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die zeitgemäße modifizierung der wissenschaftlich betriebenen "euthanasie"...

AUF DIESER IMMER SCHIEFER WERDENDEN EBENE GIBT ES KEINEN HALT MEHR...


Erst die Marktwirtschaft, dann der Schutz der Hochrisikogruppen? Menschenschlange in einem israelischen Ikea-Markt, der letzte Woche wiedereröffnet hat. Bearbeitetes Foto von REUTERS





Lockerungen in der Corona-Krise 

Vor steilen Abhängen

Von Shimon Stein und Moshe Zimmermann. tagesspiegel


Die Debatte um die Lockerung der Pandemie-Maßnahmen: Werden Risikogruppen im Unterbewusstsein von vielen schon wieder zu „Ballastexistenzen“?

Die Schwachstelle der Corona-Pandemie war früh zu identifizieren, in Italien, in Spanien und nun in Israel – die Altersgruppe Ü65. Diese Gruppe trifft die Pandemie am tödlichsten, und die Kapazitäten der Krankenhäuser sind vor allem wegen dieser Schwachstelle überfordert. Was in den Altersheimen vieler Länder passierte, führte zum Protest.

Wieso reichten die Kapazitäten nicht aus? Wieso versagen die Gesundheitssysteme? Doch es gibt immer mehr Befürworter einer entgegengesetzten Kritik: Kritik am Staat, der, um die Kurve abzuflachen, also vor allem um ältere Leute vor einer Infektion zu schützen, die Mehrheit der Gesellschaft fatal trifft. Wenn es um die Verteilung und Knappheit der Ressourcen, um das Entweder-Oder geht, meinen diese Kritiker, darf man von der Rücksicht auf die Hochrisikogruppe zurückrudern.

Beim Versuch, mit diesem Dilemma zu hadern, fällt einem geschichtsbewussten Israeli auch der Vergleich mit der schlimmsten Katastrophe ein. Absurd, aber wahr: Der Nationalsozialismus scheint, gleichsam als Negativkompass, meist relevant zu sein.

Die NS-Zeit bietet sich für Analogien an, egal ob es um Rassismus, Rechtsextremismus, Hyper-Nationalismus, Menschenrechte geht. Zwar wird der allzu häufige Griff zu derart Vergleichen mit Recht kritisiert – aber oft kann er als Denkanstoß konstruktiv sein.


Wird in Fragen von Leben und Tod jetzt ausgewählt?

Solche Vergleiche gibt es, in Israel allemal. Ein Vergleich mit dem Teufel, der automatisch als Provokation gedacht oder bewertet wird, ist außerordentlich effektiv. Auch in der gegenwärtigen Debatte um die Regierungs- und Verfassungskrise in Israel wird dieser Vergleich häufig bemüht, beim Thema Demokratie, Gewaltenteilung oder Notverordnungen.

Es kann also nicht überraschen, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie Assoziationen mit der NS-Zeit wecken. Umso mehr beim israelischen Beobachter, bei dem das Thema Katastrophe die pawlowsche Reaktion hervorruft, nämlich die Erinnerung an den Holocaust.

Die Welt, mit wenigen Ausnahmen, entschied sich in der jetzigen Krise für die soziale Distanzierung, um die Pandemie zu bekämpfen und die Infizierten-Kurve abzuflachen. Diese Entscheidung verfolgt im Endeffekt zwei praktische Ziele: der Überbelastung der Krankenhäuser zuvorzukommen und den Massentod in der Hochrisiko-Gruppe zu verhindern.

Es ist die Kontroverse um eben diese Ziele und Maßnahmen, die eine NS-relevante Assoziation zulässt, ja, provoziert: Menschenleben retten um jeden Preis? Oder in Zeiten der Not bei Fragen von Leben und Tod eine Auswahl treffen?

Damals ging es vor allem um den Krieg als Herausforderung. Die Antwort im Namen der sogenannten Volksgemeinschaft hieß: Um diese Gemeinschaft in Zeiten der Not und Knappheit zu ernähren, dürfen Menschen, die nicht zu ihr gehören, ausgestoßen werden. Im Hintergrund stand die Erfahrung der Not des Ersten Weltkrieges.

Das NS-System entschied sich entsprechend für die „Euthanasie“ und die Ausrottung von „Ballastexistenzen“. Mit Hilfe der Eugenik und der Rassenlehre gab es eine angeblich sozioökonomisch wie auch ethisch fundierte Rechtfertigung für diese Politik. Klar: ein Extremfall mit spartanischen Wurzeln.

Der soziale Darwinismus kommt in Fahrt

Aber dieser Extremfall ist mutatis mutandis als Trigger für die Beobachtung der gesellschaftlichen Reaktion auf das neue Virus im Prinzip nicht von der Hand zu weisen. In dem Moment, in dem die Gesellschaft bei der Entscheidung über die (auch vermeintliche) Rettung von Menschenleben eine Selektion vornimmt, befindet sie sich auf Glatteis.

Nicht allen, die an der Diskussion um die Lockerung der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beteiligt sind, ist bewusst, dass sie sich auf einem rutschigen Abhang bewegen. Doch im Unterbewusstsein eines Teils der Bevölkerung zeichnet sich eine Sichtweise ab, die die Angehörigen der Risikogruppe im Endeffekt als „Ballastexistenzen“ wahrnimmt.

Auch das Wort Risikogruppe durchläuft eine Mutation: Gemeint ist weniger das Risiko für diese Gruppe, sondern eher das Risiko, das von dieser Gruppe für die Gesellschaft ausgeht. Darf der Preis für den Schutz dieser Gruppe Massenarbeitslosigkeit, eine schwere Wirtschaftskrise und die Gefährdung der Lebensqualität der Mehrheit sein?

Ja, nach der Phase der Solidarität kommt vielerorts der soziale Darwinismus in Fahrt, der Wunsch nach dem Prinzip des Überleben des Stärkeren. Vor allem dort, wo die nichtsoziale, neoliberale Marktwirtschaft herrscht, in Amerika, England, Israel.

Um zu verstehen, wohin diese Denkweise führen könnte, ist der Extremfall als Denkanstoß nützlich: Das NS-System war bereit, „unwertes Leben“ zu beseitigen, bei Deutschen die so genannte Euthanasie durchzuführen, Millionen Menschen in Osteuropa absichtlich verhungern zu lassen und ein ganzes Volk von „Schädlingen“, nämlich die Juden, auszurotten, um den angeblich wertvollen Ariern das Leben zu garantieren. Für die, die vor solchen Assoziationen zurückschrecken gilt die Warnung: „Wehret den Anfängen“.

Bereits vor 32 Jahren, als das israelische Obergericht darüber entscheiden sollte, ob der Wunsch von Eltern eines kranken zweijährigen Kindes nachgegangen werden darf, dem Kind den Gnadentod zu ermöglichen, brachte der Oberrichter Menachem Alon das Beispiel der NS-Euthanasie als Warnung: „Unsere Generation weiß Bescheid, wie steil dieser Abhang ist“. Heute nimmt man nicht nur die nicht endende Isolierung der Hochrisikogruppe in Kauf, sondern auch den Tod einer großen Zahl der Personen aus dieser Gruppe, falls Einschränkungen für die gesamte Gesellschaft massiv ausfallen sollten.

An der "Front" steht jetzt die Hochrisikogruppe

Einer der populärsten Psychologen Israels posaunte seine Botschaft unter der Überschrift „Lass mein Volk ziehen, aus der Corona-Quarantäne“ heraus: Da bislang die Corona-Toten im Durchschnitt 81 Jahre alt waren und das durchschnittliche Sterbealter im Lande bei 82 liegt, wäre es sinnvoll, so der Psychologe, das Risiko einzugehen und die Restriktionen fallen zu lassen.

Derartige Argumente kommen gut an, wie den vielen TV- Panels zu entnehmen ist. Weil die Millionen von Menschen, die wegen der Maßnahmen ihre Jobs verloren haben, darin die Lösung sehen, nicht zuletzt weil der Sozialstaat in den letzten Jahren durch den kapitalistischen Minimalstaat und seiner Ideologie ersetzt wurde.

Dass der bekannte Schriftsteller Abraham B. Jehoshua seine Bereitschaft verkündete, am Virus an Stelle einer jungen Person zu sterben, hilft, das schlechte Gewissen zu besänftigen. Regierungschef Netanyahu konnte zum Holocaust-Gedenktag heuchlerisch sein Bedauern über den Corona-Tod von Holocaust-Überlebenden aussprechen, während sein Sohn die Chuzpe hatte, die Teilnehmer einer Anti-Bibi-Demo per Tweet zu beschimpfen: „Hoffentlich kommen die alten Toten aus Ihren Reihen“.

Kein Vergleich mit dem Extremfall NS. Richtig. Und doch: Hinter dieser Strategie der Lockerung, wie der Diskurs in den USA, England und nun auch in Israel zeigt, steht eine politische Ideologie.

Es geht um die neoliberale, einen Minimalstaat befürwortende Denkweise, die auch in normalen Zeiten im Gesundheitsbereich eine darwinistische Selektion ermöglicht, deren Opfer die schwächeren in der Gesellschaft sind – und die nun nicht davor zurückschreckt, die Hochrisikogruppe zu opfern.

Früher, auch im Zweiten Weltkrieg, reichte die Tatsache, dass es im Krieg vor allem junge Leute sind, die „für das Vaterland fallen“, um die Ausmerzung der „Ballastexistenzen“ zu legitimieren. In der jetzigen Katastrophe, anders als im Krieg, muss die junge Generation nicht zum Schlachtfeld. Jetzt steht an der Front die wenig brauchbare Hochrisikogruppe.

Die Versuchung, diese „Lösung“ systemisch zu praktizieren, ist besonders groß. Wenn sogar in Israel, wo die Erinnerung an die Shoah so stark ist, dieser Abgrund sich öffnet, kann es weltweit überall, wo der darwinistische Neo-Liberalismus wegweisend ist, auch passieren. Daher gilt es, den liberalen Sozialstaat als Bollwerk zu verteidigen.

Shimon Stein war Israels Botschafter in Deutschland (2001-2007) und ist zur Zeit Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheit Studien (INSS) an der Tel Aviv Universität.

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Die Intensivstation eines Krankenhauses in Paris - bearbeitet nach © Lucas Varioulet/​AFP/​Getty Images


Was hat Frankreich mit den Alten gemacht?

Sediert statt gerettet: In Frankreich mehren sich die Indizien dafür, dass Patienten auf dem Höhepunkt der Pandemie nach Alter selektiert wurden.

Von Tassilo Hummel, Paris | ZEIT.de

Am Vormittag des 15. April erhielt Gabriel Weisser einen Anruf. Ein Arzt teilte ihm mit, dass seine Mutter am Coronavirus erkrankt sei. "Er sagte, er sei gegen 5.30 Uhr morgens bei ihr im Altersheim gewesen", erzählt Weisser, der in Blodelsheim im Elsass wohnt. Sie habe Fieber gehabt und gehustet. "Als einzige Maßnahme hat er ihr Palliativmedikamente verordnet. Also in Wirklichkeit hat er sie gar nicht behandelt. Sie wurde zum Tode verurteilt." Gabriel Weisser schluchzt. Seine Mutter Denise wurde 83 Jahre alt.

Ihr Fieber sei am Morgen nur leicht gewesen und auch ihre Lungenkapazität habe noch bei 85 Prozent gelegen, erzählt Weisser. Trotzdem versuchte der Arzt erst gar nicht, sie zu heilen, sondern verschrieb ihr Medikamente, die ihr ein friedliches Einschlafen ohne Schmerzen ermöglichten – und das, ohne Gabriel und seine Geschwister vorher überhaupt zu sprechen. Erst fünf Stunden später rief er sie an und informierte sie über seine Entscheidung. Schon am gleichen Nachmittag fand eine Pflegerin Weissers Mutter tot im Bett.

"Sie hätten es wenigstens versuchen können", insistiert Weisser. "Dass man das den älteren Menschen antut, in einem großen Land wie Frankreich, dem Land der Menschenrechte, das ist schrecklich."

Wurde der Zugang zu Krankenhäusern erschwert?

Wurden in Frankreich in der Hochphase der Corona-Welle ältere Patienten systematisch benachteiligt? Geschichten wie die der Weissers, aber auch vieles andere, deuten darauf hin. Offiziell beteuert die Regierung, dass das Gesundheitssystem den vielen Patienten jederzeit gewachsen gewesen und es nicht zur Triage gekommen sei, dass die Krankenhäuser also nicht auswählen mussten, wen sie noch behandeln und wem sie nur den Tod erleichtern. Aber was, wenn die Krankenhäuser deshalb nicht überlastet waren, weil die Patienten dort gar nicht erst ankamen?

"Man hat dafür gesorgt, dass die Menschen aus den Altersheimen nicht mehr in die Krankenhäuser kommen", sagt Michel Parigot. Er streitet seit Mitte der Neunzigerjahre für mehr Transparenz und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Damals warnte er Frankreich vor den Risiken, die mit dem Baustoff Asbest verbunden sind, mit dem seine Pariser Uni verseucht war. Zusammen mit anderen Anti-Asbest-Aktivisten gründete er das Bündnis "Coronavictimes", Corona-Opfer. Seit Wochen wirft Parigot den Verantwortlichen in Frankreich vor, in der Corona-Krise systematisch ältere Menschen zu benachteiligen.

In anderen Ländern gibt es gar keine Zahlen

Der Aktivist, der hauptberuflich als Mathematiker beim Pariser Forschungsinstitut CNRS arbeitet, sagt, das zeige bereits ein Blick auf die Zahlen: Von den bisher etwa 20.000 Corona-Toten in Frankreich starben mehr als 8.000 in Alten- und Pflegeheimen. Die Weltgesundheitsorganisation sagte auf einer Pressekonferenz am Donnerstag, bis zu 50 Prozent der Todesfälle in Europa könnten von Heimen herrühren. Allerdings legen die meisten Länder anders als Frankreich gar nicht offen, wie viele Menschen genau in Pflegeheimen am Virus gestorben sind. Vielleicht ist das Problem also in Frankreich gar nicht größer als anderswo, sondern nur besser sichtbar.

Am Mittwoch zitierten die Investigativjournalisten der Zeitung Le Canard enchaîné aus einer internen Verwaltungsvorschrift, die das Gesundheitsministerium am 19. März für die medizinischen Einrichtungen erlassen haben soll. Darin heiße es, Ärztinnen und Ärzte seien angehalten, den Zugang von gebrechlichen Patienten auf die Intensivstationen drastisch zu reduzieren. Eine Statistik der Krankenhausverwaltung in Paris, die ZEIT ONLINE vorliegt, zeigt, dass sich die Altersstruktur der Patienten in den Intensivstationen in den Tagen nach dem Erlass der Vorschrift tatsächlich merklich veränderte. Waren am 21. März noch rund 20 Prozent der Intensivpatienten über 75 Jahre alt, betrug ihr Anteil zwei Wochen später nur noch sieben Prozent. Der Canard enchaîné führt außerdem an, dass in besonders von Corona belasteten Regionen wie dem Elsass der Anteil älterer Menschen in den Krankenhäusern geringer sei als in weniger belasteten Regionen und dass jetzt, da die Krankheitswelle langsam abebbe, wieder mehr ältere Menschen intensivmedizinisch behandelt würden.

Die Beweisführung ist schwierig

Der Gesundheitsaktivist Parigot verweist auch auf ein Dekret der Regierung, das für die Dauer des Epidemie-Höhepunkts eine Palliativbehandlung mit schmerzlindernden und sedierenden Medikamenten auch außerhalb von Krankenhäusern ermöglicht. Im Internet entstand daraufhin Panik, befeuert besonders von rechtsextremen Kreisen: Will die Regierung gezielt ältere Menschen sterben lassen, um stattdessen jüngere in den Krankenhäusern zu behandeln? Die staatlichen Stellen stellten schnell klar, dass dies Falschnachrichten seien. Es ginge darum, die Schmerzen von unheilbar kranken Patienten an ihrem Lebensende auch dann lindern zu können, wenn das normalerweise dafür verantwortliche örtliche Krankenhaus aufgrund der Pandemie keine Plätze mehr habe, um einen würdevollen Tod zu ermöglichen.

Aus Trauer wird Wut

Für seinen Vorwurf, das System habe Menschen in Alten- und Pflegeheimen systematisch benachteiligt, stützt sich Michel Parigot auf die Berichte von Menschen, deren ältere Angehörige gestorben sind. Wie schwierig es wird, den Beweis zu erbringen, wo es doch im ganzen Land an Tests fehlt, weiß auch der Aktivist. "Man müsste Obduktionen machen", sagt Parigot. Ihm geht es aber vor allem um die Haltung der Regierung: Indem sie sagten, es fände keine Selektion der Corona-Infizierten nach Alterskriterien statt, hätte sie die Franzosen getäuscht. "Man hätte zugeben müssen, dass nicht mehr alle behandelt werden können und die Kriterien offenlegen müssen, nach denen Mediziner entscheiden." Anders als in Deutschland gibt es in Frankreich keine medizinethischen Richtlinien, wie Patienten in Überlastungssituationen zu priorisieren sind.

Gabriel Weisser, der im Elsass um seine Mutter trauert, sagt, er leide enorm unter dieser Intransparenz. Die dreißig Tage vor ihrem Tod habe er seine Mutter wegen der Quarantänemaßnahmen im Heim schon nicht mehr sehen können. Nach ihrem plötzlichen Tod "hätte ich mir wenigstens ein Gespräch mit der Pflegerin oder dem Arzt gewünscht, um zu verstehen, nach welchen Kriterien da entschieden wurde". Doch auf ein solches Gespräch wartet er auch eine Woche später noch vergeblich.

Während Gabriel Weisser im Elsass trauert und verzweifelt, reagiert Olivia Mokiejewski mit Wut. Ihre 96-jährige Großmutter ist ebenfalls in einem Pflegeheim am Coronavirus gestorben. "Bis kurz vor dem Tod meiner Großmutter hat die Heimleitung bestritten, dass es dort überhaupt Covid-19-Fälle gab", sagt die Pariser Journalistin. "Wir wissen aber, dass Angestellte zu diesem Zeitpunkt bereits wegen starken Verdachts auf Corona krankgeschrieben waren, einige waren sogar schon im Krankenhaus."

Pfleger ohne Handschuhe und Mundschutz

Mokiejewski berichtet, im Heim seien zwar seit Anfang März Besuche untersagt, beim Skypen mit ihrer Großmutter Hermine habe sie aber bemerkt, dass die Pflegerinnen und Pfleger ohne Handschuhe und Masken arbeiteten. Sie konnte bei ihren täglichen Videoanrufen verfolgen, wie sich der Zustand ihrer Großmutter verschlechterte. "Ich habe sie immer müder gesehen, sie ist während des Gesprächs eingeschlafen. Ich habe sie husten gesehen", erzählt Mokiejewski. "Ich habe das der Heimleitung in mehreren E-Mails und Telefonaten mitgeteilt. Man sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie haben einfach keinen Arzt gerufen." Als eine Altenpflegerin Ende März Fieber bei ihr feststellte, sei schließlich doch ein Arzt gekommen, der auch die Enkelin beschwichtigte: Alles sei gut. Mokiejewski, mit ihrer Geduld am Ende, bat daraufhin einen befreundeten Arzt, selbst im Heim nach der Großmutter zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt lag die Großmutter bereits im Sterben. Mokiejewski spricht von einem Skandal.

Zusammen mit einem Rechtsanwalt geht sie jetzt auch juristisch gegen das Heim vor. Träger der Einrichtung ist der große Pflegekonzern Korian, in dessen frankreichweit 60 Einrichtungen offenbar bereits Dutzendende Corona-Erkrankte verstarben. "Der Konzern muss mir jetzt Rechenschaft ablegen", sagt Mokiejewski.

Korian hat in der Sache inzwischen einen Strafverteidiger beauftragt. Auf Anfrage von ZEIT ONLINE teilt er mit, das Unternehmen überlasse die Aufarbeitung des Falles nun der Justiz und wolle ihn nicht weiter kommentieren.

Anders als Mokiejewski macht Gabriel Weisser dem Altersheim im elsässischen Fessenheim, in dem seine verstorbene Mutter Denise jahrelang lebte, keinen Vorwurf. "Die sind wie wir alle auch das Opfer eines Systems, das in der Krise versagt hat." Zwar hat auch er sich mittlerweile rechtlichen Beistand gesucht, zielt juristisch dabei aber deutlich höher: Auf den französischen Gesundheitsminister Olivier Véran. Ihn will Weisser mit einer Klage vor einem Sondergericht für Regierungsmitglieder für das systemische Versagen seines Landes verantwortlich machen.

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Coronavirus: 31 Tote in Altersheim
Schuld daran sind vermutlich die Pflegekräfte.

In Seniorenheimen ist die Angst vor dem Coronavirus besonders groß. (Symbolbild)
bearbeitetes. bearbeitetes Foto: imago images / localpic




Das Pflegeheim in Dorval bei Montréal hat insgesamt 130 Bewohner. Die Gesundheitsbehörden fanden die Senioren in erschreckendem Zustand: Zahlreiche Personen lagen dehydriert und unterernährt in ihren Betten. Es soll in manchen Zimmern stark nach Urin gerochen haben.

Mindestens fünf der 31 verstorbenen Bewohner waren zuvor an Covid-19 erkrankt. Woran die anderen Senioren starben, prüft derzeit ein Gerichtsmediziner, berichtet der „Spiegel“.

Wie kam es zu den erschreckenden Zuständen im Heim?

Aus Angst vor einer Coronavirus-Erkrankung sind die Pfleger dem Heim fern geblieben. Francois Legault, Regierungschef von Quebec, habe Ermittlungen wegen grober Fahrlässigkeit angekündigt.

Meldung mit Bild: der westen 


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ich bin erschrocken. ich hätte nicht gedacht, dass mich beim thema #corona-krise dieses eine meiner grundthemen - nämlich "euthanasie", sozialdarwinismus, selektion der unbrauchbaren, "ballastexistenzen" u.a.m. so rasch über den weg laufen wird - und eigentlich, wenn auch modifiziert, mit der gleichen wucht, wie wohl vor 70-80 jahren...

der sozialdarwinismus, den man im laufe der zeit übersetzt mit so unschuldigen vokabeln wie "nichtsoziale, neoliberale marktwirtschaft" schlägt also bei einer weltweiten gesundheitskrise einmal mehr zu: zuerst ganz langsam - und dann mit aller wucht! 

uralte reflexe kommen zum tragen: der sieg der stärkeren über die schwachen - die ausgrenzung der nicht mehr leistungsfähigen - aber nun nicht mehr nur ihre auch schon skandalöse abschiebung in heime und asyle, sondern nun nimmt man ihnen durch selektion und auslese und nichtversorgung auch noch - wie vor 80 jahren im nationalsozialistischen deutschland ebenfalls - das recht zum (über)leben.

wenn man also liest, dass in erster linie "die alten", die "vorerkrankten" sterben bei der covid-19-ausbreitung, muss man sich nach diesen drei artikeln ja schon fragen, ob da vielleicht medizinisch bewusst oder unbewusst bei den sterblichkeitsraten in den altersklassen eine auslese zum tragen kommt: wo man also nicht mehr "beatmet" und wiederbelebt,sondern vielleicht nur noch "palliativ" begleitet, für einen sanften tod bei den alten. und nur noch die beatmungsgeräte einsetzt für diejenigen, für die es sich "noch lohnt" - die es "verdient" haben...

es ist klar: in überforderten kliniken muss man nach einer durchgeführten "triage" abwägen - eine einteilung und abstufung der gefährdung - eine reihenfolge der hilfeleistungen und maßnahmen, eine "to-do-list" nach prioritäten. ethisch ist das allemal sehr schwierig zu entscheiden - und mit dem "gewissen" wohl erst recht nicht.

aber es ist auch so bei einer brandschutzübung, wenn einem der übungsleiter klarmacht, dass man ein völlig verrauchtes treppenhaus, in dem vielleicht sogar noch menschen sind, nicht mehr als prioriät setzt, sondern andere gebäudeteile nun primär zu schützen hat vor übergriffen des feuers, auch mit dem risiko, dass man nicht allen menschen im moment gleichzeitig helfen kann.

ähnliche entscheidungen sind zu treffen an jedem unfallort mit mehreren verletzten... - und nur einem ersthelfer oder arzt vor ort ...

aber solcherart einzelfallentscheidungen dürfen nicht "global" auf  ganze gesellschaftsteile oder altersgruppen übertragen werden und zur "haltung" werden bei entscheidungen über aktivität und passivität der behandlungen und therapien, mit überlegungen etwa zur "wirtschaftlichkeit" - ohne kommunikation vor ort, und quasi "stickum" - sozusagen zur allgemeinen norm gemacht werden.

es muss immer um verantwortbare einzelfall-entscheidungen gehen - und um die frage, ob die betroffene person für sich eine explizite entscheidung getroffen hat für oder gegen "lebensverlängernde maßnahmen", oder diese mit den angehörigen kommuniziert hat.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hält es für falsch, bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie allein dem Lebensschutz die höchste Priorität einzuräumen. "Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig", sagte Schäuble in einem Interview mit dem Tagesspiegel. "Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen", erklärte er. Diese sei unantastbar, schließe aber nicht aus, "dass wir sterben müssen".  
Der Staat müsse für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. "Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben", sagte der 77-Jährige: "Mit allen Vorbelastungen und bei meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, Jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher." ("Tagesspiegel")

man hört eben derzeitig überproportional viel von den "covid-19-brutstätten" in altenheimen und den "vielen opfern", die dort jeweils zu beklagen sind - aber es müsste ja auch in anderen ähnlichen wohnformen zumindest ähnlich gehäufte probleme geben (z.b. studentenwohnheime, herbergen, krankenhäuser, unterkünfte, wohngemeinschafts-anlagen usw).

und wenn donald trump vor 2 wochen auf dem weltmarkt verzweifelt beatmungsautomaten ordern wollte - und sie 2 wochen später der ganzen welt "wegen überproduktion" zum kauf anbietet - bekommt das unter dieser prämisse für mich wenigstens ein "gschmäckle"...

ich bin auch schon 73 - und bin hypertoniker und diabetiker - und da muss ich mir ja die frage stellen:
gehe ich bei einer eventuellen erkrankung auf die "intensivstation" - oder doch gleich ins "hospiz" - zur entsorgung unter humanen prämissen...???

gute nacht - ich werde wohl noch etwas wach liegen ...

vom leben & vom tod

Die Notlage einer Krankenhaus-Seelsorgerin während der Coronavirus-Pandemie

Wie tröstest du das Leiden, wenn du nicht in den Raum darfst?

Von Elizabeth Barber - THE NEW YORKER

Die Krankenhausseelsorgerin Kaplanin Kaytlin Butler sagt,
die Arbeit der Gesundheitsdienstleister sei heilig.
Foto von Caroline Tompkins für The New Yorker


Kaytlin Butler, Klinik-Seelsorge-Kaplanin im Mount Sinai Hospital in Manhattan, sagt den Kranken oft, dass sie nicht allein sein müssen. Sie sagt es ihnen auch jetzt noch, wenn Krankenhäuser viele Patienten daran gehindert haben, Besucher zu empfangen. In den letzten Wochen hat Butler es ihnen telefonisch gesagt und das blanke Leiden in Räumen aufgesucht, die niemand außer maskiertem medizinischem Personal betreten kann. Sie hat es den Familien der Patienten gesagt, auch telefonisch. Und wenn eine Patientin sediert ist und keine Familie gefunden werden kann, hat sie vor der Tür gebetet und darauf vertraut, dass sich die Person im Bett durch das unbeschreibliche Etwas, das sie "Gott" nennt, mit ihr und mit jedem verbunden fühlt, aber für das viele verschiedene Menschen auch viele Bezeichnungen und Namen haben. Butler ist es egal, ob sie es auch "Gott" nennen. Sie kümmert sich ausschließlich darum, dass sie sich geliebt fühlen.

Die 26-jährige Butler ist eine von acht Seelsorge-Kapläne im Spiritual Care-Team des Mount Sinai Hospital. Ihr Team mit vier Mitgliedern besteht aus zwei Rabbinern, einer nicht ordinierten jüdischen Frau, einer Sieben-Tags-Adventistin, einer vom Buddhismus inspirierten Frau und einer evangelischen Christin. Das Krankenhaus wird außerdem auch von zwei katholischen Priestern betreut, die von der Erzdiözese New York entsandt werden. Das Personal ist den einzelnen medizinischen Fachabteilungen zugeordnet: Pädiatrie-Kaplan, Kardiologie-Kaplan usw.. Butler, die Kandidatin ist, später in diesem Jahr zu einer presbyterianischen Pastorin geweiht zu werden, ist hier Kaplanin für Hämatologie und Onkologie. Gerade jetzt aber, sind alle Kapläne auch Covid-19-Seelsorge- und Sterbebegleiter.
von der website-titelleiste des 
mount-sinai-hospital, manhattan

Kapläne insgesamt leisten die existenzielle Unterstützung in "weltlichen" Kontexten - das geht von Gefängnissen über Colleges bis hin zu den Flughäfen - so arbeiten Kapläne schon seit der Antike, seit nämlich alte Könige ihre Ministerien mit Priestern besetzten. Ihre Aufgabe ist es, wie Butler es sieht, Menschen zu begleiten, die nicht wollten oder erwarteten, jetzt dort in der Klinik zu sein, wo sie sind, und um ihre Lieben zu trösten. Ihre Priorität bei dieser Arbeit ist es, zuzuhören. Butler möchte jede Geschichte hören, die die Menschen, mit denen sie arbeitet, erzählen möchten - oder jede Angst, Hoffnung oder jeden Wunsch, den sie ausdrücken möchten. Ihr Ziel ist es, den Menschen zu helfen, ihre derzeitigen Umstände zu verstehen. Dies gilt so, wenn die Diagnose "Krebs" lautet genauso, wie wenn es sich bei der Diagnose um das neuartige Coronavirus handelt.


Butler hat ein Büro im zweiten Stock des Sinai-Hopitals, oben von der Kapelle und gegenüber der Synagoge. Ihr Fenster hatte einen Blick auf den Central Park. Jetzt ist der Blick auf das Zeltfeldkrankenhaus gerichtet, das von Samaritan's Purse, einer evangelischen Organisation, unter der Leitung von Franklin Graham, betrieben wird. Jeden Tag überweist das medizinische Personal Patienten zu Kaplanbesuchen an Butler, oder Verwandte rufen das Krankenhaus an, um nach Seelsorgediensten zu fragen. Am letzten Freitagmorgen hatte Butler drei Anfragen erhalten. Eine bestand darin, von einer Covid-19-Patientin die Tochter anzurufen, da die intubierte Patientin nicht sprechen konnte. Butler telefonierte mit der Tochter, betete mit ihr, und fragte an, ob sie auf irgendeine Weise ihre Mutter ansprechen könne, die nicht Englisch sprach. Butler stand dann mit dem Handy am Lautsprecher vor dem Zimmer der Mutter. Die Familie war katholisch, und aus einem Karton wählte Butler ein kleines Skapulier, einen Andachtsbild-Anhänger auf Stoff, und einen Rosenkranz aus, und steckte sie in eine Plastiktüte, die dann eine Krankenschwester zum Bett der Patientin bringen konnte.


Die beiden anderen Anrufe betrafen ebenfalls Covid-19-Patienten. Beide waren Pfingst-Christen. Butler rief davon eine Frau von ihrem Bürotelefon aus an. Die Frau erzählte Butler, dass sie sich, obwohl sie Angst hatte, sowohl von ihrer Familie als auch von Gott geliebt fühle. Butler bestärkte diese Empfindungen der Frau, und rief dann den weiteren Patienten an. Diesmal erzählte der Patient Butler, dass er Angst habe, dass Gott ihn bestrafe. Der Mann wollte Butler erzählen, wie er Gott verärgert habe: Er habe etwas getan, wofür er sich im Nachhinein schäme, sagte er, und er war sich sicher, dass diese Infektion nun Gottes Vergeltung war. Butler hörte ihm zu, als er erklärte, was er getan hatte -und sie fragte ihn, ob er sich selbst denn vergeben könne.

Nein, antwortete er. Er konnte nicht.

"Gott hat viel mehr Gnade für dich als du für dich selbst", sagt Kaplanin Butler zu ihm. "Wenn ich dir zuhöre, höre ich in dir jemanden, der die Menschen in seinem Leben wirklich liebt, zutiefst treu ist und Verantwortung für sein Handeln übernimmt."

Sie sprechen gemeinsam ein Gebet für den Frieden, und als Butler auflegt, fühlt sie sich unwohl. Sie ist traurig über den Mann und fühlt sich machtlos. Aber was kann sie mehr tun, als erneut anzurufen und zu hoffen, dass er immer noch da sein würde, um den Hörer abzunehmen?

Kürzlich fragte eine Krankenschwester Butler, wo Gott in all dem sei. Butler glaubt nicht, dass es eine richtige Antwort auf diese Frage gibt. "Für mich selbst sehe ich die Katastrophe nicht als etwas, das von Gott gemacht oder bewirkt wurde", sagte sie. "Ich denke, Gott taucht an den Orten auf, an denen Menschen versuchen, Leben zu retten und dieses Chaos zu beseitigen, das andere Menschen ausgelöst haben." Butler sagt der Krankenschwester, dass Gott genau hier sei ("...da bin ich mitten unter ihnen...") und mit uns weine.


Foto: MIGUEL RIOPA/ AFP




An diesem Nachmittag erhielt Butler dann einen Anruf von einer Gruppe von Ärzten. Mit einem Covid-19-Patienten, intubiert und sediert, ging es zu Ende, meinten die Ärzte, aber niemand konnte Familienmitglieder identifizieren. Würde sie zu seiner Zimmerür gehen und ein Gebet für diesen Patienten sprechen? Oben konnte Butler den Mann durch das Glas der Tür sehen. Sie legte eine Hand auf die Tür und schloss die Augen. Butler möchte anderen Menschen ihren "Gott" zeigen, dass sie ihn mit ihr wahrnehmen. Aber wenn Familien Gebete für ihre Lieben erbitten, respektiert sie deren Traditionen. Für Muslime sagt sie die Shahada, das muslimische Glaubenbekenntnis. Und wenn die Patientin oder die Familie Christen sind, spricht sie ein freies Gebet und manchmal ein Vaterunser, das sie besonders schön findet. Wenn sie nicht religiös sind, spendet sie einen neutralen Segen.

Niemand wusste, ob der Mann im Raum religiös war oder nicht. Butler beschloss, einen irischen Segen zu singen: 

„Möge die Straße dir entgegeneilen.
Möge der Wind immer in deinem Rücken sein.
Möge die Sonne warm auf dein Gesicht scheinen
und der Regen sanft auf deine Felder fallen.
Und bis wir uns wiedersehen,
halte Gott dich im Frieden seiner Hand.“ 

Butler hoffte, dass er nichts dagegen haben würde, wenn er sie hören könnte.

Kaplanin Butler verlor ihre Mutter im Alter von acht Jahren bei einem Unfall mit einem Dünenbuggy in der Nähe von Pelham, Georgia. Die Stadt war klein: viertausend Menschen, vielleicht weniger. Als sie in der Mittelschule war, heiratete ihr Vater, ein Baptist aus dem Süden, erneut eine Frau, die als Mormonin aufgewachsen war. In einem besonderen Kompromiss einigten sich die beiden darauf, eine presbyterianische Kirche außerhalb von Atlanta zu besuchen, in der Butler dann von den dortigen Pastoren angetan war, die über Gleichheit und Gerechtigkeit sprachen. Am College in Georgia studierte sie internationale Angelegenheiten und Religion, studierte Arabisch und studierte im Ausland in Marokko. Dann ging sie zum progressiven Union Theological Seminary in New York, wo sie hoffte, sowohl ihren Glauben als auch den anderer zu studieren. Butler wollte all die Dinge tun, die ihre Mutter, die mit achtundzwanzig starb, nicht tun konnte. Als nächstes, dachte Butler, würde sie auf die juristische Fakultät gehen.

Stattdessen stellte sie dann aber fest, dass sie zu diesem Dienst berufen war. Nach dem Einführungsseminar begann sie ihre klinische Seelsorge-Ausbildung am Mount Sinai Hospital, wo ihr klinischer Leiter David Fleenor war, ein bischöflicher Priester, der das klinische pastorale Ausbildungsprogramm des Krankenhauses leitet. Ihren jetzigen Dienst war so etwas wie ein Zufall - Butler hatte einen Job gebraucht, und dieser hatte sich ihr vor die Füße gestellt. Sie hatte zuvor nie viel Zeit in einem Krankenhaus verbracht und hatte nun ein Jahr Zeit, um einen neuen Beruf zu erlernen. Aber eines Tages, als Butler etwas Schwieriges durchmachte, war sie bewegt, ihren Ausbilder Fleenor mit ihr weinen zu sehen. Sie verstand also, dass dies der Job war: mit jemandem zusammen zu sitzen, der Schmerzen hatte - und diese Schmerzen teilen - mit-teilen...

Erst vor kurzem war David Fleenor Direktor des spirituellen Betreuungsprogramms am Mount Sinai Hospital geworden. Fleenors Frau war bis dahin in dieser Position, aber nun ist auch sie erkrankt. Das Paar geht davon aus, dass es sich um das Corona-Virus handelt, denn David Fleenor war erst Ende März wieder zur Arbeit gekommen, nachdem er selbst krank und in Quarantäne war. Normalerweise reichen die acht Kapläne und die vier Mitglieder eines Teams nicht für das Patientenvolumen im Krankenhaus mit mehr als elfhundert Betten. Jetzt war das Team also auch noch um drei gesunken - zwei waren krank, vermutlich auch mit Covid-19 - und die andere befand sich im Mutterschaftsurlaub - und das Krankenhaus errichtete zusätzlichen Raum, um mehr als sechshundert Covid-19-Patienten aufzunehmen. Der Bedarf war enorm geworden, und Fleenor und Butler hatten einen neuen Einsatzplan für die "Triage-Pflege" entwickelt, der strukturierte Seelsorge-Dienst strikt nach eingeschätzten "Dringlichkeitsstufen", der nicht nur der Steuerung knapper werdender Ressourcen dient, er reduziert außerdem die Fehlerwahrscheinlichkeit und unterstützt so das Ziel, die Qualität bei der Begleitung zu steigern und Leerläufe zu vermeiden.  
Der Plan teilte die Patienten des Krankenhauses in drei Ebenen ein: Covid-19-Patienten auf der Intensivstation, andere Patienten mit dem Virus, und alle anderen. Die Ebenen waren nicht hierarchisch einander zugeordnet, die Idee war lediglich, dass diese Kategorien den Kaplänen helfen könnten, die Bedürftigsten zu erreichen. Beispielsweise ist es möglicherweise nicht sinnvoll, einen Viruspatienten auf der Intensivstation anzurufen, wenn diese Person nicht ansprechbar ist. Stattdessen könnten die Mitarbeiter dann einsame ansprechbare Menschen in Stufe zwei anrufen.

Die Pflege selbst hatte ihre eigenen Komplikationen. Seit Wochen wird die Covid-19-Seelsorge am Mount Sinai Hospital ausschließlich telefonisch durchgeführt. Einige Mitarbeiter, wie Butler, kommen immer noch ins Krankenhaus. Andere Kapläne arbeiten von zu Hause aus. Beim Telefonieren haben jedoch naturgemäß alle ihre ansonsten gewohnte Sprache geändert. Die Kapläne helfen Sterbenden und Genesenden gleichermaßen, aber Fleenor weiß, dass viele Menschen sie im Moment ihres Anrufes als "Todesengel" wahrnehmen, die schlechte Nachrichten überbringen und auf das Ende vorbereiten. Und Fleenor bat deshalb seine Mitarbeiter, sich als Mitglieder des Pflegeteams zu bezeichnen, um spirituelle Unterstützung zu leisten, und nicht als Kapläne. Und das scheint gut zu funktionieren.

David Fleenor wuchs wie Butler in einer konservativen Tradition auf. Mit achtzehn Jahren war er Pfingstprediger im Südwesten von Virginia. Aber im Seminar in Tennessee absolvierte er ein Praktikum in klinischer Seelsorge, das seine Vorstellungen über das, was wahr ist, änderte. "Es war das erste echte Ding, das ich in meinem Leben erlebt hatte", sagt er. „Predigen und beten - und dann noch ein "charismatischer Prediger" sein - das hat in all den Anforderungen kaum noch Platz und entpuppt sich als Illusion. Und es ist dann ganz nüchtern und "karg", illusionslos, in den Raum einer sterbenden Person zu gehen. Da kann man nämlich nicht bescheißen.“

Fleenor hält Kapläne davon ab, Plattitüden zu benutzen, wenn sie über schreckliche Dinge sprechen. Beim Training hat er einen Lieblingseisbrecher - er fragt: Wie würdest du gerne sterben? "Und niemand sagt: 'Ich würde gerne sterben und dabei allein nach Luft schnappen'". Die Angst vor einem einsamen Tod ist für die Palliativversorgung von grundlegender Bedeutung, und Krankenhäuser im ganzen Land bieten freiwillige Programme von "No One Dies Alone" an. "Jetzt haben wir eine Pandemie, bei der du alleine sterben musst", sagte Fleenor. „Das ist sehr belastend für das Krankenhauspersonal. Es ist sehr bedrückend für die Patienten, Gott helfe ihnen.“ Und doch hat Fleenor in vielerlei Hinsicht festgestellt, dass Kapläne die gleiche Arbeit leisten, die sie immer tun. In gewöhnlichen Zeiten fordert Fleenor seine Auszubildenden auf, „auf Tiefe zu achten und zuzuhören, um die Menschen wissen zu lassen, dass sie von ihnen gehört werden - und so auch 'auf mystische Weise' von Gott gehört werden“. Das sagt er den Bewohnern immer noch. Aber jetzt sagt er ihnen auch, sie sollten ganz bei sich sein, indem sie sie auch mal die äußeren Umstände versuchen auszublenden.

Kaplanin Butler lebt alleine in Harlem und fährt an einem Donnerstagmorgen mit dem Bus zur Arbeit. Sie trägt eine burgunderfarbene Uniqlo-Hose, ein Marinehemd und Schuhe mit Clarks-Absätzen. Im Krankenhaus weiß Butler, dass der Strom von Ärzten, Krankenschwestern und Tests verwirrend sein kann, und sie fordert die Patienten häufig auf, nach der Kaplanin mit dem voluminösen Haarschopf zu fragen, wenn sie ihren Namen vergessen. Aber manchmal betrifft ihre Arbeit nur am Rande einen Patienten selbst. An diesem Nachmittag nahm Butler zum Beispiel einen Anruf entgegen: Da war ein Mann plötzlich an Covid-19 gestorben. Und nun war seine Krankenschwester verstört, die ihn bis zuletzt gepflegt hat - und der Rest seines medizinischen Teams fragte sich, ob Butler sie trösten könne. Butler fand diese untröstliche Krankenschwester weinend in einem Treppenhaus vor.

Butler glaubt, dass die Arbeit der Gesundheitsdienstleister schon etwas heiliges an sich ist. Da nur Pflegende und Ärzte die Patientenzimmer betreten können, sind sie - zumindest während der Pandemie - aufgefordert, sich nicht nur um die direktenn Bedürfnisse der Patienten zu kümmern, sondern auch ihren Abschied aus dem Kreis der Angehörigen zu erleichtern. Kapläne sollen sich auf Patienten und ihre Familien konzentrieren - aber sie haben auch tiefe, vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Kollegen und möchten helfen, wo Hilfe benötigt wird. Wenn Pflegeteams langjährige Patienten verlieren, veranstaltet Butler manchmal Besprechungen, bei denen über den Verlust gesprochen und auch damit Platz zum mittrauern eingeräumt wird.
Butler setzte sich in die Nähe der Krankenschwester. Die beiden Frauen trugen Masken über dem Mund. Butler sagte der Krankenschwester, dass ihre Tränen ein Geschenk für ihren Patienten seien - und sie bestätigten, wie sehr sie sich um den Mann gekümmert hat. "Das ist so eine Ehre, die ihm da zuteil wurde, sagte Butler.


Quelle: Rupak De Chowdhuri/Reuters


Die Krankenschwester fragte Butler, ob sie nun "zur Hölle fahren" würde. Und in der kommenden Woche würden viele Krankenschwestern diese Frage stellen: Ihre Patienten sterben. Wird Gott sie dafür zur Verantwortung ziehen?

Butler war betroffen. Sie erzählte der Krankenschwester, dass ihr Patient in einer Krise gestorben war, die größer war als ihre Fürsorge, und dass sie alles getan hatte, um ihn zu retten.

"Ich und Ihr Team werden das für Sie wissen, bis Sie bereit sind, es selbst zu wissen", sagte Butler.

Drinnen war Butler jedoch wütend und hatte sogar Angst. Sie war besorgt darüber, das Virus zu bekommen, und sie war besorgt darüber, dass ihre Familie es im ländlichen Südwesten von Georgia bekommen könnte , wo es nur wenige medizinische Ressourcen gibt. Es war fast Karwoche. In wenigen Tagen würden Christen an den Tod Jesu am Kreuz erinnern und dann seine Auferstehung feiern. "Es ist eine Sache zu sagen, dass die Liebe immer über den Tod triumphiert", sagte Butler. „Einige Jahre, in denen du es sagst, lebst du es nicht. Und dies ist eines dieser Jahre, in denen wir andere Menschen brauchen, um es mit ihnen zu glauben.“

Butler findet es am einfachsten zu glauben, wenn sie Krankenschwestern und Ärzte sieht, die iPads über Patienten mit Beatmungsgeräten halten, um sicherzustellen, dass die Kranken mit ihren Familien sprechen können. Sie glaubt es, wenn sie sieht, wie ihre Mitseelsorger neben ihr arbeiten, und wenn sie ihr Telefon überprüft und alle Nachrichten von der Familie und von Freunden sieht, die wie eine Familie sind, checkt sie ein, um sich zu sagen, dass auch sie nicht allein ist. Sie erinnern sie daran, dass das Leiden außerhalb ihrer Kontrolle liegt. "Die Sache über alle apokalyptischen Jahreszeiten des Lebens, ob es sich um eine Pandemie oder eine Krebsdiagnose handelt, ist, dass die Dinge, die bereits wahr waren, wahrer werden", sagte Butler. "Die Verbindung zwischen Menschen - ich glaube mehr daran als jemals zuvor."

Nachdem Butler die Krankenschwester getröstet hatte, ging sie, um die Frau des Toten anzurufen. Das medizinische Team hatte der Frau bereits die Nachricht gegeben und gefragt, ob sie mit einem Kaplan sprechen möchte. Sie hatte ja gesagt. Oft fragt Butler die Hinterbliebenen gern nach der Person, die sie verloren haben. Aber die Frau war am Boden zerstört, und alles, was Butler gerade tun konnte, war das Versprechen, für ihren Ehemann zu beten. Sie legte den Hörer auf und stand an der Tür zum Zimmer des Mannes. Sie konnte seinen Körper darin sehen. Dann betete sie, dass Gott ihn segnen und behalten und seine Familie halten möge und dass sie sich gegenseitig trösten würden.


Elizabeth Barber ist Mitglied der Redaktion von The New Yorker.


Dies ist die amateurhafte Bearbeitung einer automatischen Google-Übersetzung des Original-Textes im "New Yorker". Sachliche und sprachliche Ungereimtheiten in der Übersetzung habe ich versucht, lesbar und plausibel zu machen.

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mich hat dieser bericht aus dem "new yorker" schon berührt - und ich musste ihn unbedingt hier auch für dich teilen und aufarbeiten, weil er das ganze #corona-getöse aus einer perspektive beurteilt, die hier im alltag und in unseren nachrichten gerne ausgeblendet wird. 

wenn ich hier in den medien zugeschüttet werde, wie es denn nun mit den reifeprüfungen in den schulen weitergehe und die armen schulleiter nicht wissen, wie sie und ob sie und ab wann sie einen stundenplan aufsetzen - und ob auch läden über 800 qm öffnen sollten - oder warum nicht - und das maskentragen, ja oder doch nicht - und all dieses gefeilsche um staatsknete-zuwendungen aller "fakultäten" vereint über alle medien in dieser "wirtschaftlich existenziellen bedrohung", damit auch alle ihre krumen vom ausgelobten großen kuchen abbekommen - dann stellt mich wenigstens dieser bericht hier wieder vom kopf wieder "auf die beine".

wenn dieses geschnärke um luxus-probleme hier konfrontiert ist mit der tatsächlichen not und dem elend in einem nach eigenem bekunden reichsten länder der welt und in der wohl bekanntesten stadt, new york.

und wenn eine junge frau seelsorge und sterbebegleitung vor der tür eines krankenzimmers leisten soll, in dem gerade das sauerstoffgerät abgestellt wurde, weil es jemand anderes im triage-plan dringender benötigt.

und dass begleitet "aus der physischen ferne" in der gewissheit und überzeugung, dass gott neben ihr an der krankenzimmertür durch die getönte scheibe mit auf den gerade elendig erstickten verstorbenen blickt - und "er" zumindest "virtuell" oder "mystisch" sie und den verstorbenen anfasst und die hände hält - und trost spendet... 

und vielleicht aus dem flimmernden fox-news-bildschirm in der flurecke mit weit auseinander gestellten sitzplätzen ein großer blondgetönter und schminkegebräunter mann im blauen sakko und mit roter krawatte brüllt: "america first" - und er werde... - und er hätte ... - und er wollte ... - und die w-h-o sei schuld, und die chinesen - und ob vielleicht doch eher das super-labor in wuhan oder der wildtiermarkt draußen vor wuhan in der peripherie für das #coronavirus als ursprungsort infrage komme - und - und - und...

aber von all diesem getöse hat sister chaplain kaytlin butler nichts - sie eilt gleich auf die treppe, um eine krankenschwester aus dem team zu trösten, die gerade "ihren" patienten verloren hat, der ihr quasi unter den fingern weg ...

da hilft nur noch beten - allein - im stillen kämmerlein, mr. trump.

und dank an den "new yorker" für diesen bericht.


Nicht mehr Pünktchen sondern Anton!

Freiheit trotz Corona-Pandemie

Wollt ihr alle nur kleine Pünktchen sein?

Was wir noch dürfen, entscheidet dieser Tage der Staat. Er sagt, er will uns das Leben retten. Aber mit denkenden, freien Menschen geht das so nicht.

Ein Gastbeitrag in der ZEIT von Alfred Nordmann

  • Alfred Nordmann ist Professor für Wissenschafts- und Technikphilosophie an der TU Darmstadt. Er ist zudem derzeit Gastprofessor an den Technischen Universitäten in Sankt Petersburg (SPbPU) und im südchinesischen Guangzhou (SCUT).
Jeder von uns ein Risikofaktor. Wenige Kontakte, seltene Ansteckung. Doch in einer Demokratie kann das nicht alles sein. © Klaus Vedfelt/​Getty Images



Wollt ihr alle nur kleine Pünktchen sein?

Was sind wir noch? Seitdem Corona die Welt im Griff hat, sind wir eine Anhäufung kleiner Punkte. Sie irren im Raum umher und kollidieren zufällig mit anderen Punkten. So jedenfalls stellt es eine Grafik der Washington Post dar. Einer dieser Punkte ist mit dem Virus infiziert und gibt die Infektion bei jedem Zusammenstoß weiter. In exponentieller Windeseile verbreitet sich die Seuche, und bald schon hat sie die ganze Population erfasst. Wenn nur die Bewegungsfreiheit der Punkte eingeschränkt wird, lässt sich die Ansteckungsrate unter Kontrolle bringen. So eindrucksvoll, so überzeugend. Und doch befremdlich.  

Dass Läden und Restaurants geschlossen sind und Menschen Kontakte meiden müssen, scheint bereits etwas zu verändern. Darum soll bald entschieden werden, wie es weitergehen soll. Das ist eine politische Entscheidung, die sich auf Wissen und Wissenschaft stützt. Dazu gehört das derzeit tonangebende Wissen um die kleinen Punkte, die jeden von uns als ein Risiko definieren, das es einzudämmen gilt.

Erkennen wir uns darin wirklich wieder? Sind wir nichts weiter als blind agierende Partikel, die sich scheinbar ohne Sinn und Verstand durchs Leben bewegen, beobachtet aus der Vogelperspektive einer Regierungskunst, die die Bevölkerung als Ganze schützen und kontrollieren will? Vielleicht gibt es ja ein anderes Wissen, das wir Bürgerinnen und Bürger ins Spiel bringen können. Schließlich verstehen wir das Problem inzwischen genauso gut wie die Epidemiologen und Politikerinnen und haben vielleicht auch Lösungen zu bieten.

Hier stehen verschiedene Wissensformen und Denkweisen in Konkurrenz: Einerseits die im 19. Jahrhundert geprägte Epidemiologie, andererseits die im 21. Jahrhundert aufkommenden Bürgerwissenschaften, hervorgegangen aus der Umweltbewegung und den Open-Source-Idealen der Hackerkultur. 

Der Statistik verdanken wir viel. Mit ihr tritt das Populationsdenken in die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts – also die Betrachtung einer möglichst großen Anzahl von Teilchen oder Individuen. Dies kennen wir von den physikalischen Gasgesetzen, aus der Thermodynamik und der Evolutionsbiologie, der Demografie und eben auch der Epidemiologie, also der Wissenschaft der sich weit verbreitenden Krankheiten. 

Dabei repräsentiert die Ansammlung punktförmiger Teilchen die Wahrscheinlichkeiten der Sterblichkeit oder der Kriminalität, der Kollision oder Ansteckung. Der moderne Staat und der heutige Umgang mit der Corona-Krise beruhen hierauf.

Wir können selber denken und Verantwortung übernehmen

Das Wissen selbstverantwortlicher Bürgerinnen besteht darin, dass sie unterscheiden können und angemessene Verhaltensweisen entwickeln. Moralische Konsumenten kaufen fair produzierte Waren, Vereine organisieren Selbsthilfe, Kommunalpolitik schafft Modelle für Nachhaltigkeit. Tagtäglich trennen wir unseren Müll und üben uns dabei in sorgsame Umgangsweisen ein, stellen unsere Verantwortlichkeit unter Beweis. 

Die Chinesinnen führen uns eine ähnlich wissensbasierte Technik vor, wenn sie ihren Mundschutz vom Ohr streifen, behutsam ablegen und dann so wieder umlegen, dass sie die vielleicht infizierte Außenseite gewiss nicht berührt haben. Diese kleinen Alltagsrituale bedeuten viel. Wir können uns problemorientiert organisieren, effektiv handeln und mehr Verantwortung übernehmen, als einfach nur daheim zu bleiben: Wer Mülltrennung beherrscht, kriegt auch Abstandhalten hin. Maschinen können den Müll besser trennen als wir. Aber es ist gut für Gesellschaft und Umwelt, dass fehlbare Menschen das tun. Dies gilt ähnlich für die Maskenpflicht. Sie wäre vor allem ein Wachsamkeitsritual.

Die ausdrücklich so genannten Bürgerwissenschaften gehen weiter. An sie richtete sich kürzlich ein Aufruf der Bundesregierung: "Sei mit deinen Fähigkeiten dabei, wenn wir Lösungen aus der Gesellschaft für die Gesellschaft entwickeln." Innerhalb von 48 Stunden haben über 28.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit mehr als 1.500 Projektideen geantwortet. Im #WirVsVirus-Hackathon präsentieren sich schon die Corona-Tracking-Apps, Projekte zu Hilfsmittelverteilung, Krisenmanagement und Kinderbetreuung. 

Auch die Verbesserung von Schnelltests stand auf dem Plan. Nachbarschaftlich einfach einsetzbar sollen sie sein, global frei und schnell verfügbar. Dafür fanden sich nach wenigen Tagen schon internationale Partnerschaften mit Unternehmen und biochemischen Forschungslaboren, wurden Verwertungsrechte geklärt und Kostenpläne entwickelt. Vorbildliche Technik mit globaler Ausrichtung – aus dem Stand heraus?

Das eine tun, ohne das andere zu lassen

Hackathons schöpfen aus dem Überfluss guter Ideen. Um das Virus zu isolieren, können wir Abstand halten und selbstgemachten Mundschutz tragen und Risikogruppen separieren und flächendeckende Schnelltests anbieten und Fieber messen und gedrängte Menschenmengen vermeiden und Kapazitäten ausbauen und Apps entwickeln. Auf keine dieser Maßnahmen ist Verlass und nichts ist so wirksam wie Ladenschließung und Kontaktverbot. Im Zusammenspiel der unvollkommenen Maßnahmen entfaltet sich aber ein großes Instrumentarium, mit dem sich Ansteckungsrisiken fein abgestimmt deutlich reduzieren lassen.

Viel ist in den letzten Wochen passiert und scheint zu funktionieren. Dafür gibt es nun zwei Erklärungen. Es hat Schließungen und Kontaktverbote gegeben, gleichzeitig gehen Menschen jetzt anders, umsichtig miteinander um. Wenn wir die Ansteckungskurve weiterhin flach halten wollen: Muss es bei den Schließungen, den Kontaktverboten bleiben oder sind die neu geregelten Umgangsweisen und vielseitigen Vorkehrungen gegen eine Tröpfcheninfektion hinreichend? Die Epidemiologie hat eine Antwort darauf, das bürgerliche "Wir schaffen das" eine andere.

"Wie lange noch?" Die Antwort darauf gibt die Epidemiologie selbst. Sie wird gebraucht, solange es noch keinen Impfstoff und keine Therapie gibt. Nur in Abwesenheit eines besseren Wissens über Ursachen und Wirkungen, nur wenn ein fein abgestimmtes Handeln unmöglich ist, bieten statistische Bevölkerungsmodelle die beste Orientierung. Solange uns das Virus einfach nur fremd ist, müssen seine Träger ausgegrenzt und weggesperrt werden. Aber das Coronavirus ist uns nicht mehr fremd, keine unbekannte Gefahr. Es handelt sich bei ihm um Tröpfchen, die ganz gesund aussehende Mitmenschen beim Sprechen, Husten und Niesen absondern. Wir verfügen über viele und immer weitere Sozialtechniken, um uns und besonders Gefährdete vor dieser Gefahr zu schützen.

Auch dies ist eine bewährte Sozialtechnik: Um Menschen gefügig zu machen, müssen sie nicht gefoltert werden. Es reicht oft schon, ihnen die Folterwerkzeuge vorzuführen. So können wir unsere jetzige Situation verstehen: Wir durften uns die Kontaktverbote und Schließungen ein paar Wochen lang aus der Nähe anschauen. Lang genug. Das Angstbild des Risikofaktors Mensch aus der Washington Post im Hinterkopf, die Sozialtechniken verantwortlicher Mitgestaltung vor Augen, gehen wir gerne noch 18 Monate geduldig mit Mundschutz und abgezähltem Einkaufswagen in den Supermarkt, wenn sich dadurch ein funktionierendes Gemeinwesen erhalten lässt, einschließlich Theaterabend, Einkaufsparadies und Biergarten.

Oft heißt es, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens einen Demokratieverlust bedeuten. Dieser wäre aber nicht vor allem der Selbstherrlichkeit plötzlich ermächtigter Politikerinnen und Politiker geschuldet. Vielmehr verdankt er sich der uneingeschränkten Geltung einer Wissenschaft, die Menschen auf Risikofaktoren reduziert und die Bevölkerung kontrollieren muss. Jetzt sollten wir uns fragen, ob eine bürgerwissenschaftlich demokratisierte Epidemiologie möglich ist. Eine Seuchenbekämpfung also, die nicht von oben herab regiert, sondern unsere geschulten Verhaltensweisen und wache Erfindungskraft mobilisiert.

Müssen wir zum Beispiel akzeptieren, dass wir per App im Namen der Gesundheit digital überwacht werden? So eine App sollte Nutzerinnen und Nutzern lieber helfen, selbstverantwortlich durch eine Welt zu navigieren, in der es das Coronavirus gibt. Es geht nicht darum, strenge Maßnahmen zu früh zu lockern. Aber es geht darum, mit dem Risiko gemeinsam umzugehen. Wir sind ein soziales und freies Land, wirtschaftlich stark, verantwortungsbewusst, kreativ und digitalisiert. Warum gehen wir nicht auch diese Krise nicht genauso an – wie eine Gesellschaft, die Zukunft hat?

das waren natürlich überzeugende grafiken zur pandemie: die mit den tanzenden pünktchen, die sich bei einem zusammenstoß alle verfärbten im verhältnis von ca. 1:3 - und die quasi grafisch bewiesen, wie recht doch die "obrigkeit" und virologen mit ihren rigorosen verfügungen und kontaktverboten hatten. mich hatte das wenigstens nach anfänglicher skepsis auch schweren herzens überzeugt - und ich bin - selbst zur risikogruppe gehörend - nun seit 3-4 wochen in selbstquarantäne zu hause und tippe hier in meinen blogs rum und bastele grafiken, die ich manchmal auch gern zumindest als "meine kunst" bezeichne.

ab und zu bin ich zwar einkaufen gewesen, obwohl wir genug toilettenpapier hatten, aber wir brauchten ja trotzdem noch das ein oder andere zu essen - aber mehr war da nicht: einmal bin ich ohne einkauf durch einen kurort hier in der gegend geschlendert, aber als ich die verbarrikadierte stammeisdiele dort sah, blutete mir das herz - also wieder ab nach hause...

und doch regte sich in mir hier und da bei allen aufgegebenen vehaltensmaßregelungen auch hin und wieder mein mir schon vor zig jahren von meiner mutter apostrophiertes "kritikastertum" - und ich dachte mir: das müsste doch auch alles anders gehen - der staat nimmt mir mit seinen verordnungen ja jegliche selbstverantwortung ab - und ich laufe - ganz im gegensatz zu meinem in den 68-er jahren ausgebildeten protestpotenzial - einfach so mit, schüttele mein weißgewordenes haupt - und staune über geradezu "zwanghafte" maskenträger im aldimarkt, denen die 2 m abstand immer noch zu wenig sind und die regelrecht flüchten vor mir im regalgang, der ich keine schutzmaske angelegt habe und auch nicht anlegen möchte - aber wo ich sowieso nicht weiß, woher ich die beziehen sollte.

ich habe beschlossen, solange man mir nicht amtlicherseits eine schutzmaske in den briefkasten wirft oder anderweitig überstellt, muss ich wohl auf diese "wohltat" angeblich für mich und andere verzichten.

und nun lese ich hier diesen hoffnungsvollen und erfrischenden artikel von professor nordmann, der mein unbestimmtes unbehagen der letzten tage gekonnt und mit umsicht und verantwortung in worte und eigentlich nicht zu wiederlegende argumentationen fasst.

und solange mir meine "obrigkeit" nicht vorschreiben muss, wen ich bei der nächsten wahl anzukreuzen habe und mir das als "mündigen bürger" überlässt, wo ich mein kreuz setze, kann er auch wirklich - solange ich kann  - mit mir rechnen, dass ich mich höchst (selbst-)verantwortlich im weiteren verlauf der krise mit rücksicht bewegen werde.

und vielleicht darf ich dann ja doch noch in ein paar wochen in mein für mich gesperrtes ferienbundesland schleswig-holstein fahren, um mich von dem ganzen trubel zu erholen: vergelt's gott...

gebet und reise im "stillen" kämmerlein - ostern hinter verschlossenen türen - trotzdem bzw. gerade: FROHE OSTERN

FROHE OSTERN
un chuat choan

in diesem jahr eine "passende" geschichte zum osterfest zu finden - das ist ja echt eine aufgabe: 

reisen: ist nicht - 
kultur: findet im wohnzimmer statt  - 
ebenso alle spirituellen aktivitäten und das ostereier-suchen ... -

und für das beten gilt das ja sowieso schon - denn jesus selbst hat dafür ja die maßregel angegeben:
nach Matthäus 6,5-15 soll er gesagt haben:

Und wenn ihr betet,
sollt ihr nicht sein wie die Heuchler,
die gern in den Synagogen
und an den Straßenecken stehen und beten,
damit sie von den Leuten gesehen werden.
Wahrlich, ich sage euch:
Sie haben ihren Lohn schon gehabt.

Wenn du aber betest,
so geh in dein Kämmerlein
und schließ die Tür zu
und bete zu deinem Vater,
der im Verborgenen ist;
und dein Vater,
der in das Verborgene sieht,
wird dir's vergelten.

Und wenn ihr betet,
sollt ihr nicht viel plappern
wie die Heiden;
denn  sie meinen,
sie werden erhört,
wenn sie viele Worte machen.
Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen.
Denn euer Vater weiß,
was ihr bedürft,
bevor ihr ihn bittet.

ja - das klingt so, als ob jesus die kontaktsperre zu convid-19 schon mitbedacht habe.

um also vollgültig zu ostern mit dem lebendigen gott in kontakt zu treten, bedarf es eben nicht der feierlichen fest-gottesdienste und des "hochamtes" und des segens auf dem petersplatz, bei denen es ja bekanntlich auch mit darum geht: was ziehe ich an - auf wen treffe ich - und was sollen die leute von mir denken. da geht es neben aller einkehr und feier eben auch um selbstdarstellung und ausführen der neuesten frühjahrs-kollektion.

und das war also vor 2000 jahren in der synagoge und im tempel nicht anders als heute - aber in diesem jahr zwingt uns das coronavirus - für alle gleich, ob arm oder reich - ins stille kämmerlein...

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tja - und das reisen heutzutage...: schon vor
oma
70 jahren ging ich - bei meiner oma auf den knien hockend - als kleiner junge mit ihr in der "wohnküche" ihres bauernhauses auf "große fahrt" - und sogar als dampflokführer - mit einer straßenbahner-schirmmütze meines vaters auf dem kopf - und opas trillerpfeife um den hals:


das war eine tolle und abenteuerliche kurzreise als sprechgesang. oma bewohnte dieses fachwerkgehöft in der nähe eines kleinen bahnhofes, wo regelmäßig auch damals schon die eisenbahn halt machte.


lok antriebsrad





und wenn ich bei oma über die feiertage zu besuch war - und die dampflok nach dem halt im bahnhof wieder anfuhr und sich allmählich in bewegung setzte mit ihrem stampfend-dampfenden gekeuche, sang oma mir im takt der anfahrtgeräusche folgende sprechgesangszeilen ins ohr - quasi um der lok "dampf zu machen":

die -al-te- lok - sie -kann- nicht mehr ...
de -au-le- lok - se -kann- nich mo
es -geht- so schwer - es -geht- so schwer...
et -cheiht- so schwor - et -cheiht- so schwor -

[und wenn sie dann allmählich schneller wurde ...]:

jetzt gehts schon bes-ser - geht schon bes-ser -
nu cheihts oll bir-der - cheiht oll bir-der
geht schon bes-ser ...
cheiht oll bir-der

[und dann - wenn die lok mit den waggons  allmählich auf touren kam - und sich dann verabschiedete ...]

jetzt gehts besser - jetzt gehts besser
nu cheihts bir-der - nu cheihts bir-der
dankeschön - dankeschön - dankeschön ...
da dank ik auk - dank ik auk - dank auk


(mit übersetzung auf platt, was oma meistens sprach & sang...)
und das war der "sound" dazu - so ungefähr wenigstens (ist ja 70 jahre her...):




ich habe diesen sprechmelodie-rhythmus-reim hier mal wieder erwähnt, weil ich ihn nirgendwo finden konnte - und weil er sonst - nach dem aussterben der dampflok - sicherlich bald vollends in vergessenheit geraten würde...

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und ich fand noch ein passendes gedicht zur dampflok von gerrit engelke:



Die Lokomotive

Da liegt das zwanzig Meter lange Tier,
die Dampfmaschine,
auf blank geschliff’ner Schiene,
voll heißer Wut und sprungbereiter Gier...
Da lauert, liegt das langgestreckte Eisenbiest –
Sieh da, wie Öl- und Wasserschweiß
wie Lebensblut, gefährlich heiß,
ihm aus dem Radgestänge, den offenen Weichen, fließt.
Es liegt auf sechzehn roten Räderpranken,
fiebernd, langgeduckt zum Sprunge,
und Fieberdampf stößt röchelnd aus den Flanken.
Es kocht und pocht die Röhrenlunge –
Den ganzen Rumpf die Feuerkraft durchzittert:
Er ächzt und siedet, zischt und hackt
im hastigen Dampf- und Eisentakt –
Dein Menschenwort wie nichts im Qualm zerflittert.
Das Schnauben wächst und wächst –
Du, stummer Mensch, erschreckst.
Du siehst die Wut aus allen Ritzen gären –
der Kesselröhren Atemdampf
ist hochgewühlt auf sechzehn Atmosphären!
Gewalt hat jetzt der heiße Krampf:
Das Biest, es brüllt, das Biest, es brüllt,
der Führer ist in Dampf gehüllt.
Der Regulatorhebel steigt nach links;
der Eisenstier harrt dieses Winks...
Nun bafft vom Rauchrohr Kraftgeschnauf:
Nun springt es auf! Nun springt es auf!

Und ruhig gleiten und kreisen auf endloser Schiene
die treibenden Räder hinaus auf dem blänkernden Band;
gemessen und massig die kraftangefüllte Maschine,
der schleppende, stampfende Rumpf hinterher...
Dahinten – ein dunkler, verschwimmender Punkt,
darüber  –  zerflatternder  –  Qualm...

Gerrit Engelke

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Gerrit Engelke
Gerrit Engelke


(* 21. Oktober 1890 in Hannover; † 13. Oktober 1918 bei Cambrai, Frankreich) war ein deutscher Arbeiterdichter.

Leben

Sein Vater, ursprünglich kaufmännischer Angestellter, dann Inhaber eines Weißwarengeschäftes, wanderte 1904 nach Amerika aus, Mutter und Schwester folgten ihm 1910.

Nach der Volksschule schloss er seine Malerlehre mit der Gesellenprüfung ab und war ab 1909 in verschiedenen Unternehmen beschäftigt. Nebenher besuchte er Abendkurse in der hannoverschen Kunstgewerbeschule und erhielt dort zwei Preise. Das Museum August Kestner kaufte 1914 80 Aquarelle und Zeichnungen von ihm an.


Nachdem er 1913 Richard Dehmel begegnete, verhalf ihm dieser zu ersten Publikationen in Paul Zechs Zeitschrift Das neue Pathos und vermittelte ihn an die Werkleute auf Haus Nyland, die in ihre Zeitschrift Quadriga Engelkes Textsammlung "Dampforgel und Singstimme. Rhythmen" aufnahmen. Engelke wurde Mitglied bei den Werkleuten und verfasste gemeinsam mit Heinrich Lersch und Karl Zielke den Kriegslyrikband Schulter an Schulter. Gedichte von drei Arbeitern (1916).


1915 bot ihm Lersch an, ihn für seine Kesselschmiede zu reklamieren. Engelke lehnte ab und wurde zum Kriegsdienst einberufen. Am 11. Oktober 1918 geriet er als Soldat der deutschen Armee bei Cambrai schwer verwundet in Kriegsgefangenschaft und starb zwei Tage später in einem britischen Lazarett. Er fand seine letzte Ruhe auf dem Soldatenfriedhof von Étaples an der französischen Kanalküste.

Leistung

Seine deutlich zeitbezogene Dichtung gibt seinem Werk innerhalb der Arbeiterdichtung eine Sonderstellung. Er fängt die Zeitstimmung auf einzigartige Weise ein in seinen lyrischen Zeugnissen zu Großstadt und Technik. Er verzichtet auf tradierte künstlerische Möglichkeiten und entwickelt neue Formen, seine erlebten Welten sprachlich zu fassen. Doch wie die anderen Arbeiterdichter auch (Karl Bröger, Heinrich Lersch, Ernst Preczang, Bruno Schönlank) zog er sich auf politisch unverbindliche Positionen zurück. Ob sich der früh Verstorbene anders als die Genannten entwickelt hätte, bleibt Spekulation. (WIKIPEDIA)