angeregt durch einen artikel in der ZEIT vom schriftsteller maxim biller über ein treffen mit dem lyrikerkollegen durs grünbein -
und ihrem austausch über die chronische "deutsche depression" ... - zitat:
"Du kannst nicht auf Deutsch schreiben und denken", sagte Durs neulich zu mir, als wir uns nach langer Zeit mal wieder getroffen haben, "wenn du nicht ständig das große deutsche Menschheitsverbrechen mitdenkst und -fühlst."
habe ich das allzu glatte porträtphoto erna kronshages von 1941/42 spontan gänzlich überarbeitet mit groben expressiven digitalen filter- und graphicelementen - denn so glatt wie auf dem photo lief es ja nie mit ihr: als "sehr abweisend, frech & schnippisch" wird erna kronshage in der erbgesundheitsakte vom behandelnden ns-arzt beschrieben - und so habe ich mir spontan diese zeilen dazu überlegt - eben zu einer vielleicht ihrem eigentlichen schicksal und ihrem charakter angemesseneren profilgebung dieses ursprünglich so makellosen photos:
:
profil geben :
diese aschfahl wächserne
makellos glatte haut
auf dem originalphoto
mit schrunden und knicken malträtieren
um der bodenlos gläsernen tiefe
im nachhinein doch noch
etwas grund zu verleihen
zu zeichnen . schraffieren
zu ritzen . zu falten
verknubbeln
das sepiatönerne photopapier
und zerreißen
in seine bestandteile
zu fetzen
in tropfen und spritzern
und geschnipsel
um es dann farbig
neu zusammenzupuzzeln
jedes ich benötigt sein du
um zu sein und zu wachsen
. zu werden
was man dann auch mit "zuneigung"
bezeichnet . und mit "sinn" .
mit vorsicht und nachsicht umschreibt
denn von nichts kommt nichts
und wenn sie dich schon so früh
in ihrer verirrung schließlich
entsorgt und verschickt
. verscharrt haben
eingetrocknet . verschrumpelt
und ausgetrocknet
muss man doch endlich
dem kalten wachs
nach all den jahren
zuckend sein herzblut übertragen
um in und mit ihm ein neues
beleben zu ranken
und ein aufsprießen
entwickeln . und ein aufdecken
wie die blattspitze
eines neu ankommenden
sich ausrollenden farns
die abdeckenden pflasterverbände
abreißen .
damit diese narben sichtbar werden .
die einstiche und die
verschorften schrunden wunden
mitten in dieses kurze leben geritzt
in einem lang nachrostenden
ächzenden donnerschlag
nach 484 tage andauernden
zittrigem grollen .
schwarzseufzend . ausröchelnd
in der sandig irdenen ruhe dann
. danach
e.w. . 18.04.2021
background:
ist nicht jede zeile, jede strophe, jede lyrik im grunde eine bildbeschreibung : die beschreibung und formulierung eines inneren oder äußeren bildes . immer in der (unbewussten) reflexion mit geist und persönlicher geschichte . input . output ...
der südafrikanische porträtmaler ryan hewett (*1979) oder benon lutaaya (1985-2019) aus uganda bevorzugen eine art des porträtierens, die nicht so sehr das äußere abbild einer person zeigt, sondern vielmehr ein portal präsentiert, durch das sich der betrachter selbst mit auf die reise in sein inneres begeben kann, um sich im dialog mit der abbildung zu entdecken. es sind fließende gedächtnisprozesse und eine vielzahl an täglichen bildeinflüssen, die kreative vorstellungskraft so mitbeeinflussen.
in der corona-zeit - oder vornehm und wissend heißt das auch: covid-krise - habe ich mich schwer getan, hier mein blog angemessen zu bespielen, mit kultur & spiritualität und son gedöns.
aber neulich sah ich bei instagram den account eines sehr berühmten schauspielers, der knapp am iffland-ring vorbeigeschrabbt ist,
und der auch fotos macht - und ich glaub auch gedichte und son zeugs - und der ne alte alditüte aus echtem luxusleder "entworfen" hat, mit der er nichtsesshafte an einem verrotteten graffiti mauerstück wohl zu beglücken bedachte - also bei dem aufm account bei instagram sah ich seine zufalls-fotoserien - und da hat es "zoom" gemacht:
sinedi, hab ich mir gesagt, mensch eddy, hab ich mir gesagt: nach instagram gehst du partout nicht - aber du hast doch da so einen etwas verwaisten blog, den du wieder neu beleben kannst, mit deinen smartphonefoto-serien - und spontan-gedichten - die du in die logitech-tatstatur hackst - neben den begleitmaterialien zu den hauptthemen der website: eddywieand-sinedi.de :
damit etwas lebt in dieser zeit - wo ja - wie der (öster-)reichskanzler kurzum meint - wo niemand mehr niemand treffen darf - oder so - aus lauter ansteckungsgefahr - mach es mit dir selbst - himself - kurzum - mach es an und für sich - selbst ...
also - du bist zeuge - hier & jetzt - einer neuen leibesfrucht-erweckung hier im blog:
Entwurf eines "#Corona-Kirchfensters: sinedi.mach.@rt
Im Mittelalter wurden ja oft auch weltliche Ereignisse als Motive in Kirchenfenstern festgehalten - oft als gestaltetes Dankgebet für eine Seuche, für die Pest, oft auch Bittgebets- und Andachts-Inhalte.
Dazu fand ich einen ganz aktuellen Beitrag im internet-auftritt der faz:
Flügel der Lüfte: Fensterverglasung in der Münchner Heilig-Kreuz-Kirche - DPA/faz
Himmelwärts atmen
VON BRITA SACHS - faz.net
Auf den Fenstern der Heilig Kreuz-Kirche im Münchner Stadtteil Giesing sind seit wenigen Monaten 1200 Röntgenaufnahmen von Lungen zu sehen. Jetzt haben sie pandemische Brisanz erlangt. Als vorigen Herbst die letzten Scheiben eingesetzt waren und damit die neuen Fenster von Heilig-Kreuz in München-Giesing vollendet, ahnte niemand, welche Aktualität dieses Kunstwerk bald erhalten sollte: Die Fenster zeigen Lungen. Genauer rund 1200 Röntgenbilder der menschlichen Lunge, also jenes Organs, dem das Virus gerade so heftig zusetzt. Flüchtig betrachtet wirken die Bilder der sieben Fenster im Chor wie ein leicht variiertes Ornament. Bei genauerem Hinsehen lassen sie das Lungenmotiv erkennen, sanftes Licht fällt hindurch, taucht den Kirchenraum in leicht gedämpfte Helligkeit, mit der Sonnenstand und Witterung spielen.
Zwei Jahre nach einem 2014 ergebnislos verlaufenen Wettbewerb wandte man sich an Christoph Brech und fragte den in München lebenden Foto- und Videokünstler, ob er mit einem neogotischen Gesamtkunstwerk genauso gut umgehen könne wie mit mittelalterlicher Kunst.
... Brech entdeckte einen formalen Ansatz: ... die Flügelform der Lunge korrespondieren mit den Schwingen der Engel...
„Und da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in die Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen“, so steht es in der Genesis; der erste und der letzte Atemzug definieren unser Leben. Die Riesensammlung von 1200 Thorax-Aufnahmen zitiert die Schöpfung des Menschen in ihrer Diversität und Einzigartigkeit. Durch den Blick ins Körperinnere fällt Äußeres weg, Hautfarbe, Geschlecht, Alter spielen keine Rolle, „was bleibt“, so der Künstler, ist „das Urmenschliche“.
Auszug aus: faz.net
________________________________
Ich erinnerte mich einer Graphic-Bearbeitung der Lunge, die ich mal vor einiger Zeit für ein Gedicht erstellt hatte - und die sogar von einem Lungenfacharzt-Kongress in Österreich als Flyer-Titelbild verwandt wurde, nachdem man artig um Verwendungserlaubnis nachgesucht hatte. Ich weiß nun gar nicht mehr, ob im Impressum mein Name als Schöpfer des Kunstwerkes genannt worden ist.
sinedi.mach.@rt: "Thorax-Graphic" 19.07.2014 - als Ausgangspunkt - und nachstehend das damalige gedicht - noch ganz ohne #coronavirus:
grüne lunge wenn die grüne lunge
geröntgt wird
dieser frischluft-blasebalg
einatmen - ausatmen
und wieder einatmen
luft anhalten
und wieder ausatmen
so - ich werte jetzt das bild aus -
und wenn alles okay ist
kann es ja wieder herbst werden ...
und sie können sich wieder anziehen
das bild ist so i.o.
aber da blickt jetzt
noch der facharzt durch
ob da schatten sind
oder tb vielleicht
oder ob etwa diese lauwarmen legionellen
oder schwarz-klumpige verquarzungen gar
wenn die grüne lunge
geröntgt wird
dieser frischluft-blasebalg
einatmen - ausatmen
und wieder einatmen
luft anhalten
luft anhalten
luft anhalten
nicht mehr ausatmen
nie mehr ausatmen
halten sie mal die luft an ...
nicht weiteratmen ...
sinedi 2014
Auf alle Fälle bastelte ich jetzt aus meiner "Thorax-Graphic" nun auch mein virtuelles Kirchenfenster (die Einzelkomponenten müssten hier und da "in echt" dann etwas nachjustiert werden...) - mein "#Corona-Fenster" zum Bitten und Danken und Meditieren - und zum tiefen Ein- und Aus- und Aufatmen, wenn wir einigermaßen klar mit dem neuen Virus umgehen können und "fertigwerden".
________________________ wenn schon wegen der corona-krise die gesamte kultur zum erliegen kommt, dann muss wenigstens online an den heutigen welttag der poesie gedacht werden. dieser welttag der poesie wurde zum 21. märz von der unesco ausgerufen. er wird seit 2000 jedes jahr gefeiert. er soll an „die vielfalt des kulturguts sprache und an die bedeutung mündlicher traditionen erinnern“. ich habe deshalb zu diesem tag aus den annalen meiner text-archive diese vielleicht lyrisch anmutenden zeilen hervorgekramt.
gestern drehten sich die windräder wippend abgefedert im nebelgewölk nachts zermalmen sich fledermäuse tagsüber streben rebhühner nach oben ist der regen ein segen oder verhagelt er uns den august auf der tesa-rolle nur noch ein rest vom mantelbogen-abenteuer zur letzten einkommenssteuererklärung ich kann warten. im 6-aus-49-lotto 2 x 3 richtige da lacht der vereins-präsident leicht feucht und schwitzend nee - die spuren nicht ordentlich da muss ein anderer zug rein wer hat das lila gebetsband an das schuster-dreibein geknotet der wind allerdings weht wo er will und zwinkert wie aufgeblüht um die wahrheit zu vertuschen sinedi
auf eine fläche im himmel gestarrt die durch diffuse muster im ausguckfenster zusätzlich struktur gewinnt bleiben nach dem schließen der augen weiße schatten hinterm lid
das wort "sinedi" - aus dem italienischen übersetzt - zeigt im DeepL.translator "synästhetiker" als ergebnis an
tja - und diese kraken diese einfachen kraken schreiben sich lyrik mit der jeweiligen poetischen verfärbung ihres sensiblen schuppenkleids und lachen sich glucksend halbtot
oben rumpert's im takt der hat die boxen hochgedreht und dröhnt sich zu irgendwann muss er ausgestiegen sein seitdem tropft blaugraues wasser aus der rinne er geht oft ans fenster klappt es auf und wieder zu immer wieder neu er hat längst verlernt die zeit gemäß in farbe zu tauchen wenn er mich um einen spitznamen bitten würde: ich fände "engerling" ganz passend - so blass wie eingerollt so greis wie ein embryo
was wohl sein gänzliches austrocknen verhindern könnte mit der sprühflasche jedenfalls hat er sich verschluckt bekam blaue lippen und schnappatmung sinedi
da habe ich etwas hinter mir gelassen endlich ich bin durch es lag immer vor mir wie eine feuerqualle die in der sonne glänzt und die energie war wie türen zuklappen darüber bin ich hinweggeschritten ich weiß nicht mehr ob ich starr geradeaus geschaut habe oder ob ich aus den augenwimpern aus den augenwipfeln aus dem blickwinkel den schatten fixiert habe aber da war gar kein schatten mehr wenn ich mir das bild zurückrufe war da gar kein schatten da lagen nur 6 angerostete nirosta-stangen wohl von einem grill halb mit sand bedeckt halb hineingesteckt ich habe hastig fixiert ob mich dabei jemand beobachtet hat
aber alles war ruhig möwen unkten und würgten an viel zu großen bissen und der wind säuselte still bis der tornado kam über alles was sich bewegte und nicht bei drei auf dem baum war sinedi
Früher haben Künstler und Wissenschaftler optimistisch in die Zukunft geschaut. Heute ist die Dystopie zum Mainstream geworden und könnte sich zur selbsterfüllenden Prophezeiung entwickeln – dabei ginge es auch ganz anders
„Wir haben für bestimmte Dinge, die wir gerade entstehen sehen, eigentlich noch keinen Begriff“, meint der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl im Dokumentarfilm „Near and Elsewhere“.
FOTO: DÉJÀ-VU FILM
Die Zukunft ist schon jetzt eine Katastrophe. Klimawandel, Insektensterben, autoritäre Politiker und neue, schwer einschätzbare Technologien wirken wie die bedrohlichen Boten einer kommenden Zeit, die nichts Gutes bereithalten kann.
Die Zukunft jetzt schon als Katastrophe? Muss das sein? Natürlich ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, was alles schiefgehen könnte und vielleicht sogar für den schlimmsten Fall vorauszuplanen. Aber nur die Vorboten einer Katastrophe zu sehen schränkt die Perspektive ein und lenkt das Denken in vorbestimmte Bahnen. Auch, weil der möglicherweise kommende Untergang so zunehmend als unvermeidlich erscheint und nicht mehr als eine Möglichkeit unter vielen.
Eine solche Vorstellung von der Unvermeidbarkeit der Zukunft ist eigentlich Merkmal eines religiös geprägten Geschichtsbildes. Seit der Aufklärung war dieser Determinismus überwunden, nun kehrt er in der Form populärwissenschaftlicher Erzählungen sowie dystopischer Science-Fiction-Romane und Filme wieder in die Köpfe zurück. Diese Art von Erzählung ist besonders mächtig, denn es sind gerade die Fiktionen, die unsere Vorstellung von der Zukunft stark in eine Richtung lenken können.
Das dachten bereits die Romantiker, in deren Schriften sich oft das Politische mit dem Persönlichen zu einer Welt, wie sie sein könnte, verband. 1826 erschien Mary Shelleys Roman „The Last Man“ („Verney, der letzte Mensch“), in dem eine Seuche die Menschheit dahinrafft. Der Roman der „Frankenstein“-Autorin wurde auch als negative Wendung der Ideale der Aufklärung gelesen. Eine schlechte Zukunft ohne göttlichen Einfluss war denkbar geworden, genauso wie der alles besser zu machen versprechende Fortschritt. Es entstand ein Bewusstsein der Katastrophe und der Rolle des Menschen darin.
Obwohl das 20. Jahrhundert von Zukunftsängsten geprägt war, schien Besserung in Sicht zu sein
Wie in den philosophischen Theorien dieser Zeit findet sich in den Kunstwerken die Perspektive eines Menschen wieder, der im Angesicht einer überwältigenden Macht auf sich selbst zurückgeworfen wird, was einen Reflexionsprozess in Gang setzt. Die Vorstellung der Katastrophe und der Rolle des Menschen in ihr eröffnet im Umkehrschluss ein Spektrum alternativer Möglichkeiten. Es könnte auch ganz anders kommen, es könnte alles anders sein, als es jetzt ist.
Vielleicht sortierte sich in den folgenden Jahrzehnten die Welt deshalb aus dieser säkularen Geisteshaltung einer offenen Zukunft heraus in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft vollkommen neu. Die konkurrierenden Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts–Kapitalismus und Kommunismus, Demokratie und Totalitarismus – lassen sich auch als verschiedene Entwürfe von Zukunft verstehen.
Dabei ging es nie nur um Katastrophen – Katastrophen waren diese Zukunftsentwürfe höchstens für die anderen –, sondern um Utopien, um bessere Welten. Parallel zu den Weltuntergangsszenarien entwickelte nicht nur die Politik, sondern auch die Kunst solche besseren Welten, die in manchen Fällen direkten Einfluss auf die Gegenwart nahmen. Der geostationäre Satellit wurde von dem Sci-Fi-Autor Arthur C. Clarke erfunden und ist heute Wirklichkeit. Die sich im 19. Jahrhundert formierenden Nationalstaaten bezogen Teile ihrer Identität aus literarischen Texten. Gerade die Literatur hat eine wichtige Funktion für das Denkbarmachen von Zukunft und Alternativen zur bestehenden Ordnung.
Obwohl das 20. Jahrhundert von vielen Zukunftsängsten geprägt war, schien das, was kommt, doch die meiste Zeit über besser werden zu können als das, was schon war. Vielleicht versteckt sich in der anhaltenden Nostalgie für die verschiedenen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auch eine Sehnsucht nach der Zukunft, die sie einst versprachen. Zu Ende war es mit der offenen Zukunft mit dem Untergang der Sowjetunion, wenn auch zunächst unter positiven Vorzeichen. Plötzlich schien es, als bestünde die Zukunft nur noch aus Demokratie, Kapitalismus und stetig wachsendem Wohlstand – ohne Atomkriege und Diktaturen. Diese Annahme war etwas voreilig, sie war aber nicht falsch in ihrer Feststellung einer Verengung der möglichen Zukunftsszenarien.
Diese erscheinen nämlich etwa von der Jahrtausendwende an wieder zunehmend apokalyptisch und dazu auch noch zunehmend alternativlos. Der Möglichkeitsraum der Zukunft, den die Moderne eröffnete, blieb bestehen, verengte sich aber. Von Jugendbüchern wie Suzanne Collins’ „Die Tribute von Panem“ bis zu Romanen wie Cormac Mc Carthys „Die Straße“ sind die Dystopie und der Weltuntergang in den letzten Jahren zum Mainstream geworden. Utopien gibt es nur noch als Nostalgie. „Star Trek“ – einst die Vorwegnahme einer klassenfreien Gesellschaft im amerikanischen Fernsehen – ist jetzt ein Remake.
Diese Tendenz zur Katastrophe als einzige verbleibende Möglichkeit zeigt sich längst auch jenseits der Fiktionen. Nick Bostrom zum Beispiel ist Direktor des The Future of Humanity Institute an der Universität Oxford und hat ein ganzes Buch mit mehra ls 20 Aufsätzen über verschiedene Bedrohungsszenarien für die Zukunft der Menschheit herausgegeben, von kaum kalkulierbaren kosmischen Katastrophen bis zu den Gefahren eines Atomkriegs oder einer globalen Epidemie. Auch in künstlicher Intelligenz sieht er vor allem eine existenzielle Bedrohung und hat darüber ein ganzes Buch geschrieben.
Zuletzt sind auf Deutsch seine gesammelten Aufsätze „Die Zukunft der Menschheit“ erschienen. Darin warnt er ebenfalls vor dem drohenden Ende der Menschheit und ruft die „Vermeidung existenzieller Risiken als globale Priorität“ aus. Das ist verdienstvoll, schließt aber auch in den positiven Szenarien ein Ende der Menschheit, wie wir sie kennen, ein. In seinen Aufsätzen schwärmt Bostrom von einem Posthumanismus, auf den angeblich jeder technologische Fortschritt unvermeidbar hinausläuft.
An Katastrophenentwürfen mangelt es nicht, aber die Utopie müssen wir neu erlernen
Dass der Fortschritt dem Menschen viele ungeahnte Möglichkeiten und Verbesserungen seiner Lebensumstände bereiten kann, steht außer Frage. Auch ist unstrittig, dass sich der Mensch in den folgenden Jahrhunderten verändern wird. Es ist aber bezeichnend für diese Haltung der Propheten einer möglichen und angeblich erstrebenswerten Gesellschaft aus Supermenschen, dass sich die Hälfte der Aufsätze Bostroms in dem aktuellen Buch mit der Frage der Vereinbarkeit von Menschenwürde und der Verbesserung des Menschen auseinandersetzen.
Ganz ähnliche Vorstellungenvonder drohenden Katastrophe und der Verschmelzung des Menschen mit Nano-Robotern oder Datenströmen finden sich auch in den Büchern des Google-Chefentwicklers Ray Kurzweil und des Historikers Yuval Noah Harari. Und der amerikanische Physiker Michio Kaku entwirft in seinem aktuellen Buch „Abschied von der Erde. Die Zukunft der Menschheit“ eine posthumane Zukunft im Weltraum. Eine gute Zukunft gibt es nur noch zu einem hohen Preis, meistens den der gesamten Menschheit.
Das, was kommt, scheint wieder quasireligiös determiniert zu sein. Es gibt kein Kontinuum an Möglichkeiten mehr, sondern nur noch einen eng umgrenzten Bereich von Katastrophen, die so oder so ähnlich eintreten sollen: Künstliche Intelligenz wird vielleicht zur Bedrohung und selbst wenn nicht, dann müssen die Menschen irgendwie mit ihr verschmelzen und trotzdem verschwinden. Der Klimawandel ist eigentlich schon nicht mehr aufzuhalten. Die Demokratie ist in der Krise und hat vielleicht auch ganz ausgesorgt. Das Muster wiederholt sich, Alternativen zu diesen Prophezeiungen sind keine in Sicht.
Vor Kurzem lief der Dokumentarfilm „Near and Elsewhere“ im Kino, der zeigte, dass eine Diskussion über die Zukunft aus diesen Mustern ausbrechen kann und muss. „Wir haben für bestimmte Dinge, die wir gerade entstehen sehen, eigentlich noch keinen Begriff“, meint der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl in dem Film. Vogl, der auch ein Buch über das Zaudern geschrieben hat, weist in dem Film darauf hin, „dass wir lernen müssen, bestimmte Automatismen abzustellen“.
An Katastrophenentwürfen mangelt es derzeit nicht, was fehlt, ist das kurze Innehalten des Menschen und die Reflexion in ihrem Angesicht. In Utopieentwürfen und ihren dystopischen Pendants geht es selten um die Zukunft, sondern meistens um die Gegenwart. Diese sollte sich nicht nach den Prophezeiungen richten, sondern die Erzählungen einer Welt, wie sie sein könnte, zur Analyse dessen nutzen, was ist. Damit die Katastrophe nicht zur einzigen Alternative wird.
Süddeutsche Zeitung, S. 12 - Feuilleton, Freitag, 3. Mai 2019
_____________________________________________
statt eines herzzerreißenden aber mutmachenden kommentars möchte ich hierzu den text abdrucken eines abgenudelten operetten-solos aus dem "land des lächelns" von franz lehar, das richard tauber so unvergleichlich intoniert hat:
Ich trete ins Zimmer, von Sehnsucht erbebt, Das ist der heilige Raum, in dem sie atmet, in dem sie lebt, sie meine Sonne, mein Traum. Oh klopf nicht so stürmisch, du zitterndes Herz, Ich hab dich das schweigen gelehrt. Was weiß sie von mir, von all meinem Schmerz, Von der Sehnsucht, die mich verzehrt. Auch wenn uns Chinesen das Herz auch bricht, Wen geht das was an, wir zeigen es nicht. Immer nur lächeln und immer vergnügt, Immer zufrieden, wie's immer sich fügt. Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen, Doch wie’s da drin aussieht, geht niemand etwas an. Ich kann es nicht sagen, ich sage es nie, Bleibt doch mein Himmel versperrt. Ich bin doch ein Spielzeug, ein Fremder für sie, Nur ein exotischer Flirt. Sie hat mich verzaubert, sie hat mich betört, Wie Haschisch, wie purpurner Wein. Es kann ja nicht sein, dass sie mich erhört, Doch im Traum darf ich selig sein. Sie soll es nicht merken, nicht fühlen, oh nein. Wen kümmert mein Schmerz, nur mich ganz allein. Immer nur lächeln und immer vergnügt, Immer zufrieden, wie’s immer sich fügt, Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen, Doch niemals zeigen sein wahres Gesicht. Immer zufrieden, wie’s immer sich fügt, Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen, Doch wie’s da drin aussieht, geht niemand' etwas an. _______________________________________ uns als trost.bonus - noch'n gedicht von sinedi: