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der menschheit ganzer jammer...

Jahrestag: 103 jüdische Menschen besteigen am 10. Juli 1942 am Hauptbahnhof einen Zug, angeblich in Richtung Warschau. Eine von ihnen ist die Bielefelderin Thekla Lieber. Ihre Postkarten sind ein letztes Lebenszeichen. Sie bringen Jahrzehnte später eine schreckliche Wahrheit ans Licht...


Erste Deportation nach Auschwitz
begann in Bielefeld

Von Christine Panhorst | NW

Es ist ein Freitag, heute vor 77 Jahren. Am 10. Juli 1942 startet ein Zug vom Bielefelder Bahnhof. In den Waggons: 103 Menschen Jüdinnen und Juden aus dem Gestapobezirk Bielefeld sowie aus Münster, Dortmund und Osnabrück. Das Ziel ist Warschau, so macht man sie glauben. Die Gestapo gestattet ihnen, unterwegs Postkarten zu schreiben. Es sind letzte Lebenszeichen, die Jahrzehnte später eine Spurensuche ermöglichen. An ihrem Ende steht eine schreckliche Gewissheit: Ankunftsort ist damals nicht Warschau, sondern das neue „Zentrum der Massenvernichtung“.

Der Deportationszug aus Bielefeld, das legen jüngste Forschungen nahe, ist der erste
große Transport im Deutschen Reich, der das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
anfährt. Mehr als 1.000 Jüdinnen und Juden werden aus ihren Familien gerissen und
nach Stopps in Hamburg, Ludwigslust, Berlin und Magdeburg verschleppt. Zugleich ist
es die einzige Deportation vom Startbahnhof Bielefeld, bei der es später keine
Überlebenden geben wird.

Diese Postkarte beginnt Bielefelderin Thekla Lieber am 12. Juli 1942 „kurz vor Berlin“:

Foto:
Sammlung Kai-Uwe von Hollen


„12 – kurz vor Berlin. Meine Lieben! Sicher habt Ihr meine diversen Karten erhalten.

Bisher geht es uns gut, sind sehr betreut. Fahre mit Frau Jakobs aus Sögel mit Tochter
Frau de Vries und Kind. Das Wetter ist herrlich. Allmählich beginnt’s, dass man sich
gewöhnt, ist gut, dass man viel schläft und die Zeit wenigstens nicht nachdenkt. (. . .)
Wir halten und wieder besteigen Hunderte Gefährten diesen unendlich langen Zug. Der Menschheit ganzer Jammer ist zu sehen. Montag werden wird, wenn’s
gut geht, am Ziel sein.
Braucht Euch nicht zu betrüben, so Gott will, wird’s schon werden. Seid nochmals
herzlich gegrüßt und geküßt von Eurer Mutter“

. . . schreibt die Bielefelderin Thekla Lieber am 12. Juli 1942 aus dem Deportationszug
bei Berlin.

Jener Freitag im Juli 1942 ist ein Auftakt zum dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte und Bielefelder Stadtgeschichte. Davon erzählen eindrücklich in Zeilen voller Angst und Hoffnung, Sorge und Liebe die Nachrichten der Deportierten – wie die der Bielefelderin Thekla Lieber.

An der Ritterstraße (heute Ecke Notpfortenstraße) hat die Geschäftsfrau ursprünglich
einen Handel mit Öfen, Eisen- und Haushaltswaren betrieben, der in der
Reichspogromnacht zerstört wird. „Macht euch keinen Kummer um mich, bleibt Ihr
nur gesund“, schreibt die 60-Jährige zwei Tage vor Abfahrt des Zuges auf einer
Postkarte an Tochter und Schwiegersohn in Brüssel. Den Bescheid zur Deportation hat
sie kurz zuvor plötzlich erhalten.

Sie reise über Hamburg, weiß Lieber schon früh. Das Ziel sei Warschau, notiert sie auf
einer ihrer Karten, die sie im Sammellager Kyffhäuser am Kesselbrink schreibt (heute
Standort der Restetruhe). „Ich hoffe, dass, so Gott will, mir die Seelenkräfte verbleiben,
alles zu überwinden.“

Letzte Lebenszeichen: Die Bielefelderin Thekla Lieber, geb. Heine, (*1882)
führte mit ihrem Mann ursprünglich ein Geschäftshaus an der Ritterstraße. Aus
dem Deportationszug darf sie noch Postkarten an Tochter und Schwiegersohn
schreiben, die nach Brüssel flohen.                            Foto: Sammlung Brigitte Decker
Sechs ihrer Postkarten wird ihre geflohene Tochter durch den Krieg retten. Eine davon
schreibt ihr die Mutter aus dem Zug bei Hamburg. Das Kartenschreiben ist den
Deportierten – das ist ungewöhnlich – offenbar gestattet. In ihren Karten berichten sie
zudem von „warmem Essen“ und „allerlei Verpflegung“ unterwegs. Immer heißt es:
Warschau.

Unterdessen führt die Fahrt weiter über Berlin und Magdeburg, an jedem Stopp
steigen Hunderte Menschen zu. Die Witwe Lieber aus Bielefeld schwankt am 12. Juli
zwischen Hoffen und Bangen: „Das Wetter ist herrlich. Allmählich beginnt’s, dass man
sich gewöhnt. (. . .) Wir halten, und wieder besteigen Hunderte Gefährten diesen
unendlich langen Zug. Der Menschheit ganzer Jammer ist zu sehen.“ Es ist ihre letzte
Karte.

Das letzte dokumentierte Lebenszeichen der Deportierten des Bielefelder Zuges
stammt von den Schwestern Clara Lorch (60) und Meta Meyer (53) aus Bad
Lippspringe. Ihre Karte ist in Oppeln abgestempelt – gut 140 Kilometer vor Auschwitz.
Der Rest sind Indizien einer bewussten Täuschung: Mal taucht das Ziel „Warschau“,
mal das Ziel „Auschwitz“ in offiziellen Unterlagen zu diesem Transport auf. Ein Koffer,
der in Auschwitz-Birkenau in einer Ausstellung zu sehen ist, gehört einem in Hamburg
Zugestiegenen. Angehörige senden schon 1942 auf Verdacht Briefe nach Auschwitz
oder erhalten auf Nachfragen hin den Hinweis „Auschwitz/Krakau“.
Abfahrtsort ins Ungewisse: Vorherige Depotationen aus
Bielefeld hatten Warschau oder Riga zum Ziel, wie auch der
Transport am 23.Dezember 1941, der fotografisch dokumentiert
ist. Foto: Stadtarchiv Bielefeld 

Die letzte Gewissheit fehlt. Zu viele Dokumente wurden kurz vor Kriegsende in
Bielefeld vernichtet.

Was bekannt ist: dass sich SS-Reichsführer Heinrich Himmler eine Woche nach Abfahrt
des Bielefelder Zuges das neue Vernichtungslager vorführen lässt.

Postkarten sind Puzzleteile der Vergangenheit: Die Bielefelder Forscher können anhand abgestempelter Postkarten belegen, dass der Zug über Hamburg, Ludwigslust, Berlin, Magdeburg und Breslau bis nach Oppeln in Polen fuhr. Hier verliert sich seine Spur - 140 Kilometer vor Auschwitz.                                                                      Grafik: Schultheiss - Daten: von Hollen, Decker, Freier



  • Der Text ist entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem Bielefelder Martin Decker sowie unter Verwendung von Materialien der Holocaustforscher Martin Decker, Kai-Uwe von Hollen und Thomas Freier.


Quelle: Neue Westfälische, 10.7.2019, Lokales S. 17

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„das vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“, hat christa wolf einen ursprünglichen satz von william faulkner weitergeführt. 

und ein bundestagsabgeordneter, der 2019 im deutschen bundestag sitzt, hat ja die gesamte ns-zeit mit all ihrem morden und leiden einfach mal zu einem "vogelschiss" abqualifiziert und heruntergespielt, den wir endlich bitteschön mal vergessen und verdrängen sollen.

da ist es schon ungeheuer wichtig, dass eine zeitung zum jahrestag der abfahrt des ersten durchgehenden deportationszuges nach auschwitz aus bielefeld vor 77 jahren eine ganze lokalseite zur dokumentation dieses vorganges nutzt - und am mahnmal vor dem bielefelder hauptbahnhof heute die namen von 103 deportierten aus bielefeld verlesen werden - es gab keine überlebenden. und vorgelesen werden auch die postkarten-texte dieser menschen, die sie während dieser fahrt in die ungewissheit und letztendlich in den tod an ihre lieben schrieben - erstmals beteiligt sich auch an dieser gedenkveranstaltung ein muslimischer verein, die "kreuzberger initiative gegen antisemitismus und islamfeindlichkeit" bielefeld (kgia).

das können dann hoffentlich auch viele schüler mitnehmen in den ferienstart in ein paar tagen - und vielleicht selbst mittels smart- oder i-phone oder tablet recherchieren, was mindestens genauso spannend und lehrreich ist als irgendein buntes 3-d-spiel, das auf dem display rauf und runter blinkt.

nein, wir dürfen uns nicht "fremd" stellen, wie christa wolf das ausgedrückt hat, wir dürfen uns nicht davon "abtrennen" oder es gar vergessen. wir sind es den opfern und ihrer würde auch nach 77 jahren immer noch und weiter bis in die zukunft schuldig, diese verirrungen eines ganzen volkes an sich herankommen zu lassen und zu durchleben: diese fast 18 stündige bahnfahrt zwischen hoffen und bangen  und dann der todesgewissheit für 1604 kilometer schienenstrecke, mit all den stationen und zusteige-halts: "wieder besteigen hunderte gefährten diesen unendlich langen zug", wie frau lieber das auf ihrer postkarte schreibt: "der menschheit ganzer jammer ist zu sehen" ... - das noch von wegen "vogelsch...".
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update:




















Gegen das Vergessen: Rund 80 Bielefelder erinnerten vor dem Hauptbahnhof an die Deportierten vom 10. Juli 1942. Martin Decker (Friedensgruppe) steht hier am Rednerpult. Foto: Mike-Dennis Müller | NW

vergeben heißt noch lange nicht: vergessen

Eva Mozes Kor - sinedi.bild-bearbeitung nach einem dpa-foto von julian stratenschulte




Tod einer Auschwitz-Überlebenden 

Eva Mozes Kor stand für Vergebung

Von Barbara Nolte | Tagesspiegel (click)

Foto: The Times | twitter
Das Foto ging um die Welt: Eva Mozes Kor, wie sie dem früheren Auschwitz-Wachmann Oskar Gröning die Hand reicht. Die Szene, die 2015 beim Prozess gegen Gröning aufgenommen wurde, symbolisierte, warum Eva Mozes Kor unter Auschwitz-Überlebenden so umstritten war. Bereits in 90er Jahren hatte sie sich entschlossen, den Nazis zu vergeben. Sie erklärte ihre Haltung einmal als „Akt der Befreiung“, um endlich den Hass abzuschütteln, der zuvor ihr Leben vergiftet habe.

Dabei stand Gröning sogar gelegentlich an der Rampe von Auschwitz, wo Eva Mozes Kor im Mai 1944, zehnjährig, zusammen mit ihren Eltern und drei Schwestern ankam. „Der Anblick ließ uns damals versteinern: Das war eindeutig kein Ort, an dem Menschen leben, sondern an dem sie sterben“, so berichtete sie vor zweieinhalb Jahren bei einem Berlin-Besuch. Sie war im Marriott am Potsdamer Platz einquartiert.


Kor war Teil von Mengeles Zwillingsexperimenten

Damals saß sie im Foyer auf ihrem Rollator: eine sehr gepflegte Frau in türkisfarbenem Seidenanzug, zierlich wie ein Kind. Ihre Haare blond und leicht zerzaust. Auf der Rampe habe ein Uniformierter auf sie und ihre Schwester Miriam gedeutet und gefragt, erzählte sie. „Sind das Zwillinge?“ Ihre Mutter habe gezögert: „Ist das gut?“ Ja, soll der SS-Mann geantwortet haben und zerrte die Mädchen mit sich fort. Ihr letzter Blick auf die Mutter, die die Arme nach ihr ausstreckt, ist Mozes Kor noch im Gedächtnis.

Das Bemerkenswerte an Eva Mozes Kor war weniger ihre Selbstheilungsmethode, die auf viel Unverständnis stieß, sondern dass sie so detailliert über ein Verbrechen berichten konnten, das sich bis heute schwer erforschen lässt: Mengeles Zwillingsexperimente. Unklar ist schon, wie viele Kinder betroffen waren. Schätzungen schwanken zwischen 300 und 3000.

Eva Mozes Kor erinnert sich an eine Baracke mit hunderten Zwillingen, ein ehemaliger Pferdestall mit drei Löchern im Boden: den Latrinen. Jeden Morgen seien die Kinder schweigend „wie eine Horde“ in die Labore getrottet. Dort trieben ihnen die Ärzte Nadeln in die Arme, für Infusionen, von denen die Kinder nicht wussten, um welche Substanzen es sich handelte.
Beim Interview im Marriott legte Eva Mozes Kor ihrem Gegenüber immer wieder ihre winzige Hand mit rosa lackierten Nägeln auf den Arm. Sie wirkte nie weinerlich, eher schelmisch: Zum Beispiel als sie davon berichtete, wie sie nachts Kartoffeln aus der Küche gestohlen hatte. Einmal sei sie erwischt worden, aber ihr sei nichts passiert. Mengeles Zwillinge genossen in Auschwitz besonderen Schutz. Doch wenn einer starb, wurde der andere umgebracht. Er war für die Forschung unwichtig geworden.

30 Jahre lang schwieg Kor

Eva Mozes Kor hat die Auschwitz-Geschichtsschreibung um eine psychologische Dimension bereichert. In den Baracken sei wenig gesprochen worden, erzählte sie zum Beispiel, denn jeder sei aufs Überleben fixiert gewesen. „Wenn meine Schwester gesagt hätte: ,Wir werden sowieso alle sterben.’ Was hätte ich damit anfangen sollen?“ Ihre Eltern hätte sie lange gehasst, erzählt Mozes Kor, weil sie sie nicht vor Auschwitz bewahren konnten. Die Familie stammte aus Rumänien. Die Eltern hatten erwogen, nach Israel auszuwandern, und es wieder verworfen.

Eva Mozes Kors Leben nach Auschwitz teilte sich in zwei Hälften: 30 Jahre hat sie gar nicht über ihre Erlebnisse gesprochen. Nicht mal mit der Zwillingschwester Miriam oder dem Ehemann, der ebenfalls von den Nazis interniert worden war – sie hatte ihn in Israel kennen gelernt, und war später mit ihm in die USA gezogen. In den darauffolgenden 30 Jahren hat sie über kein Thema häufiger gesprochen als über Auschwitz.

Das Ganze begann, als Eva Mozes Kors’ Schwester in den 80er Jahren Nierenprobleme hatte, mutmaßlich Spätfolgen der Experimente. Eva Mozes Kor hoffte, dass sich die Behandlungsmöglichkeiten verbessern würden, wenn sie Näheres über die Krankheitsursache herausfände. Erst las sie viele Mengele-Biografien, in denen aber nichts Konkretes über die an ihnen vorgenommenen Experimente stand. Deshalb beschloss sie, andere Überlebende zu befragen. Die Schwestern machten schließlich 122 Männer und Frauen ausfindig und gründeten das „Children of Auschwitz-Nazi’s Deadly Lab Experiments Survivors“ (C.A.N.D.L.E.S.).

Eigenes Holocaust-Museum

Eva Mozes Kor fand zwar keine Erklärung für die Krankheit der Schwester, dafür ihr Lebensthema: 1995 machte sie in ihrer Heimatstadt Terre Haute, Indiana, eine eigenes Holocaust-Museum auf. Im selben Jahr zog sie erstmals das Unverständnis der Auschwitz-Überlebenden auf sich, als sie den ehemaligen Lagerarzt Hans Münch zur Gedenkfeier anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers 50 Jahre zuvor einlud. Münch sei doch reuig, erklärte sie damals. Außerdem habe er die Funktionsweise der Gaskammern beschrieben, was eine bedeutsame Zeugenaussage gegen Revisionisten sei.

Trotz des vieles Gegenwinds und fortschreitenden Alters reiste Mozes Kor unermüdlich durch die Welt, um über die Gräuel der Nazis Zeugnis abzulegen. Am Donnerstag, bei der jährlichen Reise von C.A.N.D.L.E.S. nach Auschwitz, an der diesmal auch ihr Sohn teilnahm, starb sie mit 85 überraschend in Krakau. Am Tag zuvor, berichtet ihr Anwalt Markus Goldbach, hatte sie noch eine Besuchergruppe durch das Konzentrationslager geführt.

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vergeben heißt ja noch lange nicht: vergessen... - man sagt das zwar so schnell dahin: "das ist längst vergeben und vergessen" - aber alle wissen eigentlich: das ist eine milchmädchenrechnung. man kann wohl vor seinem eigenen gewissen demjenigen, der einem etwas angetan hat, vergeben - aber man wird die "tat" sicherlich mit sich rumschleppen, ein lebenlang...

wenn es nicht zu einem traumatischen ereignis kommt, das die erinnerung auslöscht - etwa bei hirnerschütterungen oder tumor-operationen am hirn - werden gerade erschreckende panische erlebnisse gut reproduzierbar im langzeitgedächtnis gespeichert, wenn auch so "zurechtgeschnitten", dass man damit (über)leben kann.

eva mozes kor hat ja als kleines mädchen mit 10 jahren diese schrecklichen dinge an sich und anderen erlebt: den verlust der familie - und die zwillingsversuche eines irren verrannten ns-arztes an ihr und ihrer schwester. und sie musste diese traumatischen erlebnisse  volle 30 jahre zunächst in ihren herzen bewegen - und nach außen hin schweigen.

vielleicht ist das auch das gängige verarbeitungsmuster dieser ns-zeit, denn auch in den deutschen familien wurde ja direkt nach dem kriegserleben zunächst - oft für lange zeit - geschwiegen...

und es kamen den (mit-)tätern von damals zupass, denn sie hatten ja ein großes interesse, das erlebte zu  v e r schweigen.

als jüdin stand frau kor ja den alttestamentarisch biblischen grundsätzen: auge um auge - zahn um zahn sicherlich irgendwie näher - aber gleichzeitig auch dem prozess der "tschuwah" und das versöhnungsfest "jom kippur", für umkehr und vergebung  - und all den hass und den groll zu dem erlebten hatte sie in sich hinein"gefressen" - im wahrsten sinne des wortes - denn es wurde darinnen - in ihr - ja nicht verdaut oder abgebaut - nicht verarbeitet - und nicht "integriert" - eher im gegenteil: es blähte sich auf über die jahre...

erst als sie für sich und andere das "erlebte" wieder bewusst werden ließ und bearbeitete, als sie als zeugin zu ns-gerichtsverhandlungen flog und ihr privates holocaust-museum einrichtete und sich aktiv um die recherchen zu der erkrankung ihrer schwester bemühte, konnte sie das erlebte "fruchtbringend" in sich aufnehmen und bearbeiten: und das alles war ja eher ein gedenken und erinnern als ein vergessen: vergeben und versöhnen bedeutet nicht gleichzeitig vergessen und freisprechen und "schwamm drüber"... - sonder ein "auseinander-setzen" im guten sinn.

das giftige abgelagerte sediment der verdrängung wurde nun umgewandelt in fruchtbare humuserde...: es war ein „akt der befreiung“, um endlich den hass abzuschütteln, der zuvor ihr leben vergiftet habe, so beschrieb sie das selbst.

und so ist sicherlich auch dieses "vergeben" zu bewerten: als selbsttherapie: doch ihr "vergeben" heißt noch lange nicht "vergessen".


inge deutschkron: auschwitz-prozess 1963-1965

Ihre ganze Sympathie gilt den Zeuginnen und Zeugen des Holocaust

Inge Deutschkron ist eine leidenschaftliche Aufklärerin. Ihre Artikel über den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965 sind nun in sorgsam editierter Buchform erschienen

VON WILFRIED WEINKE | taz

Inge Deutschkron -
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Sie trug den gelben Stern und auch den Zwangsnamen Sara. Sie überlebte die Judenverfolgung in Berlin, mehr als zwei Jahre versteckt in der Illegalität, ständig von Denunziation und Deportation bedroht: Die Rede ist von der 96-jährigen Journalistin und Autorin Inge Deutschkron.

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, ab 1946 in England lebend, nach Reisen auf dem indischen Subkontinent und Asien entschloss sie sich Mitte der fünfziger Jahre, nach Westdeutschland zurückzukehren und als Journalistin über und aus der Bonner Republik zu berichten. Jenem verstockten deutschen Obrigkeitsstaat, in dem die Forderung nach einem „Schlussstrich“ bereits als Fanfare einer breiten Öffentlichkeit erscholl, die sich ihrer verbrecherischen NS-Vergangenheit nicht zu stellen bereit war und wo Nazis erneut in führenden Positionen saßen.

Kann es erstaunen, dass Inge Deutschkron [click = wikipedia], die ausgegrenzte und verfolgte Jüdin, Hans Globke, den Mitverfasser und Kommentator der „Nürnberger Rassengesetze“, späteres CDU-Mitglied und damaligen Staatssekretär von Bundeskanzler Konrad Adenauer, öffentlich einen „Schweinehund“ nannte? Deutschkrons Rückkehr nach Bonn war, wie sie es selbst ausdrückte, eine „Reise zu meinem Beruf“. Zuerst als freie Journalistin arbeitend, schrieb sie bald auch als Korrespondentin der israelischen Zeitung Ma’ariv.

Für diese Tageszeitung berichtete sie von Oktober 1963 bis zum August 1965 vom Frankfurter Auschwitz-Prozess. Kontinuierlich nahm sie als Prozessbeobachterin an dem „Strafverfahren gegen Mulka u. a.“ teil, benannt nach dem Hamburger Export-Kaufmann Robert Mulka, Adjutant des Lager­kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß.Gebannt folgte sie den Verhandlungen, stenografierte ihre Beobachtungen, tippte ihre Texte in englischer Sprache in die Schreibmaschine, um sie nach Tel Aviv zu telegrafieren, wo sie ins Hebräische übersetzt wurden. Diese belastenden, unter enormem Zeitdruck verfassten Berichte erscheinen nun erstmals, aus dem Englischen übertragen und herausgegeben von der Historikerin Beate Kosmala, in Buchform.

Präzise Reportagen

Präzise und fast emotionslos versuchte Inge Deutschkron durch ihre Gerichtsreportagen einer israelischen Leserschaft die Geschehnisse in Auschwitz zu schildern. Erfüllt von der Hoffnung, dass der Frankfurter Prozess der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen in Auschwitz und der Bestrafung der Täter dienen werde, beschrieb sie detailliert das Verhalten der Verteidiger, allen voran deren Hauptprotagonisten Hans Laternser, den sie wegen seines Verhaltens gegenüber den Zeugen wiederholt und unverhohlen als „Nazi-Anwalt“ oder „Nazi-Juristen“ bezeichnete. Auch wenn ihre Aufzeichnungen kein Wortprotokoll darstellen, versuchte Inge Deutschkron, den Verlauf der Verhandlungstage durch dialogische Sequenzen wie szenische Skizzierung wiederzugeben. Mit den wissenschaftlichen Gutachten der Historiker vom Institut für Zeitgeschichte in München war sie ebenso unzufrieden wie der Korrespondent des Norddeutschen Rundfunks, Axel Eggebrecht; beide bemängelten, dass nur unzureichend die Bedeutung der IG Farben, die Rolle anderer deutscher Firmen und Profiteure bei der Ausbeutung der Auschwitz-Häftlinge aufgedeckt wurde.

Deutschkrons ganze Sympathie gilt den Hunderten Zeugen, die aus verschiedenen europäischen Ländern wie auch aus Israel ins Land ihrer Mörder und Peiniger gereist waren, um trotz aller Traumata und psychischen Belastungen vor Gericht auszusagen. Auch mit dem zeitlichen Abstand von mehr als 50 Jahren erschüttern diese Zeugenaussagen, versagt die Vorstellungskraft angesichts der immer und immer wieder geschilderten unmenschlichen Grausamkeiten im Lageralltag.



„Keiner von uns 
dürfte am Ende des Prozesses 
der gleiche Mensch gewesen sein“

Eine besondere Würdigung in ihren Berichten erfuhr der Vertreter der Nebenkläger, der aus Kassel stammende Henry Ormond, dessen Initiative es zu verdanken war, dass das Gericht im Dezember 1964 in Auschwitz eine Ortsbesichtigung vornahm, an der dann auch Inge Deutschkron teilnahm. Das Urteil des Frankfurter Gerichts vom August 1965 kommentierte sie mit Enttäuschung und kritisierte „die Unzulänglichkeit des deutschen Strafrechts, um Verbrechen, wie sie in Auschwitz verübt worden waren, adäquat zu bestrafen.“

Noch im selben Jahr veröffentlichte Inge Deutschkron ihr Buch „… denn ihrer war die Hölle“ über Kinder in Gettos und Lagern. Im Vorwort schrieb sie: „Keiner von uns Journalisten, der über einen längeren Zeitraum hinweg im Gerichtssaal von Frankfurt zugegen war, dürfte am Ende des Prozesses der gleiche Mensch geblieben … sein.“

Ihre jetzt von Beate Kosmala sorgsam edierten Prozessberichte stellen wichtige Zeitdokumente dar, geschrieben von einer couragierten Frau und leidenschaftlichen Aufklärerin.
  • Inge Deutschkron: „Auschwitz war nur ein Wort. Berichte über den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965“. Metropol Verlag, Berlin 2019, 328 S., 24 Euro
text: taz, donnerstag, 16. mai 2019, kultur, s. 17



gerade in dieser zeit ist es so wichtig, eine gut editierte buchausgabe der exakten reportagen des auchwitz-prozesses neu aufzulegen - ehe vielleicht mit den "zeitzeugen" auch noch die dünngesäte juristische aufarbeitung der nazi-zeit überhaupt in vergessenheit gerät und aus den gedächtnissen gänzlich getilgt wird.

der lyriker erich fried (1921-1988), ein jüdischer emigrant, der als 17-jähriger junger mann nach der ermordung seines vaters durch die gestapo aus österreich nach london floh, schrieb folgendes gedicht - dessen zeilen und aufforderungen zeitlos weiterleben:

Wegzeichen

Wo noch Lügen liegen
wie unbegrabene Leichen
dort ist der Weg der Wahrheit
nicht leicht zu erkennen
und einige sträuben sich noch 
oder finden ihn zu gefährlich
Die Wahrheit dringt vor
und schickt zugleich ihre Sucher
in die Geschichte zurück
und beginnt aufzuräumen
mit den Verleumdungen
und mit dem Totschweigen der Toten

Vieles wird wehtun
manches verlegen machen
aber die Wahrheit ist
der Weg der Notwendigkeit
wenn das Reich der Freiheit nicht wieder
nur ein leeres Wort bleiben soll
und nur ein Gespött
für Feinde und für Enttäuschte 

Erich Fried