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vergeben heißt noch lange nicht: vergessen

Eva Mozes Kor - sinedi.bild-bearbeitung nach einem dpa-foto von julian stratenschulte




Tod einer Auschwitz-Überlebenden 

Eva Mozes Kor stand für Vergebung

Von Barbara Nolte | Tagesspiegel (click)

Foto: The Times | twitter
Das Foto ging um die Welt: Eva Mozes Kor, wie sie dem früheren Auschwitz-Wachmann Oskar Gröning die Hand reicht. Die Szene, die 2015 beim Prozess gegen Gröning aufgenommen wurde, symbolisierte, warum Eva Mozes Kor unter Auschwitz-Überlebenden so umstritten war. Bereits in 90er Jahren hatte sie sich entschlossen, den Nazis zu vergeben. Sie erklärte ihre Haltung einmal als „Akt der Befreiung“, um endlich den Hass abzuschütteln, der zuvor ihr Leben vergiftet habe.

Dabei stand Gröning sogar gelegentlich an der Rampe von Auschwitz, wo Eva Mozes Kor im Mai 1944, zehnjährig, zusammen mit ihren Eltern und drei Schwestern ankam. „Der Anblick ließ uns damals versteinern: Das war eindeutig kein Ort, an dem Menschen leben, sondern an dem sie sterben“, so berichtete sie vor zweieinhalb Jahren bei einem Berlin-Besuch. Sie war im Marriott am Potsdamer Platz einquartiert.


Kor war Teil von Mengeles Zwillingsexperimenten

Damals saß sie im Foyer auf ihrem Rollator: eine sehr gepflegte Frau in türkisfarbenem Seidenanzug, zierlich wie ein Kind. Ihre Haare blond und leicht zerzaust. Auf der Rampe habe ein Uniformierter auf sie und ihre Schwester Miriam gedeutet und gefragt, erzählte sie. „Sind das Zwillinge?“ Ihre Mutter habe gezögert: „Ist das gut?“ Ja, soll der SS-Mann geantwortet haben und zerrte die Mädchen mit sich fort. Ihr letzter Blick auf die Mutter, die die Arme nach ihr ausstreckt, ist Mozes Kor noch im Gedächtnis.

Das Bemerkenswerte an Eva Mozes Kor war weniger ihre Selbstheilungsmethode, die auf viel Unverständnis stieß, sondern dass sie so detailliert über ein Verbrechen berichten konnten, das sich bis heute schwer erforschen lässt: Mengeles Zwillingsexperimente. Unklar ist schon, wie viele Kinder betroffen waren. Schätzungen schwanken zwischen 300 und 3000.

Eva Mozes Kor erinnert sich an eine Baracke mit hunderten Zwillingen, ein ehemaliger Pferdestall mit drei Löchern im Boden: den Latrinen. Jeden Morgen seien die Kinder schweigend „wie eine Horde“ in die Labore getrottet. Dort trieben ihnen die Ärzte Nadeln in die Arme, für Infusionen, von denen die Kinder nicht wussten, um welche Substanzen es sich handelte.
Beim Interview im Marriott legte Eva Mozes Kor ihrem Gegenüber immer wieder ihre winzige Hand mit rosa lackierten Nägeln auf den Arm. Sie wirkte nie weinerlich, eher schelmisch: Zum Beispiel als sie davon berichtete, wie sie nachts Kartoffeln aus der Küche gestohlen hatte. Einmal sei sie erwischt worden, aber ihr sei nichts passiert. Mengeles Zwillinge genossen in Auschwitz besonderen Schutz. Doch wenn einer starb, wurde der andere umgebracht. Er war für die Forschung unwichtig geworden.

30 Jahre lang schwieg Kor

Eva Mozes Kor hat die Auschwitz-Geschichtsschreibung um eine psychologische Dimension bereichert. In den Baracken sei wenig gesprochen worden, erzählte sie zum Beispiel, denn jeder sei aufs Überleben fixiert gewesen. „Wenn meine Schwester gesagt hätte: ,Wir werden sowieso alle sterben.’ Was hätte ich damit anfangen sollen?“ Ihre Eltern hätte sie lange gehasst, erzählt Mozes Kor, weil sie sie nicht vor Auschwitz bewahren konnten. Die Familie stammte aus Rumänien. Die Eltern hatten erwogen, nach Israel auszuwandern, und es wieder verworfen.

Eva Mozes Kors Leben nach Auschwitz teilte sich in zwei Hälften: 30 Jahre hat sie gar nicht über ihre Erlebnisse gesprochen. Nicht mal mit der Zwillingschwester Miriam oder dem Ehemann, der ebenfalls von den Nazis interniert worden war – sie hatte ihn in Israel kennen gelernt, und war später mit ihm in die USA gezogen. In den darauffolgenden 30 Jahren hat sie über kein Thema häufiger gesprochen als über Auschwitz.

Das Ganze begann, als Eva Mozes Kors’ Schwester in den 80er Jahren Nierenprobleme hatte, mutmaßlich Spätfolgen der Experimente. Eva Mozes Kor hoffte, dass sich die Behandlungsmöglichkeiten verbessern würden, wenn sie Näheres über die Krankheitsursache herausfände. Erst las sie viele Mengele-Biografien, in denen aber nichts Konkretes über die an ihnen vorgenommenen Experimente stand. Deshalb beschloss sie, andere Überlebende zu befragen. Die Schwestern machten schließlich 122 Männer und Frauen ausfindig und gründeten das „Children of Auschwitz-Nazi’s Deadly Lab Experiments Survivors“ (C.A.N.D.L.E.S.).

Eigenes Holocaust-Museum

Eva Mozes Kor fand zwar keine Erklärung für die Krankheit der Schwester, dafür ihr Lebensthema: 1995 machte sie in ihrer Heimatstadt Terre Haute, Indiana, eine eigenes Holocaust-Museum auf. Im selben Jahr zog sie erstmals das Unverständnis der Auschwitz-Überlebenden auf sich, als sie den ehemaligen Lagerarzt Hans Münch zur Gedenkfeier anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers 50 Jahre zuvor einlud. Münch sei doch reuig, erklärte sie damals. Außerdem habe er die Funktionsweise der Gaskammern beschrieben, was eine bedeutsame Zeugenaussage gegen Revisionisten sei.

Trotz des vieles Gegenwinds und fortschreitenden Alters reiste Mozes Kor unermüdlich durch die Welt, um über die Gräuel der Nazis Zeugnis abzulegen. Am Donnerstag, bei der jährlichen Reise von C.A.N.D.L.E.S. nach Auschwitz, an der diesmal auch ihr Sohn teilnahm, starb sie mit 85 überraschend in Krakau. Am Tag zuvor, berichtet ihr Anwalt Markus Goldbach, hatte sie noch eine Besuchergruppe durch das Konzentrationslager geführt.

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vergeben heißt ja noch lange nicht: vergessen... - man sagt das zwar so schnell dahin: "das ist längst vergeben und vergessen" - aber alle wissen eigentlich: das ist eine milchmädchenrechnung. man kann wohl vor seinem eigenen gewissen demjenigen, der einem etwas angetan hat, vergeben - aber man wird die "tat" sicherlich mit sich rumschleppen, ein lebenlang...

wenn es nicht zu einem traumatischen ereignis kommt, das die erinnerung auslöscht - etwa bei hirnerschütterungen oder tumor-operationen am hirn - werden gerade erschreckende panische erlebnisse gut reproduzierbar im langzeitgedächtnis gespeichert, wenn auch so "zurechtgeschnitten", dass man damit (über)leben kann.

eva mozes kor hat ja als kleines mädchen mit 10 jahren diese schrecklichen dinge an sich und anderen erlebt: den verlust der familie - und die zwillingsversuche eines irren verrannten ns-arztes an ihr und ihrer schwester. und sie musste diese traumatischen erlebnisse  volle 30 jahre zunächst in ihren herzen bewegen - und nach außen hin schweigen.

vielleicht ist das auch das gängige verarbeitungsmuster dieser ns-zeit, denn auch in den deutschen familien wurde ja direkt nach dem kriegserleben zunächst - oft für lange zeit - geschwiegen...

und es kamen den (mit-)tätern von damals zupass, denn sie hatten ja ein großes interesse, das erlebte zu  v e r schweigen.

als jüdin stand frau kor ja den alttestamentarisch biblischen grundsätzen: auge um auge - zahn um zahn sicherlich irgendwie näher - aber gleichzeitig auch dem prozess der "tschuwah" und das versöhnungsfest "jom kippur", für umkehr und vergebung  - und all den hass und den groll zu dem erlebten hatte sie in sich hinein"gefressen" - im wahrsten sinne des wortes - denn es wurde darinnen - in ihr - ja nicht verdaut oder abgebaut - nicht verarbeitet - und nicht "integriert" - eher im gegenteil: es blähte sich auf über die jahre...

erst als sie für sich und andere das "erlebte" wieder bewusst werden ließ und bearbeitete, als sie als zeugin zu ns-gerichtsverhandlungen flog und ihr privates holocaust-museum einrichtete und sich aktiv um die recherchen zu der erkrankung ihrer schwester bemühte, konnte sie das erlebte "fruchtbringend" in sich aufnehmen und bearbeiten: und das alles war ja eher ein gedenken und erinnern als ein vergessen: vergeben und versöhnen bedeutet nicht gleichzeitig vergessen und freisprechen und "schwamm drüber"... - sonder ein "auseinander-setzen" im guten sinn.

das giftige abgelagerte sediment der verdrängung wurde nun umgewandelt in fruchtbare humuserde...: es war ein „akt der befreiung“, um endlich den hass abzuschütteln, der zuvor ihr leben vergiftet habe, so beschrieb sie das selbst.

und so ist sicherlich auch dieses "vergeben" zu bewerten: als selbsttherapie: doch ihr "vergeben" heißt noch lange nicht "vergessen".