"
Posts mit dem Label BLOG 358 werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label BLOG 358 werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

BLOG 358: Zum 27.01.

BESCHEID-WISSEN

Wissenslücken sind weit verbreitet


Von Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus

Gastbeitrag im Tagesspiegel vom 27.01.2023

Die Ergebnisse der jüngsten Studie der Jewish Claims Conference über das Wissen und die Wahrnehmung der Shoah in den Niederlanden müssen uns alarmieren: Danach war der Hälfte der Befragten nicht bekannt, dass im Holocaust sechs Millionen Juden ermordet wurden. Auf die Frage, ob sie den Namen eines Konzentrations- oder Vernichtungslagers nennen können, wusste nur ein Drittel der Befragten eine Antwort. Etwa 25 Prozent der Personen unter 40 hält die historische Darstellung des Holocausts für übertrieben oder sogar erfunden.

Bei uns mögen die Zahlen im direkten Vergleich etwas besser aussehen, aber auch hierzulande sind die Wissenslücken über den Holocaust groß und verzerrte Wahrnehmungen über das von Deutschland ausgehende Menschheitsverbrechen weit verbreitet.

Wir brauchen eine Erinnerungskultur, 
die nicht nur vermittelt, 
was damals geschehen ist...

Falsche Vorstellungen, wer im Widerstand und wer Opfer war

So glaubt etwa ein Drittel aller Deutschen, ihre Vorfahren seien im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv gewesen, während dies tatsächlich nur ein Bruchteil war. Über ein Drittel der Deutschen ist der Ansicht, dass ihre Vorfahren Opfer des Nationalsozialismus sind, ein Bild, das heutzutage auch medial immer wieder verbreitet wird.

Um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie es überhaupt zum Nationalsozialismus kommen konnte, sind solche Verzerrungen der geschichtlichen Wirklichkeit aber absolut kontraproduktiv.

Wie richtig erinnern angesichts der alarmierenden Befunde?

Wenn das „Nie wieder“ handlungsleitend sein soll, müssen wir versuchen, historische Handlungsspielräume aufzuzeigen, ohne die Geschichte zu verfälschen. Wie und wessen sollten wir uns vor dem Hintergrund der erwähnten alarmierenden Befunde also erinnern, um sowohl den Opfern und den historischen Fakten gerecht zu werden als auch Anknüpfungspunkte zu bieten für gegenwärtige Perspektiven?

Wir brauchen eine Erinnerungskultur, die nicht nur vermittelt, was damals geschehen ist, sondern auch diese zivilisatorische Kernbotschaft transportiert. Eine Erinnerungskultur, der es gelingt, den wachsenden zeitlichen Abstand zur Shoah zu überbrücken und eine Verbindung zur Gegenwart herzustellen. Angesichts der Tatsache, dass bald keine Überlenden des Holocausts mehr unter uns sein werden, kommt den Gedenkstätten in Zukunft als letzten authentischen Orten eine größere Bedeutung zu. Wir sollten es nicht nur ihnen und den Schulen überlassen, Bildungsangebote in der Erinnerungskultur zu machen. Ich sehe hier ebenso Betriebe, Behörden, Sportvereine und die Familien gefordert.

Die zahlreichen bereits bestehenden Gedenkangebote möchte ich dabei zuallererst jedem und jeder empfehlen, auch außerhalb von Gedenktagen. Sie reichen von Projekttagen bei Schulen, Veranstaltungen und Initiativen in kleinem Maßstab, in der eigenen Nachbarschaft, wie sie etwa seit den 1980er Jahren in den vielen lokalen Geschichtswerkstätten angestoßen wurden, bis zu offiziellen und vielbesuchten Ereignissen wie um die Jahrestage der Novemberpogrome. Zu diesem Anlass einen Stolperstein in der eigenen Straße zu reinigen und dort im Rahmen einer Gedenkveranstaltung Blumen abzulegen, kann ein sehr verbindendes Ereignis sein, das zum Austausch anregt und den Blick auf die eigene Umgebung in lebendige, eigene Bezüge setzt.

Wissen, welche Vernichtungsdynamik von diesem Land ausging

Wir sollten die Erinnerungskultur hin zum „Recht auf Bescheidwissen“ weiterentwickeln: Insbesondere die jüngere Generation in Deutschland, gleichgültig ob autochton oder zugewandert, hat das Recht, Bescheid darüber zu wissen, was in diesem Land passiert ist und welche Vernichtungsdynamik von ihm ausging. Dies ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, sich in unserer Gesellschaft erfolgreich bewegen zu können.