bund beteiligen, in der der Förderverein der Gedenkstätte aber einen festen Platz behalten wird.


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Text aus: WESTFALEN-BLATT, 01.04.2020, Seite 3

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auch im studien- und memorialblog für erna kronshage habe ich im abschnitt 7: "bomben auf senne II" (7-4) vom lager stukenbrock berichtet, weil ja im bahnhof kracks, direkt vis-á-vis dem bauernhof, auf dem erna kronshage lebte und arbeitete bis zu ihrer einweisung nach gütersloh, die russischen gefangenen manchmal mit den transportzügen ankamen - und dann zum lager marschieren mussten (ca. 15 kilometer) bzw. von dort zu ihren einsatzorten abfuhren oder ankamen - oder auch in der nachbarschaft auf höfen als zwangsarbeiter eingesetzt waren:
Ab dem 10.07.1941 bis zum Kriegsende wurde das Lager STALAG 326 (VI K) Senne in Schloß Holte-Stukenbrock mit vielen Tausend russischen Kriegsgefangenen belegt, die auch teilweise in der Landwirtschaft verstreut in der Senne und wahrscheinlich in der nahegelegenen Eisen- und Stahlgießerei Tweer am Krackser Bahnhof eingesetzt wurden. Fast täglich fuhren also Gefangenentransporte in Güterwagen der Reichsbahn auf den Gleisen des Bahnhofs Kracks in unmittelbarer Sichtweise am Mühlenkamp vorbei. 
Jedenfalls berichteten Zeitzeugen aus Senne II immer wieder von den "Marschkolonnen" der Gefangenen, von einzelnen Leichen, die am Rand der Schienen abgelegt wurden auf der Strecke der Sennebahn bis Hövelhof - und von verzweifelten Lebensmittelerbettelungen dieser zerlumpt und ausgemergelt daherkommenden jungen Männer, die zunächst dort im Lager in Erdhöhlen "hausen" mussten unter den unmöglichsten hygienischen Bedingungen die Seuchen und Verlausungen auslösten - fern jeder Bestimmungen der "Genfer Kriegskonvention".  
Ca. 65.000 tote Kriegsgefangene wurden von 1941-1945 auf dem Lagerfriedhof in Stukenbrock begraben - zum Teil in Massengräbern (Stichwort: "Blumen für Stukenbrock")...  
aus: erna-k-gedenkblog, Abschnitt 7 (7-4) (Bildquelle: ARCHIV DER GEDENKSTÄTTE STALAG 326 (VI K) SENNE)
"Für die Bevölkerung der Senne gehörten die Kriegsgefangenenzüge sehr bald zum Alltag und wurden kaum mehr registriert, da sie mit ihren Sorgen genug zu schaffen hatten. In der Erinnerung haftengeblieben sind nur noch die über das 'normale' Elend hinausgehenden Transporte der Jahre 1941/42 ..." (aus: Karl Hüser/Reinhard Otto | Das Stammlager 326 (VI K) Senne 1941-1945, Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld, 1992 - S. 48). 
Der Anblick dieser gezeichneten jungen Männer hat in Erna Kronshage bestimmt nachgewirkt und ihr die Schrecken des Krieges zusätzlich traumatisch vor Augen geführt. Gleichzeitig stieg mit diesen Bildern auch die Angst um ihre Brüder, die als Soldaten an der Ostfront ihren Dienst versehen mussten...

last supper by leonardo

Leonardo da Vinci starb am 2. Mai vor 500 Jahren – Wer sein Meisterwerk im Original sehen möchte, der muss nach Mailand reisen.


ZU GAST BEI LEONARDOS ABENDMAHL

Da Vincis Gemälde »Das Abendmahl« befindet sich in der Mailänder Dominikanerkirche Santa Maria delle Grazie. Foto: Andreas Schnadwinkel - Repro



Von Andreas Schnadwinkel | WESTFALEN-BLATT

Ganz ehrlich? Das Mitleid hält sich in Grenzen. Auf dem Platz vor der Kirche Santa Maria delle Grazie steht eine Gruppe Touristen und ärgert sich. Offenbar haben sie gedacht, sie könnten mal so eben im Vorbeigehen das berühmteste Wandgemälde der Welt – und abgesehen von der »Mona Lisa« das bekannteste Gemälde überhaupt – im Original betrachten.

Einfach an der Kasse Eintrittskarten kaufen und Leonardo da Vincis »Abendmahl« sehen. Wer so naiv ist, hat es nicht besser verdient. Denn der Weg ins Refektorium der Mailänder Dominikanerkirche erfordert Vorbereitung und ist nicht ganz billig.

Wer eine Städtetour in die lombardische Modemetropole oder von einem der oberitalienischen Seen einen Tagesausflug nach Mailand plant und dabei das »Abendmahl« mit eigenen Augen betrachten möchte, sollte sich mindestens ein halbes Jahr vorher um Karten bemühen. Und selbst dann sind offene Zeitfenster rar.

Die Mailänder Doninikanerkirche Santa Maria delle Grazie.

Einzelpersonen kommen in der Regel nicht in den ehemaligen Speisesaal der Mönche. Man muss eine Führung buchen, und davon gibt es verschiedene. Die Angebote, zum Beispiel auf dem Portal getyourguide.de, reichen von 44 bis 85 Euro pro Person. Die günstigste Variante enthält ausschließlich das »Abendmahl« und dauert 30 Minuten, davon 15 Minuten vor dem Fresko.
Besucher vor dem "Abendmahl"

Besucher müssen auf teurere Angebot ausweichen

Weil diese Tour meistens ausgebucht ist, müssen Besucher auf teurere Angebote ausweichen, die einen historischen Stadtrundgang (68 Euro) oder den Blick von der Dachterrasse des Mailänder Doms (85 Euro) enthalten. Keine Frage: Mit Leonardo da Vincis Meisterwerk wird richtig Geld gemacht. Das »Abendmahl« wird professionell vermarktet. Ob sich Aufwand und Kosten lohnen? Ja.

Vor dem Eingang zum Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie, das zu Fuß etwa 20 Minuten vom Dom entfernt liegt, hat sich keine Schlange gebildet. Weil es keine Karten gibt. Einige Enttäuschte blättern in dem kleinen Foyer durch die Ansichtskarten, bevor sie zurück Richtung Dom gehen. Auf den Steinbänken an der Piazza warten die Leute, die eine geführte Tour gebucht haben, auf ihren Reiseleiter, leicht zu erkennen am Klemmbrett und am Logo der Agentur.

Viele sind viel zu früh, ihr Slot ist erst in einer Stunde. Wer sich diesen einzigartigen Besuch lange im Voraus organisiert hat, der riskiert auf den letzten Metern keine Verspätung. Der Guide hakt die Namen auf seiner Liste ab und fragt die Gäste, woher sie kommen. Italiener, Franzosen und Schweizer stellen die Mehrheit in der 25-köpfigen Gruppe.

Der Guide berichtet von Verschwörungstheorien rund um das Abendmahl.
Etwa 1000 Besucher pro Tag



Die zeitliche Taktung wird minutiös eingehalten. Etwa 1000 Besucher werden hier täglich durchs Refektorium geschleust. Um 13.30 Uhr beginnt der Sicherheitscheck. Taschen müssen weggeschlossen werden. Der Guide verteilt die Headsets und erklärt die Abläufe. Auf seinem Tablet zeigt er Details aus dem Gemälde, auf die zu achten sei. Ein bisschen so wie bei der Verfilmung von Dan Browns »Da Vinci Code« (»Sakrileg«).

Besonders aufmerksam nehmen nur wenige die Worte des Guides auf, weil die Spannung am Limit ist. In aller Ruhe erzählt er, dass Leonardo da Vinci das Wandbild von 1494 bis 1498 im Auftrag des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza schuf und auch Goethe 1788 auf seiner Italienreise hier war.

Da Vinci war nicht der erste Künstler, der sich dem letzten gemeinsamen Abend von Jesus und seinen Jüngern widmete. »Das Abendmahl gehört in Italien, vor allem in der Toskana, seit dem 14. Jahrhundert zum Bildprogramm der Refektorien. Die tägliche Mahlzeit der Mönche soll Erinnerung und Nachfolge des heiligen Mahles sein«, schreibt der Kunsthistoriker Herbert von Einem in seiner Abhandlung »Das Abendmahl des Leonardo da Vinci«.

Mehrfach restauriert und perfekt ausgeleuchtet

Endlich: Pünktlich um 13.45 Uhr öffnet eine Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes die Türen zum Refektorium. Der Speisesaal ist groß, das Fresko auch. Dort ist es, an der Nordwand des Raums.
9 Meter breit und 4,20 Meter hoch. Das »Abendmahl« – über Jahrzehnte mehrfach restauriert und perfekt ausgeleuchtet. Welch ein Anblick. Bis auf drei Meter kommt man heran. Der Guide schweigt aus gutem Grund.

Jetzt werden Fotos, Selfies und Videos gemacht – das volle Programm. Wenn man diesen Moment nicht visuell festhält, welchen dann? Das Sicherheitspersonal muss nicht einschreiten, alles läuft einigermaßen zivilisiert. Man steht sich gegenseitig im Motiv, aber immerhin blitzt niemand.

Vor lauter Fotografieren gerät aus dem Blick, was der Maler hier eigentlich zeigt – und welchen Moment des Abendmahls er festhält. Man sieht Jesus und seine zwölf Jünger, wie sie das traditionelle jüdische Pessachmahl beenden. Doch es herrscht keine besinnliche Stimmung, wie sie dem Anlass angemessen wäre.

Die Jünger sind aufgebracht und gestikulieren wild

Vielmehr sind die Jünger, sechs zur Rechten und sechs zur Linken Jesu, aufgebracht und gestikulieren wild. Kunsthistoriker sind sich relativ einig, dass Leonardo den Betrachter in dieser Szene zum Zeugen machen will – und zwar des Moments, in dem Jesus den Satz sagt: »Wahrlich, ich sage euch, einer unter euch, der mit mir isst, wird mich verraten.«

Und weiter heißt es im Johannes-Evangelium: »Da sahen die Jünger einander an, weil sie nicht wussten, vom wem er rede. Einer von seinen Jüngern lag an der Brust Jesu, der, den Jesus liebte. Diesem winkte Simon Petrus und sagte zu ihm: Sprich, wer ist es, von dem er redet?«

Auf der Barriere vor dem Wandbild ist eine Legende angebracht: mit den Namen der Jünger von links nach rechts. Wo ist Judas, der Verräter? Da Vinci hat ihn zwischen Petrus und Johannes platziert, er fühlt sich ertappt und hält den Geldbeutel mit den 30 Silberlingen fest.

Nichts ohne Absicht arrangiert

»Ist das Thema für Leonardo nur Vorwand zur Behandlung darstellerischer oder psychologischer Probleme, die mit dem Hauptthema nichts oder wenig mehr zu tun haben?«, fragt der Kunsthistoriker Herbert von Einem. Klar ist, dass das Genie auf diesem Bild nichts ohne Absicht arrangierte. Der Dominikanermönch Matteo Bandello, ein Zeitgenosse da Vincis, berichtete über dessen Arbeitsweise: »Doch mochte er eine Stunde oder zwei vor seinem Bilde sitzen, die Figuren anstarren und über sie nachdenken.«

Das würden die meisten der 25 Besucher im Refektorium am liebsten auch. Aber um 13.58 Uhr weisen die Sicherheitskräfte auf das nahende Ende der Besichtigung hin. Ein letztes Foto. Und noch ein allerletztes, als der Saal frei von Menschen ist. Das war’s. Und jetzt? Zum Dom? Oder erst die Fotos in alle Welt schicken?



also erst heute - am 02. mai - ist tatsächlich den 500. todestag von leonardo da vinci - und da hat uns ein redakteur vom "westfalen-blatt" einen sehr lebendigen authentischen bericht mitgebracht von einer exkursion nach mailand - zum "abendmahl"-fresko von leonardo.

vor 500 jahren war die gestaltung eines freskos in den maßen 9 x 4,20 m sicherlich schon ein logistisches meisterwerk. und leonardo ging ja sogar noch ein schritt weiter: er "bildete" nicht etwa eine damals übliche zeitgenössische ikonopraphische abendmahls-darstellung einfach "ab" ... - sondern er "inszenierte" eine bestimmte überlieferte begebenheit bei diesem "letzten abendmahl" in einer besonderen dynamik - wie ein filmregisseur - und schuf damit gleichzeitig eine neugestaltete "ikonographie" für dieses mahl, die dann oft einfloß in neue werke und diese beeinflusste.

dazu gehörte ja auch eine große portion menschenkenntnis, psychologisches einfühlungsvermögen und kenntnisse des nachvollziehens einer damals vorhandenen "gruppendynamischen" und irgendwie traumatischen ausnahmesituation, wie man das wohl heutzutage bezeichnen würde.

leonardo da vinci ist bereits 500 jahre tot - aber er machte bereits sich "einen kopf", als wäre er ein zeitgenosse von uns.

schade - dass er noch keine filme drehen konnte - er hat bestimmt jedes jahr "oscar"-mäßig ordentlich abgeräumt ...

nix für ungut - und chuat choan - und click here ...


klappe --- "houellebecq - die 7. ..."

S!NEDi|graphic:  Da ist der tägliche Kampf gegen das Rauchverbot, weshalb er Rauchmelder in Hotelzimmern manipuliert.
„Serotonin“ von Michel Houellebecq

Gekränkte Männlichkeit

Der Autor Michel Houellebecq veröffentlicht einen neuen Roman. Sein Protagonist könnte sowohl als Sexist, als auch als Feminist gesehen werden.

Von Doris Akrap | taz

Ein Mann, weißer Franzose aus bürgerlichen Verhältnissen, Angestellter, 46, keine Kinder, unverheiratet, hat Depressionen und flüchtet sich in die Einsamkeit. Das Setting ist so gewöhnlich und so oft beschrieben, dass man zu Beginn des neuen Romans von Michel Houellebecq, „Serotonin“, überaus skeptisch ist, ob der französische Bestsellerautor ausgerechnet aus dem Stoff, aus dem nicht nur seine Romane, sondern Dutzende öffentlich-rechtliche Vorabendserien gemacht sind, noch mal was rausholen kann. Er kann.

Der Protagonist heißt Flaurent-Claude, arbeitet im Landwirtschaftsministerium und beendet eine Beziehung feige, indem er spurlos verschwindet. Er kündigt Konto, Wohnung, Job und zieht aus Paris weg. In der Einsamkeit der Normandie findet er aber nicht das, was er sucht: das Glück. So mit sich allein kommen statt großen Glücksgefühlen erst mal Sexfantasien hoch, gefolgt von schmerzhaften Erinnerungen an verpasste Chancen, verflossene Lieben, das Versagen im Job und angesichts von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Missständen.

Hoch kriegt Flaurent-Claude seinen Penis zwar schon noch, aber im Zuge der immer stärker werdenden Depressionen lässt er sich ein Antidepressivum verschreiben. Um wenigstens „Körperpflege, ein auf gute Nachbarschaftsverhältnisse beschränktes Sozialleben, simple Behördengänge“ hinzubekommen, nimmt er dafür die Nebenwirkung des Medikaments in Kauf: Libidoverlust und Impotenz.

Das mit dem Duschen kriegt er in der Folge gerade so hin. Er kann sich sogar aufraffen, zwei alte Bekannte zu treffen und schließlich wieder Hoffnung zu schöpfen; Hoffnung, weil er erkennt, dass Camille die einzige Frau war, die er je geliebt hat, und die ihn verließ, weil er eine Affäre hatte. Jetzt, einige Jahre später, hofft er, wiedergutmachen zu können, was er bereut.

Sex und Fantasien

Wie er im Folgenden versucht, sich ihr zu nähern, welche Vorsicht, welche Zukunfts- und Mordfantasien, welche Ängste, welche Scham, welche großherzige Einsicht dabei eine Rolle spielen und wie das Ganze ausgeht, ist umwerfend erzählt: die Intensität, die der Furor der Liebe erreicht; die Dynamik, die gekränkter Männerstolz entfacht, und die Brutalität, die individuelle Freiheit bedeuten kann – nämlich dass der eine eben anders entscheidet als man es selbst gerne hätte.

Wenn der Mann sich an seine Geliebten erinnert, denkt er nicht nur an ihre Einrichtungs- und Ernährungsvorlieben, sondern auch an ihre sexuellen. Dass Houellebecq das schildert und diese Vorlieben von Dreier bis Sodomie ausführlich beschreibt, ist keine Provokation. Wenn es eine Provokation in diesem Buch gibt, dann besteht sie darin, von Sex und Fantasien zu erzählen, die wir alle kennen und die nicht immer ganz sauber sind, worüber wir aber nicht sprechen.

Die Provokation besteht nicht in Flaurent-Claudes Verteidigung des Wortes „Muschi“ und auch nicht in der Beschreibung von Mösengrößen und deren Feuchtigkeitsgrad und Faltenwurf. Die Provokation besteht darin, zu suggerieren, dass es okay sein müsste, über die individuelle Beschaffenheit von weiblichen Geschlechtsteilen so offen, schnippisch, selbstironisch und unbekümmert zu reden wie über männliche Genitalien.

Ich würde so gar noch weiter gehen und behaupten, es könnte sich dabei um einen feministischen Ansatz handeln. Einen, den ich auch in der Haltung des Protagonisten sehen könnte, der findet, dass „zur Klarheit der Diskussion“ der Ausdruck „junge, feuchte Muschis“ besser geeignet sei, um auszudrücken, was Marcel Proust meint, wenn er von „erblühenden jungen Mädchen“ spricht.

Der alte weiße Mann als Ekel

Flaurent-Claude ist kein sabbernder, pädophiler Sexist, der Frauen nur als Sexarbeiterinnen im Weinberg des Herren betrachtet. Er findet solche Typen (im Roman ist es ein soziophober deutscher Ornithologe, der in einer Ferienwohnung Pornos mit Minderjährigen dreht) abstoßend. Dass er an dem Setting trotzdem voyeuristisches Interesse entwickelt, dass er den Schwanz einzieht und abhaut, anstatt den Täter zur Rede zu stellen oder ihn anzuzeigen, macht Flaurent zum Mitwisser und damit zum Mittäter.

🔵DAS BUCH
Michel Houellebecq: „Serotonin“, DuMont Buchverlag, Köln 2019, 335 Seiten, 24 Euro

Der Roman aber bedient mit der Hauptfigur Flaurent-Claude gerade nicht die Vorstellung vom alten weißen Mann als Ekel, das in der einen Hand die Bierflasche und in der anderen Hand den eigenen Penis hält, während er im Fernseher Fußball, Polittalk oder Tierdoku und in jedem jungen Mädchen nur eine zu fickende Muschi sieht.

Flaurent-Claude ist eine Figur, die sich ihrer Unzulänglichkeiten und ihrer Männerfantasien bewusst ist, ihnen teilweise erliegt, aber auch dagegen kämpft. Er schießt am Ende nicht, obwohl er sich in der Rolle des echten Kerls, der über Leben und Tod entscheidet, gern gefallen würde. Er ist eine Figur, die der Puritanisierung der Gesellschaft und der EU die Mitschuld an der eigenen Misere gibt. Er ist aber auch eine Figur, deren lakonischer Ton einem vor Lachen und Tristesse die Tränen in die Augen treiben.

Da ist der tägliche Kampf gegen das Rauchverbot, weshalb er Rauchmelder in Hotelzimmern manipuliert. Da ist der Psychiater, der als Alternative zu den Antidepressiva Nutten in Thailand oder einfach gleich Morphium empfiehlt. Da ist die Erkenntnis, dass das Sprechen zwischen Liebenden überschätzt wird, da außerhalb von Fragen nach dem Garagenschlüssel oder dem Elektrikertermin das Reich der Debatte beginne, ergo Streit, Entliebung, Scheidung. Und da ist aber auch große Erzählkunst, wenn die Beklemmung, die Scham, die Unfähigkeit zu spüren ist in der Szene, in der Flaurent-Claudes Freund Aymeric ihm gestehen muss, dass seine Frau ihn verlassen hat.

Politische Radikalisierung

Aymeric wollte nicht werden, was sein Vater ist: ein dekadenter Adeliger, der nur geerbt, nichts erschaffen, aber dafür alles versoffen hat. Aber obwohl Aymeric Landwirt wurde, sich „zu Tode geschuftet“ hat, schafft er es nicht, seine Familie zu ernähren – weil die EU-Politik der Milchquoten die Preise in den Keller treibt, glaubt er. Aymeric wird zur Galionsfigur der militanten Proteste der Landwirte gegen diese Politik.

Ob Houellebecq damit, wie von französischen Medien interpretiert, die Gelbwesten-Bewegung vorausgesagt hat, sei dahingestellt. Klar ist, dass die politische Radikalisierung in Houellebecqs Roman zwar auch als Folge wirtschaftlicher Misere, aber mindestens ebenso sehr als Folge von Liebeskummer, Trennungsschmerz und gekränkter Männlichkeit dargestellt wird. Die am Ende des Romans gestellte Frage – Sind wir Illusionen von individueller Freiheit, von einem offenen Leben, von unbegrenzten Möglichkeiten erlegen? – ist die Frage danach, ob individuelle Freiheit auch zu individuellem Glück führt. Eine Frage, die nicht beantwortet ist und auf die man nur sagen kann: Ich hoffe doch.

Man kann das als Paraphrase auf Karl Marx' 11. Feuerbach­these lesen

Der Roman hat so etwas wie ein Vorspiel und ein Nachspiel. Beides beginnt mit dem Satz „Es ist eine kleine weiße ovale, teilbare Tablette.“ Im Nachspiel heißt es dann weiter: „Sie erschafft nichts, und sie verändert nichts; sie interpretiert.“ Die Tablette ist das Antidepressivum, und man kann darüber zunächst sehr lachen, auch wegen der Anspielung auf ihre Form.

Man kann den Satz aber auch als Paraphrase auf Karl Marx’11. Feuerbachthese lesen („Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.“). Und auch kann man ihn als Paraphrase auf das „Hohelied der Liebe“ aus dem ersten Brief an die Korinther des Apostels Paulus lesen: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf … Für jetzt bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung.“

Alle drei spielen eine große Rolle in Houellebecqs Roman. Es wäre also nicht allzu provokant, würde man „Serotonin“ als paulinisches Manifest lesen: Die Ära von Houellebecqs Protagonisten Flaurent-Claude geht zu Ende – hoffen wir, dass danach ein besseres Exemplar von ihm erscheint.


aus der "taz" - montag, 7.januar 2019, kultur - s. 15


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houellebecq's typische schreibe - quelle: unbekannt


Mann braucht Glückshormone

Michel Houellebecqs neuer Roman »Serotonin« erscheint heute

Von Andreas Schnadwinkel | WB

Michel Houellebecq gilt – wie seine Hauptfigur – als misanthropischer Kettenraucher, der  am menschlichen Dasein verzweifelt.


Bielefeld(WB). In seiner Heimat Frankreich sind sich die Rezensenten seines neuen Romans »Serotonin« sicher: Michel Houellebecq hat die Protestbewegung der »Gelbwesten« kommen sehen. Ganz so ist es nicht, aber der Blick des Autors auf die Gegenwart und die Gesellschaft ist so klar wie immer. Heute erscheint das Buch in Deutschland.

Seit »Plattform« (2001) werden dem Schriftsteller wahlweise prophetische, seherische oder visionäre Fähigkeiten nachgesagt. Der Roman endete mit islamistischen Attentaten auf westliche Touristen in Asien – und erschien am 3. September 2001, acht Tage vor den Anschlägen des 11. September 2001. Noch näher sollte »Plattform« ein Jahr darauf an dem Anschlag auf der Ferieninsel Bali mit 202 Opfern sein.

Besser im Gedächtnis ist »Unterwerfung«. Erscheinungstag des Romans, der von der Wahl eines muslimischen Staatspräsidenten in Frankreich handelt, war der 7. Januar 2015. Der Tag, an dem zwei islamistische Terroristen in Paris die Redaktion des Satiremagazins »Charlie Hebdo« stürmten und elf Menschen ermordeten. Auf den Schreibtischen lag die aktuelle Ausgabe: mit einem karikierten Michel Houellebecq auf dem Cover; »Unterwerfung« war die Titelstory.

In der Tat hat der 60-Jährige ein Gespür für soziale und politische Entwicklungen, über das nur sehr wenige verfügen. Aber die »Gelbwesten« hat er in »Serotonin« nicht vorhergesagt. Vielmehr geht es um einen Aufstand von Milchbauern in der Normandie, die Au­tobahnen blockieren und sich Gefechte mit der Polizei liefern. Dass französische Landwirte ihre Interessen durchzusetzen versuchen, indem sie den Verkehr lahmlegen, ist ja nicht neu. Allerdings betont Houellebecq eine neue Militanz und Gewaltbereitschaft, mit der sich die Bauern gegen Billigmilchimporte wehren.

Und so kann man, wenn man möchte, die 336 Seiten als Anti-Globalisierungs-Buch lesen, als Plädoyer für Erzeugnisse aus der Heimat und als Forderung nach Protektionismus. Die Hauptfigur, ein 46-jähriger Agrarökonom, hat für den Monsanto-Konzern gearbeitet und berät jetzt die französische Regierung bei Verhandlungen mit der EU-Kommission. Ginge es nach ihm, gäbe es kein Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten, denn argentinische Aprikosen würden die Obstbauern in Roussillon um ihre Existenzgrundlage bringen. Der Protagonist hat sich damit abgefunden, dass er den Lauf der Dinge nicht ändern kann, und beschäftigt sich mit sich selbst.

In jedem Houellebecq-Roman stehen die Leser vor der Frage: Wie viel Houellebecq steckt in dem Ich-Erzähler? Gemessen an dem, was man über den Schriftsteller weiß, ziemlich viel. Ein misanthropischer Kettenraucher, der ein Agrarstudium absolviert hat und am menschlichen Dasein verzweifelt. Über weite Strecken bekommt das Publikum, was es von einem geübten Provokateur erwarten darf: bestätigte Vorurteile, depressive Auswüchse, ausführliche Sexszenen, Gedanken über Tourismus und Erfahrungen in der Gastronomie. Die erste Hälfte liest sich wie ein »Best of Houellebecq«, wobei der Islam bis auf zwei im Nebensatz erwähnte salafistisch aussehende Internetcafé-Betreiber nicht vorkommt.

Im zweiten Teil ändert sich der Stil deutlich. Unterm Strich geht es um einen an sich selbst leidenden Mann auf der Suche nach Liebe. Einen erst 46-Jährigen, der seine Ex-Partnerinnen aufsucht und meint, sein erotisches Leben hinter sich zu haben – und damit sein Leben überhaupt.


Der wahrscheinlich einflussreichste zeitgenössische europäische Autor beschränkt sich aber nicht auf eine amüsante Revue mit halbwegs ernstem Grundton. Je tiefer die Handlung in die Provinz vordringt, desto tiefer geht es in die verkümmerte Seele der Hauptfigur in ihrem Lebenskampf. Aus dem Gesamtwerk des Franzosen wird eines immer deutlicher: Unglücklich sind immer die Kinderlosen. Vielleicht ist es das, was Michel Houellebecq sagen will.

aus: WESTFALEN-BLATT, Nr. 5, vom 07.01.2019 - S. 21 - Kultur/Fernsehen

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michel houellebecq hat seinen neuen - seinen 7. - roman vorgelegt. und erst neulich habe ich ausführlich zu houellebecq stellung genommen (→ hier) - in einer besprechung zum 1-mann-theaterstück seines romans "unterwerfung" mit edgar selge in hamburg und jetzt in berlin... - und zu einem jüngst erschienen interview mit houellebecq bei "harper's", in dem er donald trump lobt und bewundert.
"houellebecq ist ein sehr genauer beobachter seines (französischen) alltags und des weltpolitischen drumherums, das er nur immer in seiner derzeitigen populistischen unentschiedenheit durch den wäschewringer drehend auspressen muss und versatzmäßig als patchwork mit stift und schreibgerät aufs papier durchformulieren muss: herauskommen dabei können nur dann solche stücke und texte, wie sie hier notiert und bewertet werden" ...
habe ich geschrieben - und dem ist auch nach den beiden besprechungen seines neuesten romans nichts hinzuzufügen.
houellebecq komponiert fast wie ein koch seine bewährten zutaten ins jeweilige roman-menü: ausführlichen schmuddelsex, drugs, melancholie oder besser depression, lebensmüdigkeit und frauenüberdruss - immer mit einem aktuellen gut beobachteten oder sich abzeichnenden schuss zeitgeist- und polit-aspekt - und daraus generiert er dann sein neuestes machwerk.

man darf das lesen - man kann es aber auch lassen - denn es unterhält nur über eine gewisse zeit hinweg: es nimmt (außer lesezeit) nichts weg - es füllt aber auch nicht unbedingt hirnschmalz auf...

neulich hat der alte hamburger bürgermeister von dohnanyi (jahrgang 1928) auf dem "roten sofa" des ndr gemeint, ihn interessiere nur etwas, was ihn trotz seiner lebenserfahrung und seiner ämter "noch weiterbringt - weiterbildet" - also wo er einen "zugewinn" erfährt.
bei houellebecq's "serotonin" wird er und viele andere ein solches geistig-inneres plus wohl weniger finden, so scheint es mir nach den vorliegenden rezensionen.

alle rezensent*innen, derer ich bis heute habhaft werden konnte, schreiben, der neueste romen sei verschieden zu lesen, unter unterschiedlichen aspekten oder herangehensweisen...
man könnte eben auch sagen: "die einen meinen so - die anderen so ..." - also im grunde alles nichtssagend.

houellebecq bedient gern aus marktstrategischen gründen genau diese lücke der nichtfestgelegten und der neugier - und dann mixt er (in frankreich meint man "hellseherisch") vermeintlich folgerichtige quintessenzen aus dem allgemeinen europäischen binnenklima - auch philosophisch und politisch und konfessionell - mit in den shaker - und ... -
genug geschüttelt: flupps - fließt "serotonin" ins glas: "eine kleine weiße ovale, teilbare tablette - sie erschafft nichts, und sie verändert nichts; sie interpretiert."...

ich sage nur - wohl bekomm's - nix für ungut - und chuat choan ...

(update) ganz besonders - ich will leben: das jugendvolxtheater-stück in anlehnung an das leidensporträt von erna kronshage als video der "premiere" ...


vielleicht im vollformat [] abspielen ...

Bei technischen Problemen ggf. auch hier clicken ...
Über das Stück*)

"Ich will Leben" heißt "Ich will nicht tot sein", bedeutet aber auch "Ich wiII dabei sein, dazu gehören, teilhaben", Freunde haben,
alleine sein, weinen und lachen, lieben, lernen mit meinem So-Sein!

Es gibt 7,6 Milliarden Menschen auf der Welt und keiner ist genauso wie ein anderer. Jede*r ist anders als die andere*n und deswegen ist auch jede*r besonders.
Besonders heißt nicht besser oder schlechter, sondern anders. Das Leben hinterlässt Spuren, sichtbare und auch welche, die sich nur erahnen lassen - bei jedem von uns.
Die SpieIer*innen haben sich auf Spurensuche begeben und dabei einiges über sich seIbst entdeckt:
  • Wir sind mehr als unsere Bodymaße, unser Geschlecht, unsere Narben, unsere Fähigkeiten, unsere Träume usw.
  • Was heißt es konkret, anders zu sein als andere?
  • Wie reagieren Mitmenschen, Wenn ich ICH selbst bin, aus der Reihe tanze, sage, was ich denke und fühle?
  • Wie vernichtend kann Intoleranz und Engstirnigkeit sein?
  • Wohin kann Gieichschaltung und Ausgrenzung führen?
Auf dem Hintergrund und mit dem Wissen der Geschichte von Frau Erna Kronshage, die am 12. Dezember 1922 in Senne II (heute Bielefeld-Sennestadt) geboren und am 20.2.1944 ermordet wurde, haben die 8 Spieler*innen die damaligen Ereignisse und das Opfer-Porträt mit den eigenen Besonderheiten und den Menschen im Allgemeinen in Beziehung zueinander gesetzt.

So haben sich Welten aus anderen Zeiten eröffnet, die den Spieler*innen bis dato nicht bekannt waren - und damit gab es die Möglichkeit, Eigenes zu entdecken, das vorher vielleicht erahnt aber nicht wirklich präsent war.

In selbsterarbeiteten Szenen und choreographischen Bildern zeigen sie Ergebnisse aus der gemeinsamen Probenarbeit und lassen zeitweise Parallelen zwischen sich und der Geschichte von Erna Kronshage erkennen.

Es spielen:
Noah Böckelmann, Carlotta Drescher, Tessa Erichsen, Felicia Frey, Linnea Koch, Kim Tabert, Marlene Wohlhüter, Edona Hasani

Team

Spielleitung / Regie: Canip Gündogdu
Lotti Kluczewitz

Technische Leitung: Tim Schwedes

Video: Jann van Husen, Filmanufaktur

Nähere lnfornationen zum Opfer-Porträt Erna Kronshage auf
und weiteren Internetseiten
(Text - unter Verwendung des Aufführungs-Programms des Jugendvolxtheater Bethel)
email: theaterwerkstatt[et]bethel.de
(auch für den Vertrieb der Premiere-CD):


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*) Noch ein paar Anmerkungen zur Abfolge der Szenensequenzen (nach meinen Interpretationen und Wahrnehmungen als Zuschauer) - auch vielleicht als Vorschlag für einen Orientierungs-Kompass für Zuschauer, die sich vielleicht fragen: Was könnte das wohl bedeuten ? ...  - (obwohl: Darstellende Kunst wird ja eigentlich nicht "erklärt"):
  • Es geht also meines Erachtens los mit einer kleinen Persiflage auf den Bomben-Tourismus, wie er 1940 zum Nachbarhof der Kronshages einsetzte nach dem Bombenabwurf eines einsamen englischen Kampffliegers dort (Bombenabwurf aus "heiterem Himmel"), der den Hof fast ganz zerstörte und wobei die junge Nachbarin Ernas getötet wurde und deren Freund schwer verletzt - und diese "Bombentouristen" aus ganz Ostwestfalen dachten wohl: das war's dann wohl mit dem Krieg ("und die Geschicht ist aus" ...) ... - für Erna war dieses nächtliche Bombeninferno in 80 Meter Entfernung mit dem Tod der fast gleichaltrigen Nachbarin und Freundin sicherlich ein traumatisches Erlebnis;
  • dann wird die Alltags-Beschäftigung Ernas, die Landwirtschaft auf dem elterlichen Bauernhof, als "Realität" mit gefaltetem und gedrehtem Papier-Vieh dargestellt;
  • danach dann getanzte und angedeutete "typische" Handlungs-"Figuren" - auch mit dem Hereinbrechen der Nazi-Zeit in die ländliche Idylle;
  • die schwere Last - und das In-die-Knie-zwingen durch das Braune Regime - keiner "tanzt" mehr lange aus der Reihe mit irgendwelchen persönlichen Macken - alle haben sich an- und einzupassen - z.B. in die "extensive" Inanspruchnahme der gesamten Landwirtschaft in ein verpflichtendes Sonderprogramm "zur Ernährung des deutschen Volkes" - und auch Erna als mitarbeitende "Haustochter" war damit unverbrüchlich "dienstverpflichtet";
  • das große Familienfoto der Kronshages - mit individuellen Varianten der Spieler zu ihren eigenen Familienfoto-Erinnerungen ...;
  • ein Blinde-Kuh-Spiel zur Verdeutlichung der allmählichen Vereinsamung Ernas in einer Großfamilie durch Wegheirat der großen Schwestern und Kriegseinsatz der Brüder;
  • die alleinige Arbeitsbelastung des Hofes jetzt auf ihren Schultern - ihre körperliche Überlastung - ihre intellektuelle Unterforderung: "Es geht mir nicht gut" ...
  • die Flucht geht zunächst in die eigene Fantasiewelt;
  • in welchen Situationen geht es den Spielern gut ... - Dialog mit dem Publikum: Zustimmung mit grünen Karten / Ablehnung mit roten Karten - das alles auch zu Attributen Erna Kronshage's - dabei werden die eigenen Porträt-Umrisse der SpielerInnen entsprechend nachmodifiziert;
  • wer bin ich - was bin ich - was sind meine Eigenarten - (mit Anklängen auf das auch irgendwie "überbehütete" "Haustochter"-Dasein Ernas im elterlichen Haushalt - "normale" Haustöchter sind in fremden Haushalten tätig - auch als erste "Loslösung vom Elternhaus"...);
  • wo bin ich selbst und die Spieler in meinem/ihren Sosein "verrückt" und nach gesellschaftlichen Maßstäben "grenzwertig"...;
  • eine eindrücklich zärtliche Szenenpassage zur Sehnsucht nach Liebe, Sicherheit und Geborgenheit;
  • eine immer schnellere Abfolge der Arbeitsinhalte Ernas - ein Abmühen und Knechten - mit knappen Anweisungen und "Befehlen" - vor allen Dingen auch durch Ernas Mutter, die zeitlebens auch neben aller Zärtlichkeit ziemlich "kurzum" sein konnte - aber auch als Skizze auf die Arbeitskolonne in der Heilanstalt, in die Erna abkommandiert wurde: in die "Arbeitstherapie" ...
  • das Kartoffelschälen, das Erna zu Hause und in der "Arbeitstherapie" begleitete - und die Freundinnen, die allmählich über Erna reden - Klatsch & Tratsch;
  • der Originalton Adolf Hitlers "zur deutschen Jugend" - wie er sie sich vorstellt... - und wie die Erblehre, die "Eugenik" das garantieren "musste" ...
  • eine Zusammenfassung des Opferporträts Erna Kronshages
  • mündliche Notizen: die "Zwanssterilisation" - die "Deportation" - der Mord in der Vernichtungsanstalt Tiegenhof;
  • das "Bepflanzen eines Grabes" und das Vorlesen der Aufschrift auf ihrem heutigen "Stolperstein";
  • Schluss
Das ist also als mein Interpretationsvorschlag zu verstehen - so wie ich die Szenen-Collage verstanden und gedeutet habe - jeder Zuschauer sieht darin aber sicherlich etwas anderes und das ist auch gut so - denn "keiner ist genauso wie ein anderer" (s.o.)
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Zur Premiere des Stücks am 02.06. stand in diesem Blog folgendes:

Jeder ist anders und besonders

Jugendvolxtheater feiert mit »Besonders anders – ich will Leben« Premiere

Von Janina Bergemann | WB
Foto: Theaterwerkstatt Bethel | NW

Am Samstagabend war volles Haus in der Theaterwerkstatt Bethel. So voll, dass zusätzliche Stühle rangeschafft werden mussten. Das Stück »Besonders anders – ich will Leben« des Jugendvolxtheaters der Theaterwerkstatt Bethel feierte Premiere und die acht Jungdarsteller gaben auf der Bühne alles. Das Publikum honorierte das mit tosendem Applaus.

In dem Stück geht es um existenzielle Fragen: Wer bin ich? Was brauche ich zum glücklich sein? Was bedeutet es, anders zu sein? Wohin führen Intoleranz und Ausgrenzung?

Im Zentrum steht dabei das Schicksal von Erna Kronshage, die von den Nationalsozialisten verfolgt und am 20. Februar 1944 ermordet wurde. An ihr Schicksal will das Stück, stellvertretend für alle anderen, erinnern. Erna Kronshage wurde 1922 in Senne II (heute Bielefeld-Sennestadt) geboren und arbeitete dort auf dem Bauernhof der Eltern. Als Kronshage 1942 die weitere Mitarbeit auf dem Hof verweigerte, wurde sie vom Amtsarzt in die Provinzial-Heilanstalt Gütersloh eingewiesen. Der Arzt diagnostizierte Schizophrenie, die durch Arbeitstherapie und Elektroschocks behandelt wurde. Schließlich wurde sie zwangssterilisiert und nach Polen transportiert, wo sie ermordet wurde.

Dem Stück und den Darstellern gelingt es durch eine abwechslungsreiche Inszenierung, an das Leben und grauenhafte Schicksal von Erna Kronshage zu erinnern. Oft herrscht Schweigen auf der Bühne, und die Darsteller zeigen ausdrucksstarke und emotionale Tanz-Choreografien. Dialoge und Monologe werden sparsam und auf den Punkt gebracht eingesetzt. Die Mischung aus Spiel und Tanz macht die Emotionalität des Stückes aus.

Ein Highlight ist das Ich-Bin-Fragespiel, bei dem das Publikum mitmachen kann und das auch mit viel Spaß tut. So wird eine Verbindung zwischen den Zuschauern, aber auch eine zum Leben von Erna Kronshage geschaffen. Zu Beginn der Vorstellung hat jeder Zuschauer eine rote Karte für »Nein« und eine grüne Karte für »Ja« erhalten. Abwechselnd machen die Darsteller Aussagen, wie zum Beispiel »Ich hatte schon mal eine Null-Bock-Phase« oder »Ich tue gerne verrückte Dinge«, und die Zuschauer antworten, indem sie entweder die rote oder grüne Karte hochhalten.

Besonders emotional wird es noch einmal nach dem Stück, als der Neffe von Erna Kronshage die Bühne betritt. Edward Wieand hat dem Ensemble die Geschichte seiner Tante nähergebracht und ist sichtlich gerührt und dankbar über die Vorstellung.

WESTFALEN-BLATT, Bielefeld, Dienstag 5. Juni 2018, S. 13  (click here)



Die Mischung aus Spiel und Tanz macht die Emotionalität des Stückes aus. Foto: Thomas F. Starke | WB






ja - ich möchte mal "sichtlich gerührt" doch so stehen lassen - und vielleicht noch in "sichtlich berührt" modifizieren - besonders auch durch die ungeheuerlichen äußerungen des herrn gauland von der afd, der all dieses leid und elend und diese unvorstellbaren einzelqualen ja als "vogelschiss" in der deutschen geschichte abtun will.

und so als meine spontane reaktion auf das stück hier einfach mal meine mail an die akteure des "jugendvolxtheaters" in der "theaterwerkstatt bethel" abdrucken:

Liebe Schauspieler – liebe Regisseure – liebe Helfer – liebes Publikum – liebe Lotti Kluczewitz -
und nicht zuletzt: lieber Canip Gündogdu

Die “Ur-Aufführung” Eures Stückes heute, der ich beiwohnen durfte, ist jetzt 2 Stunden her ...:

Und ich bin immer noch “ganz hin & weg” – wie der Westfale zu sagen und zu meinen pflegt ...

Mir schwirren viele authentische – und ich sagte es ja schon: fast “archetypische” – uralt eingelagerte – innere Vorstellungs-Sequenzen durch den Kopf:
Bilder, die ich teilweise schon seit über 30 Jahren mit mit mir herumtrage zum Schicksal meiner Tante Erna Kronshage -
zu den Bildern, die ihr mir heute mit eurer greifbaren physischen und psychischen und künstlerischen Mühe dazu dargestellt und “geliefert” habt.

Bewahrt Euch bitte diese Sequenzen zu Erna Kronshage – und erzählt sie weiter – immer weiter ...

Ich musste mich – im übertragenen Sinne – schon einige male “kneifen” – um zu überprüfen – ob ich wache oder träume ...:
Eure Darstellungen – Eure Dramaturgie – der Aufbau Eurer “Spannungsbögen”, Kulissen und Raumaufteilungen – Eure Textsicherheit und -originalität – das alles begeistert mich ...

Nochmals allen Beteiligten dazu meinen allerherzlichsten Dank.

Wie gesagt – Erna ist jetzt 74 Jahre tot – und gerade deshalb ist es immer wieder wichtig – mit soviel Respekt und trotzdem munterer Lebendigkeit immer wieder neu über sie zu berichten.

Vielen vielen Dank – wir sehen uns ja noch hoffentlich zumindest bei einem “Abschlussgespräch” im Juli ...

Für Eure nächsten Aufführungen des “Erna”-Stücks – und Eurer weiteren Stücke wünsche ich viel Erfolg – und alles Gute -

und wenn Ihr mal Zeit habt oder Eure Lieben  oder auch die Besucher der nächsten Aufführungen -
clickt bitte hier – und dann blättern - Seite für Seite – 114 x ...:
  und Euren Kindern und Kindeskindern zeigen und vorlesen ...:

XXL - click here

Seid alle herzlichst gegrüßt
Edward Wieand aka S!NEDi