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alles könnte anders sein




Heute glaubt niemand mehr, dass es unseren Kindern mal besser gehen wird. Muss das so sein? Muss es nicht! Der Soziologe und erprobte Zukunftsarchitekt Harald Welzer entwirft uns eine gute, eine mögliche Zukunft. Anstatt nur zu kritisieren oder zu lamentieren, macht er sich Gedanken, wie eine gute Zukunft aussehen könnte: In realistischen Szenarien skizziert er konkrete Zukunftsbilder u.a. in den Bereichen Arbeit, Mobilität, Digitalisierung, Leben in der Stadt, Wirtschaften, Umgang mit Migration usw.

Erfrischend und Mut machend zeigt Welzer:

Die vielbeschworene »Alternativlosigkeit« ist in Wahrheit nur Phantasielosigkeit. 

Wir haben auch schon viel erreicht, auf das man aufbauen kann. Es ist nur vergessen worden beziehungsweise von andere Prioritäten verdrängt. Es kann tatsächlich alles anders sein. Man braucht nur eine Vorstellung davon, wie es sein sollte. Und man muss es machen. Die Belohnung: eine lebenswerte Zukunft, auf die wir uns freuen können.

Die Klimakatastrophe ist kaum aufzuhalten, täglich sterben bis zu 130 Tier- und Pflanzenarten aus, und auch um die Menschen ist es nicht gut bestellt: Weltweit nimmt die Ungleichheit zwischen Arm und Reich rapide zu. Gründe zum Verzweifeln? Nein, sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer, der es in der Zeitschrift Cicero gerade auf Platz 27 der einflussreichsten Intellektuellen des Landes geschafft hat, in seinem neuen Buch „Alles könnte anders sein“. Indem wir uns fortwährend mit der kommenden Apokalypse beschäftigen, so Welzer, vergessen wir, wie viel Handlungsspielraum wir eigentlich haben. Ihm geht es dabei nicht um Systemumsturz oder einen Masterplan zur Weltrettung, sondern um viele kleine, „anfassbare“ Ansätze zum Besseren: Von der autofreien Stadt bis hin zu Unternehmensformen, die am Gemeinwohl orientiert sind. Die Menschen könnten sich wieder als „selbstwirksam“ erfahren, ihr Handeln als sinnvoll und motivierend. Welzers aktuell überzeugendstes Beispiel ist die Schülerin Greta Thunberg. Die 16-jährige schwedische Klimaschutzaktivistin hat maximale Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sie rüttelt Politiker wach und animiert Schülerinnen und Schüler in ganz Europa zum „Friday for future“, die großen Demonstrationen für eine lebenswerte, solidarische Welt.

„ttt – Titel, Thesen, Temperamente“ hat Harald Welzer getroffen und nachgefragt, warum er einen ökologischen und sozialen Kapitalismus für möglich hält. 

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Interview mit Harald Welzer

"Unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten ist unmöglich"

Was Aufklärung im 21. Jahrhundert bedeutet, liegt für den Soziologen Harald Welzer auf der Hand: das Naturverhältnis des Menschen neu bestimmen, Freiheitsrechte ausbauen, globale Teilhabe ermöglichen. Dazu gibt es trotz aller Rückschläge viele zukunftsträchtige Geschichten, die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft machen. 

Ein Gespräch mit Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen.       

Wenn sich heute Politiker mit kontrafaktischen Behauptungen brüsten, scheint Aufklärung wichtiger denn je zu sein. Was bedeutet sie im 21. Jahrhundert?

Im 21. Jahrhundert bedeutet sie eine Abkehr vom rein idealistischen Gehalt hin zu einem materiellen Gehalt der Aufklärung. Wir stehen heute vor dem ernsten Problem, dass wir unser Naturverhältnis verändern müssen. Denn es wird ja zunehmend deutlich, dass wir uns durch die Art unseres Weltverbrauchs die eigene Lebensgrundlage entziehen. Wir leben so, als gäbe es mehrere Erden. Es gibt aber nur eine. Kerninhalt der nächsten Phase der Aufklärung ist also eine Neubestimmung des Verhältnisses zur Natur.

Futurzwei, die von Ihnen gegründete Stiftung für Zukunftsfähigkeit, leistet einen konkreten Beitrag dazu. Was unterscheidet sie von den zahlreichen Instituten, die sich mit Zukunftsfragen beschäftigen?

Fundamental unterscheidet uns von diesen Instituten, dass man aus meiner Sicht die Zukunft nicht erforschen, sondern allerhöchstens gestalten kann. Dementsprechend beschäftigt sich Futurzwei mit real existierenden Projekten, Unternehmen oder Individuen, die sich im Sinne eines veränderten Naturverhältnisses auf die Suche nach anderen Wirtschaftsformen machen und einen anderen Umgang mit Ressourcen praktizieren – und dies nicht in einer vagen Zukunft, sondern heute. Was uns interessiert, ist der Pfadwechsel in der Gegenwart, das sind also Projekte, die mit dem Pfadwechsel schon experimentieren oder ihn erfolgreich betreiben.

Welche Art von Zukunft können wir denn gestalten?

Um diese Frage zu beantworten, muss man sich erst einmal klar machen, in welcher Gegenwart wir leben. Als Bewohner liberaler Demokratien des westlichen Nachkriegstypus blicken wir auf eine unfassbare Erfolgsgeschichte zurück, sowohl, was die Sicherheit angeht, als auch die immateriellen Güter, über die wir verfügen – Lebenserwartung, Gesundheit und insbesondere Freiheit und Demokratie. Das bedeutet für das Individuum den größten Handlungsspielraum, der in der Geschichte überhaupt existiert hat. Wir sind Teil eines erfolgreichen zivilisatorischen Projekts, und das erlegt uns die Verantwortung auf, dieses Projekt weiterzuentwickeln: bei der Sicherung von Freiheit, Demokratie, Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit. Um das sicherstellen zu können, müssen wir zwangsläufig die Art und Weise, wie wir wirtschaften, verändern im Sinne eines anderen, nachhaltigen Umgangs mit Welt.

Ist das Buch immer noch das zentrale Aufklärungsmedium?

Das zentrale Aufklärungsmedium ist das Gespräch – also die wechselseitige Aufklärung über die Art und Weise, wie man die Welt sieht. Weil das Buch aber auch ein substanzieller Gesprächsbeitrag sein kann, würde ich das bejahen.

Wird es das noch für längere Zeit bleiben?

Ich glaube das sogar sehr stark. Je mehr sich andere Medien auf die reine Information – oder auf das, was man als Information behauptet – verlagern, desto wichtiger und attraktiver wird ein Medium, in dem argumentiert wird, abgewogen wird, und Widersprüche artikuliert werden können. Das Buch hat keineswegs abgedankt.

Welche Rolle spielen Verlage? Haben sie einen besonderen Auftrag?

Welzer: Nicht nur für Verlage, sondern für alle Unternehmen in freien Gesellschaften gilt, dass sie ihre Rolle als gesellschaftliche Akteure stärker akzentuieren müssen. Wir haben gegenwärtig das Problem, dass sich politische Öffentlichkeit total fragmentiert, andererseits, dass sich soziale Kommunikation verändert, die Menschen zunehmend in Filterblasen existieren, und wir einen Entpolitisierungsprozess erleben. Ich bin davon überzeugt, dass Verlage als gesellschaftspolitische Akteure in Zukunft mehr gefragt sind und sich stärker exponieren sollten – womit sie sich auch angreifbarer machen.

Die Utopie einer freien Gesellschaft

Ihr neuester Debattenbeitrag ist das Buch "Alles könnte anders sein – Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen". Braucht das die Welt?

Unbedingt. Man vergegenwärtige sich nur den Zustand, den wir in Deutschland und anderen europäischen Ländern derzeit beobachten können: Menschen, die extrem unzufrieden und schlecht gelaunt sind – und dies bei einem extrem hohen materiellen Lebensstandard. Das ist ein neues Phänomen. Nie ging es den Menschen so gut, und nie waren sie so schlecht drauf. Das hat sicher damit zu tun, dass viele nicht mehr wissen, worauf alles hinauslaufen soll – außer auf das nächste iPhone oder die nächste touristische Sensation. Es gibt kein gesellschaftliches Projekt, das man verwirklichen möchte. Demokratische Gesellschaften brauchen aber für den Zusammenhalt ein gemeinsames Projekt. In der frühen Nachkriegsgesellschaft waren dies soziale Marktwirtschaft, Aufstieg und Wohlstand, gekoppelt an technische Utopien wie die Eroberung des Weltraums oder gesellschaftliche Utopien wie Öffnung der Hochschulen und die Bildungsgesellschaft. Weil wir im Moment Orientierungslosigkeit auf der einen Seite und eine extreme Gegenwartsfixierung auf der anderen Seite erleben, ist ein auf die Zukunft gerichtetes Projekt existenziell.

Fehlt uns ein großer Entwurf?

Ich glaube nicht. Wenn große Utopien real werden, dann geht das immer tödlich aus, wie das 20. Jahrhundert zeigt. Mein Entwurf setzt da an, wo es um den Weiterbau dessen geht, was wir schon erreicht haben. Vieles von dem war vor 100 Jahren noch eine unerfüllbare Utopie. Heute haben in unserer gesellschaftlichen Entwicklung schon sehr viele Bausteine, die wir gar nicht verändern und aufgeben wollen. Aber es fehlen noch einige: das schon erwähnte andere Naturverhältnis, ein anderer Umgang mit uns selbst und den anderen, eine Kultur der Freundlichkeit, internationale Gerechtigkeit, Institutionen auf der internationalen Ebene wie ein internationaler Umweltgerichtshof, ein internationales Steuersystem und ein zwischenstaatliches Gewaltmonopol. Die Gesellschaftsutopie in meinem neuen Buch ist auch so gebaut: als der Umbau- und Ergänzungsplan für die offene Gesellschaft.

Ihre Bücher, aber auch ihre Vorträge, haben häufig einen ironischen Unterton. Hat das Methode?

Ich glaube, dass man die Vorstellung einer veränderten Welt nicht sachlich-moralisch, quasi pastoral vortragen kann – sondern Zukunft muss, wenn man sie denn gestalten will, etwas sein, worauf man Lust hat, sie zu gestalten. Da gehört eine bestimmte Ästhetik des Darüber-Sprechens dazu, und die schließt Ironie ein.

Krisenangst und Selbstzerstörung

Viele Menschen haben das Gefühl, in einem permanenten Krisenmodus zu leben. Gibt es Grund zur Beruhigung?

Im Grunde leben wir, zumindest in Deutschland, in einer sehr krisenresistenten Gesellschaftsform, die auch unter Stressbedingungen funktioniert. Wir haben es eher mit einem kommunikativen Problem zu tun: In den Medien, aber auch privat und politisch wird viel mehr über Krisen geredet als über das, was funktioniert. Das verstellt die Optik. Wir haben natürlich dynamische Entwicklungen auf der geopolitischen Ebene, auf der physikalischen Ebene in Sachen Klimawandel und so weiter, zudem erleben wir eine Renaissance rechten und autoritären Denkens. Ob das deshalb schon eine Krise ist, ist die Frage. Gesellschaft entwickelt sich ohnehin nicht linear, sondern in Wellenbewegungen, die schwer antizipierbar sind.

Wie könnte die Menschheit verhindern, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören?

Der erste Punkt wäre, anzuerkennen, dass ein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wir haben es heute nicht mehr nur mit einem Ressourcenproblem zu tun, sondern mit einem "Senken"-Problem, das heißt mit der Frage „Wo gehen die Emissionen hin? Wo geht der Müll hin? Wo landet unser Plastik?“ Die Absorptionsfähigkeit des Planeten ist möglicherweise die entscheidendere Wachstumsgrenze als die Endlichkeit der Ressourcen. Beide zusammen machen aber unsere Form des Wirtschaftens nicht zukunftsfähig. Reiche Gesellschaften müssen abgeben, damit die armen Gesellschaften auf einen Standard von Lebenssicherheit und Freiheit kommen, den wir schon seit vielen Jahrzehnten genießen. Und wenn wir uns von der Überlastung durch Konsum und Mobilität befreien, können wir freier, sportlicher und eleganter werden. Dazu sollten wir versuchen, auf der internationalen Ebene ein ausgeglicheneres, gerechteres Verhältnis herzustellen.

Sind die Folgen unseres Tuns systembedingt, oder fehlt der Spezies Mensch grundsätzlich die Fähigkeit, ferne Folgen ihres Tuns abzuschätzen?

Letzteres glaube ich nicht. Menschen sind die anpassungsfähigste Lebensform, die bislang hervorgebracht worden ist, und sie kann sich an die unterschiedlichsten Umweltsituationen anpassen. Insofern kann sie sich ja auch an eine Kultur mit Kreuzfahrtschiffen anpassen, bei der 12.000 Menschen eingepfercht werden, und genau so kann sie sich an eine Kultur anpassen, die solche Schiffe nicht hat. Wir alle sind sehr gut im Antizipieren von Zukunft, sonst hätten wir keine Idee davon, was aus unseren Kindern und Enkeln werden soll. – Wir haben nur eine Wirtschaftsform entwickelt, die diese Dimension von Langfristigkeit und Antizipation systematisch ausschließt, weil sie auf kurzfristige Erzeugung von Mehrwert abgestellt ist und nicht in der Lage ist, langfristig zu planen. Aber das kann man ändern, das ist nicht gottgegeben.

Der Mensch sei nur deshalb so erfolgreich geworden, weil er andere Arten verdrängt und deren Lebensräume zerstört habe, sagen Evolutionsbiologen. Radiert der Mensch nicht irgendwann sich selbst aus?

Das wäre evolutionär betrachtet unplausibel. Die Menschen sind nicht nur biologische Wesen, sondern auch kulturelle Wesen. Sie schaffen ja ihre eigenen Überlebensumwelten. Und insofern glaube ich, ist der Peak der historisch ja sehr jungen Entwicklung des Wachstumsfetischismus wahrscheinlich überschritten. Das wird notwendigerweise zu einer Veränderung führen müssen, denn so kann es nicht weitergehen.

Wieso konnte sich der Kapitalismus, gepaart mit Hyperkonsum, als globale Wirtschaftsform etablieren?

Weil er fühlbare Verbesserungen für Menschen anbietet, und zwar insbesondere für Menschen, die aus der Armut kommen, und spüren, dass die Armut nicht lebenslänglich sein muss, sondern dass man sich aus ihr befreien kann. Wenn man sieht, dass vor einem Jahrhundert noch 80 Prozent der gesamten Menschheit in extremer Armut gelebt hat, und es heute vielleicht noch zehn Prozent sind, merkt man natürlich, welche Dynamik hinter dieser Befreiung steht. Da hat der Kapitalismus tatsächlich eine Menge zu bieten.

Aber es gibt einen Moment, an dem das Ganze kippt …

Dieser Moment ist ja längst erreicht, und das macht unsere Gegenwartssituation prekär. Wir können ja nicht vom Klimawandel, dem Artensterben oder dem Zustand der Ozeane abstrahieren, wir können ja nicht so tun, als gäbe es das alles nicht, weil wir noch kein anderes gesellschaftliches Modell haben. Deshalb fixiert man sich ja auf diese Gegenwart und meint, man könne so weiter machen. Aber Klimawandel und Flüchtlingsbewegung zeigen uns, dass das eine Illusion ist. Das ähnelt dem Verhalten eines Süchtigen, der sich jeden Morgen vornimmt, nächste Woche aufzuhören. Nur, der Punkt mit der nächsten Woche kommt nie.

Digitalisierung ohne Legitimation

Vieles wird in Zukunft davon abhängen, wie wir mit digitalen Medien umgehen. Ist die Digitalisierung ein Feind der Freiheit, oder sind es die Feinde der Freiheit, die die Digitalisierung für ihre Zwecke nutzen?

Die digitalen Technologien sind deshalb problematisch, weil wir überhaupt keine gesellschaftliche Debatte darüber führen, ob man all diese Mechanismen und Zukunftsvorstellungen einer digitalen Welt überhaupt haben will. Sind sie mit unserem demokratischen System vereinbar? Oder führen sie nicht zu einer totalen Überformung unserer Lebensweise und Gesellschaft? Mein Votum geht dahin – und das wird auch Teil meiner Gesellschaftsutopie sein – , dass sich diese Technologie danach richten soll, wie wir leben wollen. Ich finde es immer interessant, wenn ich Vorträge halte, und beispielsweise von 300 Zuhörern nur zwei von einem autonomen Fahrzeug gefahren werden wollen. Und wenn man fragt, ob jemand in einem Smart Home leben möchte, meldet sich überhaupt keiner mehr. Trotzdem wird von Regierung und Industrie immer gesagt: Das ist die Zukunft.

Mit ihren Büchern wünschen Sie sich Leser, die kein Smartphone besitzen. Ist jeder, der ein Smartphone besitzt, ein Depp?

Ich würde eher sagen, ein Opfer. Das kann man ja auch sein, wenn man superintelligent ist. Nein, ich glaube, der Besitz eines Smartphones etabliert Verhaltensweisen, über die man sich wundern würde, wenn man sich in die Zeit davor zurückversetzen könnte. Die Menschen haben keine Zeit, sie haben Konzentrationsschwierigkeiten und delegieren unfassbar viele Urteile an diese Maschine. Man sieht, dass Suchtstrukturen erzeugt werden, die man wenige Jahre zuvor noch für unmöglich gehalten hätte. Deshalb polemisiere ich gegen das Smartphone. Dazu kommt als Problem, dass Fossile wie ich zunehmend ausgegrenzt sind, und je weiter das voranschreitet, umso weniger Teilhabemöglichkeiten hat man. Das führt dann so weit, dass man ohne Smartphone irgendwann keine Fahrkarten mehr kaufen oder keine Bankgeschäfte mehr abwickeln kann.

Geschichte im Rückwärtsgang?

Die offene Gesellschaft wird nicht nur von smarten Konzernen oder gewaltbereiten Islamisten bedroht, sondern auch von der extremen Rechten. Erleben wir gerade Geschichte im Rückwärtsgang?

Die Vorstellung, es würde sich alles linear in die Richtung einer weiteren Liberalisierung entwickeln, ist – das muss man selbstkritisch sagen – etwas naiv gewesen. Jede gesellschaftliche Bewegung erzeugt immer eine Gegenbewegung, und wir haben es mit nicht-linearen, amplitudenhaften Entwicklungsprozessen zu tun. Jetzt erleben wir einen Roll-back, auf den im Grunde niemand richtig vorbereitet ist. Das macht die Überraschung, die Irritation und zum Teil auch die Hilflosigkeit aus. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist, und da habe ich überhaupt keine Antwort drauf, dass heute, auf dem Höhepunkt des wirtschaftlichen Wohlergehens, im Wissen, wie die Geschichte des Nationalsozialismus ausgegangen ist, mit Krieg und Holocaust, für ein Fünftel der Bevölkerung eine rechte Bewegung wieder attraktiv wird. Das gehört für mich im Moment zu den ungelösten Rätseln der Menschheit. Solange man dieses Rätsel nicht lösen kann, sollte man es aber bitte bekämpfen.

Deprimiert es Sie manchmal, dass es so ist?

Ich finde es unfassbar borniert, menschenfeindlich und niederträchtig. Wenn man derartig seinen Arsch im Trockenen hat wie die allermeisten Menschen in unserem Lande, und dann eine solche Kultur der Menschenfeindlichkeit und Verächtlichkeit entwickeln kann, dann finde ich das wirklich deprimierend.

Produktivkraft Hoffnung

In Ihren Büchern sprechen Sie über die Möglichkeit des kreativen Widerstands. Glauben Sie, dass da viele mitmachen werden?

Ich erlebe schon auf den großen Demonstrationen dieser Wochen – etwa der "Unteilbar"-Kundgebung in Berlin –, dass eine junge politische Generation heranwächst, die die Zukunft als ihre versteht und auch dafür einstehen möchte.

Ihr Ausblick auf morgen ist trotz allem hoffnungsvoll – ganz im Sinne von Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung"?

Ja, aber neben seinem Hauptwerk ist "Erbschaft dieser Zeit" eines seiner stärksten Bücher. Das hat mich deshalb so immens beeindruckt und geprägt, weil Bloch die Produktivkraft Hoffnung ganz woanders sucht als etwa die Anhänger der Adorno-Hochkultur. Er interessiert sich für Zirkus, für Jahrmarkt, für Abenteuerromane und liest das alles als Sucher nach der Produktivkraft Hoffnung und Träumen. Und ich spüre in ähnlicher Weise die Zukunftsressourcen und Horizonte auf, die schon da sind. Wo sind die Gegenkräfte, wo ist das Widerstandspotenzial – und wie kann man die stärker machen? Letztlich ist das dieselbe Idee wie in "Erbschaft dieser Zeit". Es ist ein kulturelles Moment in Blochs Texten, das ich nach wie vor sehr wichtig finde.

Interview: Michael Roesler-Graichen



Harald Welzer, S!|graphic nach einem Photo von Wolfgang Schmidt



Zur Person

Harald Welzer, Jahrgang 1958, gilt spätestens seit seinem Buch "Selbst Denken" als einer der anregendsten Intellektuellen Deutschlands. Mit seiner Initiative "Die offene Gesellschaft" mischt er sich durch Aktionen, Konzerte und Perfomances bundesweit in die politischen Debatten ein; die Stiftung "Futurzwei", deren Direktor er ist, sammelt Geschichten von besseren Lebensstilen und einer gelingenden Zukunft. Außerdem lehrt Welzer Transformationsdesign an der Universität Flensburg sowie an der Universität St. Gallen. In den Fischer Verlagen sind von ihm zuletzt erschienen: "Selbst denken", "Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit", "Wir sind die Mehrheit" sowie "Welzer wundert sich. Rückblicke auf die Zukunft von heute". Seine Bücher sind in 21 Ländern erschienen.

🔶Harald Welzer, "Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen", S. Fischer, 320 Seiten, €uro 22,00

Text: Börsenblatt



tja - ich habe auch das gefühl irgendwie ans ende des tunnels gelangt zu sein - am ende sehe ich wenigstens licht schimmern. dieser tunnel war dieser lange nachkriegsschlauch: immer mehr desselben - wachstum - wachstum: "the same procedure as last year??? - the same procedure as every year, james!!!": da kommen dann alle 2 jahre die gewerkschaften an: und fordern 6 % mehr lohn - und sie bekommen nach 3 nachtsitzungen und der einschaltung eines fast 80-jährigen "schlichters" aus dem ruhestand dann genau den prozentsatz, der seit anfang des rechnungsjahres bereits im budget vorgesehen war: nämlich 3,4% und eine einmal-zahlung von 350 uro - und damit wird dann das häuschen und der diesel abbezahlt - und die kinder sollten natürlich auf's gymnasium - und anschließend arzt oder börsenmakler werden - oder sowas eben ... eine endlosschleife - aus der wir kaum noch herausfinden ...

und hier unten  - zwei bild-posts hier drunter steht ein zitat des kürzlich verstorbenen multitalents karl lagerfeld: 
"wir kön­nen heu­te dies sa­gen und mor­gen das ge­gen­teil. das ist to­tal egal. die rea­li­tät ist ge­nau das, was ich ver­su­che zu ver­mei­den. wir ver­kau­fen doch alle nur wind. was ich sage, ist nie län­ger gül­tig als sechs mo­na­te."
und im buch der bibel kohelet/prediger (einheitsübersetzung) steht zu anfang ähnliches:
"Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.

Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne?

Eine Generation geht, eine andere kommt. / Die Erde steht in Ewigkeit.
Die Sonne, die aufging und wieder unterging, / atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht.
Er weht nach Süden, dreht nach Norden, dreht, dreht, weht, der Wind. / Weil er sich immerzu dreht, kehrt er zurück, der Wind.
Alle Flüsse fließen ins Meer, / das Meer wird nicht voll.
Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen, / kehren sie zurück, um wieder zu entspringen.
Alle Dinge sind rastlos tätig, / kein Mensch kann alles ausdrücken,
nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, / nie wird ein Ohr vom Hören voll.
Was geschehen ist, wird wieder geschehen, / was getan wurde, wird man wieder tun: / Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: / Sieh dir das an, das ist etwas Neues - / aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.
Nur gibt es keine Erinnerung an die Früheren / und auch an die Späteren, die erst kommen werden,
auch an sie wird es keine Erinnerung geben / bei denen, die noch später kommen werden."
ja - und das ist vielleicht dann der knackpunkt: der prediger kohelet sagt: 

... das Meer wird nicht voll.
Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen, / kehren sie zurück, um wieder zu entspringen. ...

aber durch das abschmelzen der pole und der gletscher aufgrund der luftverschmutzungen und der damit verbundenen erderwärmung wird das meer vielleicht doch "voll" - übervoll vielleicht: aber dagegen lässt sich heute etwas tun - jetzt gleich - jetzt im moment ...

dann hat man die bodenhaftung vielleicht auf vielen umwegen zurückgewonnen - auf alle fälle sitzt man nicht mehr mit im dunkel des oben genannten tunnels - man sieht licht schimmern ...

doch lagerfeld hat noch etwas sinngemäß gesagt: 
"ich will freiheit - und keine verantwortung tragen müssen" ...

aber dieses "tragen müssen" zeigt ja schon an: da malocht jemand für das, was er gerne macht 20 stunden am tag - und nennt das dann seine "freiheit" - und weist jede "verantwortung" strikt von sich ... - erwartet aber von einem befreundeten verleger, dass der morgens um 6 uhr alles liegen und stehen lässt - und auch seinen rasierapparat zur seite legt - um mit ihm den nächsten photoband durchzusprechen und die papierqualiäten festzulegen ...

und in 1-2 jahren liegt dieser photoband dann auf dem grabbeltisch der buchhandlungen oder im flohmarktkarton und geht für "nen fünfer" weg...

welzer hat also recht: ressourcen sind genug da - wir alle müssen nur aus unserer jeweiligen "blase" kommen, die uns noch umschließt und gefangen hält: wir müssen das handy weglegen - wir müssen unseren jeweiligen partnern nicht andauernd mitteilen, wo wir gerade sind - und der nsa und dem gps auch nicht - und die hunderttausenden von "niedlichen" katzen- und babybildchen sind jetzt echt genug ... - dafür müssen wir uns auf die socken machen, um aus diesem tunnel zu kommen: ins licht - wo unsere ganze energie gebraucht wird ...



zum wochenende: die aufgehängte "botschaft" | S!|art

aufgehängte "botschaft" → click here

dies und das





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Wir kön­nen heu­te dies sa­gen 
und mor­gen das Ge­gen­teil. 

Das ist to­tal egal. 

Die Rea­li­tät ist ge­nau das, 
was ich ver­su­che zu ver­mei­den. 

Wir ver­kau­fen doch alle nur Wind. 

Was ich sage, ist nie län­ger gül­tig 
als sechs Mo­na­te.


Karl Lagerfeld







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schnittblume in vase

schnittblume in vase | sinedi|photography

der mensch ist mehr als die summe seiner teile




Die #App weiß, wann du stirbst

Wir tragen sie ums Handgelenk und in der Hosentasche: Smarte Geräte von Google und Co. machen aus dem Körper Datenpakete

Von Anna-Verena Nosthoff, Felix Maschewski | NZZ

Die Großkonzerne aus dem Silicon Valley arbeiten bekanntermaßen daran, unsere Welt wie eine Karte lesbar zu machen. Jedes geschriebene Wort soll gescannt, jede Strasse und jedes Haus erfasst, jede soziale Regung gesammelt, abrufbar, zugänglich gemacht werden. Man will nicht nur viel, man will alles wissen. Damit sich die Menschheit weniger irrt und verwirrt, besser durch die Gegenwartsgischt navigiert – damit sie datenbasiert an sich selbst gesunde.

So nimmt es nicht wunder, dass GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) und Co., während sie bereits die Kommunikationssphäre dominieren, den Sektor Gesundheit wie eine Terra incognita vor sich liegen sehen. Die neuen Horizonte bestimmen dabei keine ferne Utopie, sondern ein Land der unendlich profitablen Möglichkeiten, einen Sehnsuchtsort für Weltvermesser.

Krankheit als Geschäft

In dieser Optik scheint der jüngste Vorstoß Tim Cooks nur folgerichtig: Wenn man einst, so die Prophezeiung des Apple-CEO Anfang Januar, nach dem «grössten Beitrag Apples für die Menschheit» frage, werde es nur eine Antwort geben: «Die Gesundheit.» In der «Bereicherung des menschlichen Lebens» erkannte die Firma immer schon ihre Mission. Um diese zu erfüllen, spielt die neue Apple Watch, die jeden Schritt und Pulsschlag erfasst, die entscheidende Rolle – «this is a huge deal».

Das Silicon Valley hat die Krankheit als Marktpotenzial, unser Sein zum Tode als Innovationstreiber erkannt. So drängen die Konzerne zielstrebig in einen Markt, der allein in den Vereinigten Staaten ein Volumen jenseits der drei Billionen erreicht.

Amazon gründete unlängst eine Krankenversicherung, baut gerade Kliniken – probeweise – für die eigene Belegschaft und hat sich die Internetapotheke Pillpack einverleibt. Facebook verhandelte bis zum Datenskandal um Cambridge Analytica mit Krankenhäusern über anonymisierte Gesundheitsdaten, um sie mit denen seiner Nutzer abzugleichen. Und zuletzt entwickelte das soziale Netzwerk einen Algorithmus, der die Aussagen amerikanischer User auf die Gefahr eines Suizids scannt.

Der avancierteste Player im Rennen um unsere Gesundheit ist derzeit jedoch Alphabet. Das Mutterschiff von Google entwickelte zuletzt KI-basierte Software-Lösungen, um Krankheitsverläufe und gar den Todeszeitraum von Patienten in Spitälern genauer zu bestimmen. Mit dem Subunternehmen Verily, vormals bekannt als Google Life Sciences, forschte man bereits an einer Kontaktlinse, die mittels Tränenflüssigkeit die Glukosekonzentration misst.

Doch mit dem ehrgeizigen «Project Baseline» geht Alphabet noch aussichtsreichere Wege, wagt sich mit der «Landmark Study» immer tiefer in unkartiertes Feld: Bis zu 10 000 Probanden sollen, wissenschaftlich von der Duke und der Stanford University begleitet, ihre Gesundheits-, besser: Lebensdaten mit eigens von Verily entwickelten Wearables über vier Jahre lang messen.

Wie der biologische ist auch der Datenkörper immer «work in progress»: So werden nicht nur die Schlafqualität oder die körperliche Aktivität aufgezeichnet, sondern auch Langzeit-EKG durchgeführt, Genome sequenziert, Labor-Scans, Tests auf Herz und Nieren oder zur mentalen Verfassung unternommen. Krankheiten und ihre Entwicklung sollen – in einer Art Live-Ticker – genauer analysiert werden und damit immer besser vorhersagbar werden. Von den Bakterien im Darm bis zur Karies im Zahn, in alle Gebiete des Lebens und Sterbens erhält das Unternehmen nun Einsicht, vermisst sie transparent und setzt alles in einen grösseren, biopolitischen Zusammenhang. Der Begriff des gläsernen Patienten, den man in den Plänen einer elektronischen Gesundheitskarte wie in Deutschland heraufziehen sieht, mutet im Vergleich geradezu brav an. Denn wer bei «Baseline» mitmacht, stellt nicht nur seine alltäglichen Gewohnheiten, den Body-Mass-Index oder die Stimmung unter ständige Beobachtung. Er wird vielmehr, so versichert das Imagevideo des Projekts, zum Teil eines «Movements», einer «Community», die den «Kurs der Menschheit» zu verändern hilft: «Sharing is Caring» lautet das Motto – nun auch bei Google.

Kollektives Empowerment

Im grossen Gesundheitsdatenrausch hat sich also die Tonlage gewandelt. Es geht hier nicht mehr um die fast biedere Transparenz, aseptische Kurven oder gelangweilte Standardfragen. Es geht um kollektives Empowerment. Man könnte hier fast von einer Revolution sprechen, so emphatisch wird die «unglaublich tiefe und detaillierte» Vermessung der Welt in einer Sphäre aufgeladen, die sich sonst lediglich zum «quantified self» durchringt.

Dabei verzichtet diese Umwälzung auf Barrikaden und dreckige Hände, wirkt beinahe unpolitisch – weil sie den Einzelnen lustvoll bis sinnstiftend motiviert, ganz sanft das Leben punktiert: «We’ve mapped the world. Now let’s map human health.» Dass dieses kollektivistische «Wir» nicht ganz so reibungslos funktioniert wie verlautbart, dass hier tektonische Verschiebungen in ganz anderen Dimensionen vor sich gehen, lässt sich erahnen, wenn man Apps und Startups anschaut, die im Umfeld des Grossprojekts wie Pilze aus dem kalifornischen Boden schiessen. So haben Entrepreneure aus dem Valley erkannt, dass das Erfassen mentaler Dissonanzen über Fragebögen nicht ganz verlässlich ist, die Selbstbekenntnisse häufig von verzerrenden Meinungen und lästigen Empfindungen kontaminiert sind.

Man entwickelt daher mit Hochdruck Methoden, die das Innere der Blackbox «objektivieren», das heisst, die trübe Brühe der menschlichen Psyche über beobachtbares Verhalten zu decodieren versuchen. Als das beste aller behavioristischen Aufschreibesysteme bewährt sich hier zurzeit das Smartphone, ein multisensorisch-gläsernes Device, auf dessen Oberfläche sich – zumindest für die digitale Gesundheitsavantgarde – das Unbewusste zu spiegeln scheint.

Besonders das Startup Mindstrong Health des früheren Direktors des amerikanischen National Institute of Mental Health und nicht zufällig auch vormaligen Leiters der Abteilung für psychische Gesundheit bei Verily, Thomas Insel, eröffnet ganz neue Sichtachsen. Man analysiert das Tippverhalten des Smartphone-Users – wie er scrollt, klickt oder wischt –, um qua Mustererkennung Verhaltensprofile zu erstellen, die wie Kompassnadeln auf mentale Schwachpunkte verweisen.

Insel nennt das Verfahren «digital phenotyping», eine Form der Kartierung, die anhand von digitalen «Biomarkern» und ohne Inhalt oder Semantik des Getippten zu deuten, Depressionen zu diagnostizieren verspricht. Wer, vereinfacht gesagt, zu langsam tippt, der erscheint geknickt; wer sehr schnell auf sein Smartphone einhämmert, befindet sich womöglich in einer manischen Phase.

Jede äussere Regung, so die Annahme, reflektiert eine innere Bewegung. Denn nicht das Was oder Warum, sondern lediglich das Wie interessiert, nicht die inneren Konflikte, die Geschichte oder die soziale Konstellation werden mit Begriffen umstellt. Allein die mathematischen Korrelationen zählen, bedeuten nun mehr als jede Intention. Zweckhaftes Verhalten wird in der Folge ohne schwerverständliche Zwecke beschrieben, die Psychologie, wie es der Philosoph Hans Jonas einmal ausdrückte, ganz «ohne Psyche».

Datenbasierte Angst

Das, was bei Baseline oder Mindstrong schließlich anschaulich wird, ist das Zusammenschnurren des Subjekts auf die Summe seiner Datenpunkte. In der Netzwerkgesellschaft gibt es keinen Ort für das einzelne Individuum, denn es ist im Zuge der Auswertungen – das hochgejazzte «Wir» wirkt wie ein latenter Hinweis – kaum noch als solches sichtbar. Allenfalls kennzeichnet es einen Knotenpunkt, der sich lose im Spiel der Patterns bewegt; eine ephemere Hülle, die mehr als Profil denn als fühlendes Subjekt erscheint.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine weitere Verschiebung ab: Indem das Leben der Menschen immer detaillierter unter dem digitalen Schleier der Konzerne erfasst, ihr Verhalten immer präziser bestimmt werden kann, werden auch Krankheiten möglicherweise bald immer früher erkannt – wenn wir nichtsahnend auf dem Smartphone daddeln. Das Abwesende ist anwesend im Potenzial, und so hiesse es zeitnäher auf Gefahren zu reagieren, bei Risiken gegenzusteuern, das Verhalten früher zu verbessern, das heisst, es umzuprogrammieren, um damit das Leiden, aber auch die Kosten zu senken.

Zugleich träte man aber in das ein, was man eine datafizierte Präventionsgesellschaft nennen könnte: in eine Existenz, die via Smartphone und Wearable permanent einer Semiotik des Misstrauens unterworfen wird. Jede Faser des Körpers, jede Unstimmigkeit oder Unebenheit des Geistes würden stets nach Abweichungen von der Normal- oder Idealform abgetastet, gewogen oder gesichtet, so dass nichts dem bloßen Schicksal, nichts dem groben Verschleiß überlassen bliebe. Leben wäre – um es mit Michel Foucault zu sagen – tatsächlich ständige, datenbasierte Sorge um sich selbst. Doch kann man jemals gesund genug sein oder wirklich ausgesorgt haben?

Prävention über alles

In der Prävention liegt die produktivste und wohl auch lukrativste Antwort auf unser Sein zum Tode. Denn die Vorbeugung erkennt in der Sorglosigkeit die Nachlässigkeit, gibt eine Richtung vor, schafft Orientierung und legitimiert die Erhebung jedes noch so kleinen Datenpunktes. Geht man also normalerweise davon aus, dass die Prävention nichts hervorbringt, weil sie zu vermeiden hilft, wissen die Konzerne aus dem Valley, dass das Gegenteil wahr ist. Denn wer vernünftig vorbeugen will, hat nie genug Daten gesammelt, hat nie genug Wahrscheinlichkeiten berechnet.

So kartieren GAFA und Co. vermeintlich nur die sichtbaren Oberflächen und Lebenswege, schaffen dabei jedoch ein präventionsindustrielles Wissensregime, das die Pfade des Wohlergehens vermisst und damit vorzeichnet. Unverbesserlich erscheint nur, wer sich nicht danach richtet.
🔴 Anna-Verena Nosthoff ist Philosophin und politische Theoretikerin, Felix Maschewski ist Literatur- und Wirtschaftswissenschafter. Im Rahmen ihrer akademischen Forschung beschäftigen sie sich mit der Kultur der Digitalität.
Neue Zürcher Zeitung, 21.02.2019, Feuilleton, S. 37

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da habe ich jetzt mit flinkem fingerdruck auf die tasten meiner tastatur gehackt - und irgendwo in silicon valley weiß man aufgrund meines anschlagdrucks und der absenkgeschwindigkeit der tasten und der geschwindigkeit meiner eingabe und des spontaneitätsfaktors meiner 2-finger-tipperei, dass ich heute vielleicht gut drauf bin, und dass mir meine kalten fingerkuppen sorgen bereiten - von wegen der durchblutung der kapillaren in den äußeren endgliedern der extremitäten - oder so ...

für mich ist das ganze ein spiel mit der angst des menschen vor seinem tod - und eben die verleugnung dieser unumstößlichen heidegger-prämisse des "seins zum tode". und mit diesem existenziellen wissen und der lebensangst davor lässt sich eben knete generieren ...: 8 milliarden menschen haben nämlich angst vor ihrem tod - und ich schätze mal 4 milliarden bedienen jetzt im moment ihr smart- oder i-phone aktiv oder tragen es passiv mit gps-ortungsmöglichkeit bei sich ...

und wenn mir jetzt schon windige algorithmen jeden tag morgens im mail-briefkasten tipps geben, wogegen gerade ich mich vielleicht schützen sollte - vielleicht balde sogar schützen muss, weil meine krankenkasse mir das aufgibt - werden diese übergriffigen "angebote" immer weiter differenziert ...

und es werden von mir profile angelegt - und der druck auf meinen tastaturen werden meine persönliche digital-anamnese immer detaillierter vervollständigen ... - auch meine tippfehler - und die geschwindigkeit meiner korrekturen und umformulierungen werden meinen geist gläsern machen und durchleuchten und werden die wahrscheinlichkeit einer alzheimer-erkrankung messbar machen - und jeder in silicon valley und anderswo, der diese daten zu lesen versteht, wird wissen wie ich ticke - und welcher jungen frau ich alter bock mal wieder hinterhergeschaut habe ...

man kann uns dann vielleicht schon mal digital zusammenführen und uns gegen eine erkleckliche summe dann auch zu einem date im persönlichen miteinander animieren: das sind doch tolle aussichten: wenn "die neue" mit ihren daten bis in die intimsten kammern hinein mir offenbart und offeriert wird ... - welch eine erstrebenswerte überraschung ...

das leben als "sein zum tod", so wie es jetzt in den nachrufen auf karl lagerfeld von ihm selbst formuliert wurde: »es ist für mich ganz sim­pel: mein Le­ben fängt mit mir an, und hört mit mir auf.« und dann zi­tier­te er eine ge­dicht­zei­le von fried­rich rück­ert, die gus­tav mah­ler ver­tont hat: »ich bin der welt ab­han­den­ge­kom­men.«

diese von ihm bei allem glamour ansonsten aber "schlichte" lebensweisheit, wird mit all den apps, die da auf uns zu rollen einfach verkompliziert - und sehr egoistisch auf das "ich" fokussiert: was piekt da in mir, warum hab ich jetzt wovon eine blähung, warum spüre ich die, bevor sie sich entlädt, zunächst als feinen kleinen haarriss-pieks unter meinem rechten rippenbogen ... ??? - und sind das etwa die faszien ??? - ich muss mir unbedingt einen faszienball kaufen, da gibt es eine app für das faszientraining - und das wird dann ganz direkt auf mich zugeschnitten ausgeworfen - ist das nicht toll ???

und wer an der regierung ist - und ob europa vereinigt bleibt, ist oder wird - das ist mir doch so was von egal ...

nee - freunde: in meiner gestaltausbildung nach fritze perls lernte ich den für mich klugen aristoteles-merksatz:

"das ganze [hier also der mensch] ist mehr als die summe seiner teile" ... - 

also liebe silicon-valley-menschen-vermesser - ihr könnt kartieren und zahlen addieren und maße festlegen bis es qualmt - den menschen in seiner komplexität und diversität werdet ihr nicht endgültig "knacken" - das hat eben schon der olle aristoteles ganz ohne algorithmen durch sinnieren und beobachten herausgefunden ...
Ich bin nicht auf dieser Welt, um deinen Erwartungen zu entsprechen –
und du bist nicht auf dieser Welt, um meinen Erwartungen zu entsprechen.
ICH BIN ich und DU BIST du –
und wenn wir uns zufällig treffen und finden, dann ist das schön,
wenn nicht, dann ist auch das gut so...  
Fritz Perls 

Nicht Erna Kronshage war verrückt - sondern es war der Sog dieses damals allgemein von verirrten und verwirrten Menschen erdachten und gelebten wahnhaften Zeitgeistes, dem man sich nicht zu widersetzen vermochte - in ihm steckte das Un-normale und Krankhafte - bis hin zum Massenmord ...

Erna Kronshage

Vor 75 Jahren - am 20.Februar 1944 - ist meine Tante Erna Kronshage in der Nazi-'Euthanasie'-Tötungsanstalt "Tiegenhof" (heute: Dziekanka bei Gniezno - Polen) ermordet worden.

Ich hätte gern meine Tante persönlich kennengelernt, aber als ich geboren wurde - war sie bereits seit über drei Jahren tot… - sie ist nur knapp 21 Jahre alt geworden.
Und dieses viel zu frühe Ableben und das Schweigen in der Familie dazu hat meine Neugier geweckt, sodass ich mich vor über 30 Jahren auf die Suche nach verbliebenen Spuren gemacht habe ...


Erna Kronshage wird am 12. Dezember 1922 in der Landgemeinde Senne II (heute Bielefeld-Sennestadt) geboren als 11. und jüngstes Kind der Eheleute Adolf und Anna Kronshage.

Sie arbeitet nach der Schulzeit ab 1937 in der Landwirtschaft ihrer Eltern als angestellte "Haustochter". Als sie im Herbst 1942 plötzlich ihre Mitarbeit verweigerte, wurde sie am 20. Oktober 1942 nach einer amtsärztlichen Untersuchung polizeilich in die Provinzial-Heilanstalt Gütersloh eingewiesen, wo man eine Schizophrenie diagnostizierte, die dort durch Arbeitstherapie in Garten und Hauswirtschaft und eine Schocktherapie behandelt wurde.

Aufgrund dieser damals so bezeichneten „Erbkrankheit“ stellte der Direktor der Heilanstalt den Antrag auf „Unfruchtbarmachung“ gemäß dem neuen Rasse-Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, wogegen ihr Vater Adolf Kronshage als Erziehungsberechtigter vehement Einspruch erhob und auch die Diagnose insgesamt bezweifelte.

Das Erbgesundheitsobergericht in Hamm wies die Beschwerde des Vaters gegen den Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes Bielefeld auf „Unfruchtbarmachung“ endgültig zurück. Die Zwangssterilisation erfolgte am 4. August 1943 in einem Gütersloher Krankenhaus. Wiederholte Aufforderungen des Vaters zur Entlassung seiner Tochter aus der Provinzial-Heilanstalt wurden ignoriert.

Stattdessen ging im Laufe der Luftschutzevakuierungen der „Aktion Brandt“ zur Schaffung von Bettenkapazitäten für Lazarett- und Krankenhauszwecke in der Heilanstalt Gütersloh am 12. November 1943 ein Transport von 50 Frauen und 50 Männern in die damalige Gauheilanstalt Tiegenhof bei Gnesen im besetzten Polen, die eine der Tötungsanstalten im deutsch besetzten Polen wurde. Nach Angaben der jetzigen Klinikleitung wurden dort mindestens 3586 Menschen verschiedener Nationalitäten im Zuge der NS-Euthanasie getötet - Historiker schätzen die Gesamtopferzahl dort auf mindestens 5.000 Menschen ...

Dort verstarb Erna Kronshage nach 100 Tagen Aufenthalt am 20. Februar 1944 - vor 75 Jahren - an „Vollkommener Erschöpfung“, wie es die dort ausgestellte Sterbeurkunde ausweist. Das war die damals übliche Umschreibung des gezielten Mordes durch eine fettlose Ernährung mit einer leichten Barbiturat-Überdosierung nach dem Luminal-Schema, das von Hermann Paul Nitsche entwickelt und propagiert wurde.

Die Todesrate des Deportations-Transportes vom 12. November 1943 von Gütersloh nach Gnesen betrug 90 % bis zum Kriegsende.

Die sterblichen Überreste Erna Kronshages fanden am 5. März 1944 in der Familiengruft auf dem Friedhof in Senne II ihre letzte Ruhestätte.

In der Nähe des Geburtshauses von Erna Kronshage in Bielefeld-Sennestadt wurde am 6. Dezember 2012 ein „Stolperstein“ gelegt - in der Gedenkstätte für 1017 Opfer des Nationalsozialismus in der Provinzialheilanstalt Gütersloh wird auf einem Leucht-Namensband in der Kreuzkirche dort „Erna Kronshage“ namentlich genannt – und im Internet sind Gedenkblogs zu ihrem Schicksal eingerichtet.


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...wie aus heiterem Himmel

Soweit die nüchternen Wikipedia-Lexikon-Fakten dazu. Wenn wir nun einzelne Details näher betrachten, beginnt das Problem vielleicht mit dem Bombenabwurf - wie aus heiterem Himmel – eines englischen Fliegers am 2. Juni 1940 auf den Gutshof gegenüber, nur 100 Meter von den Kronshages entfernt – bei dem eine fast gleichaltrige Nachbarin tödlich verletzt wird:
  • Dieses plötzlich hereinbrechende Trauma des tatsächlichen Krieges in Ernas Alltag
  • ihr inneres Hin-und-Her-Gerissen-Sein zwischen den natürlichen Loslösungswünschen und Zukunftsträumen einer jungen Frau – bei gleichzeitig inniger Wertschätzung des Hotel „Mama“ als dort geborgenes Familien-Nesthäkchen... 
  • die intellektuelle Unterforderung – Erna war eine recht gute Schülerin mit einem Notenschnitt von 1,78 auf ihrem Abschlusszeugnis - bei einer gleichzeitigen permanenten körperlichen Überforderung in der Landwirtschaft
  • sowie die allmähliche einhergehende Vereinsamung in dieser ehemaligen Großfamilie als einzig Daheimgebliebene der einstmals 11-köpfigen Kinderschar – und wegen dem Krieg ohne Zugehörigkeit zu einer angemessenen altersgemäßen Freundesclique – allein mit den kränklichen Eltern, die bereits 43 und 46 Jahre älter sind als sie...

...aus diesen äußerlichen Ausgangs-Zutaten braut sich bis zum Herbst 1942 eine innere Krisensituation zusammen, die in eine Verweigerungshaltung mündet:

Erna steht morgens nicht pünktlich auf, kommt ihren Aufgaben nicht nach und zankt und streitet mit den Eltern – heute würde man wohl sagen: „Burn-out“, „Null-Bock-Phase“; sie ist „aufmüpfig“ und will eine Auszeit haben – und diese paar Ausraster und Auflehnungen sind ja auch völlig normal in dieser Altersphase...

Ernas Mutter musste jedoch damals diese "Bummelei" der Gemeindeschwester melden, kurz „Braune Schwester“ genannt wegen der braunen Tracht der NS-Schwesternschaft, die als „weibliche Elitetruppe der NSDAP“ vor Ort die jeweiligen Situationen mit ihren Kenntnissen in Erb- und Rassenpflege beurteilen sollen, um „Verhaltensabnormitäten“ weiterzumelden...

Und diese dienstbeflissene „Braune Schwester“ sieht in dem eigenmächtigen "Blaumachen" Ernas tatsächlich echte „Verhaltensabnormitäten“, denn der Hof hatte jetzt im Krieg der „Sicherung der Ernährung des deutschen Volkes“ zu dienen, und nur Ernas unverbrüchliche Mitarbeit als Angestellte dort mit der Berufsbezeichnung "Haustochter" rechtfertigten schließlich ihre Freistellung von anderen NS-Dienstverpflichtungen...

...wieder "fit" werden...

Erna Kronshage wird deshalb zu einer Amtsärztlichen Untersuchung zitiert - sie hatte ja keinen "Gelben Schein" oder eine sonstige offizielle "Arbeits- und Dienstunfähigkeitsbescheinigung", wie wir das heute bezeichnen. Und bei der Untersuchung durch den diensthabenden Arzt in der amtsärztlichen Sprechstunde bittet sie dann sogar selbst darum, in die Provinzialheilanstalt Gütersloh aufgenommen zu werden – weil sie von ihrer Schwester Frieda bereits dazu angestachelt worden war, die dort 3 Jahre zuvor nach einem "Erregungszustand" in nur 4 Wochen erfolgreich wiederhergestellt wurde, ohne irgendwelche erbgesundheitlichen Konsequenzen.

Erna erwartet sich eine ebensolche Hilfe, um die Eltern nicht weiter zu enttäuschen und wieder „fit“ zu werden...

Und dieser zunächst verwirrend und naiv anmutende Aufnahmewunsch Ernas in diese von ihr wahrscheinlich wörtlich so verstandene „Heil-Anstalt“ ist den guten Erfahrungen der Schwester Frieda dort geschuldet - und im Sinne der „Selbsterhaltung“ ja sogar als „vernünftig“ und „gesund“ zu bewerten: Erna wirkt aktiv mit und übernimmt Verantwortung für sich und ihre Arbeitskraft...

Erna Kronshage will jetzt unbedingt „Nägel mit Köpfen“ machen und auch ohne Zustimmung ihrer Eltern dort in Gütersloh eine Behandlung durchsetzen – was ihr auch gelingt, indem sie die Einweisungspapiere dem Vater abschwatzt, der ja immer noch das Sorgerecht innehat und die Einweisung verhindern will, weil Ernas Arbeitskraft ja auf dem Hof dringend benötigt wird... Erna aber übergibt die Einweisungspapiere einfach einem Polizisten in einem zufällig in der Nähe parkenden Streifenwagen - worauf nun das ganze Prozedere seinen Lauf nimmt ...

Denn durch die dann ebenfalls hinzugerufene Gemeindeschwester, besagte „Braune Schwester“ also, wird einvernehmlich jetzt dafür gesorgt, dass sie, gegen den Willen der Eltern, trotz ihrer Minderjährigkeit nun als „gemeingefährliche Kranke“ - zum Schutz vor sich selbst und anderen - der Anstalt polizeilich zugeführt wird.

An diesem 24. Oktober 1942 beginnt das 484-Tage-Martyrium
 - unaufhaltsam - Schlag auf Schlag...
  
In Gütersloh angekommen wird vollkommen überraschend „Schizophrenie“ diagnostiziert, auch aufgrund der Bummeleien und der ungeübt und flapsig wirkenden Abwehrhaltung im Aufnahmegespräch, denn Erna dachte ja mehr an eine kurzfristige fast ambulante Wiederherstellung ihrer Persönlichkeit und Arbeitskraft – nun aber erscheint auch der ominöse 4-wöchige Aufenthalt der Schwester Frieda 1939 in der Heilanstalt den Aufnahmeärzten in einem ganz neuen Licht: plötzlich deutet man nämlich die "vorliegende Störung" Ernas als ein "endogenes"/inneres erblich weitergereichtes Geschehen in der Familie – dagegen werden alle durchaus ja reichlich vorhandenen "exogenen"/äußeren und reaktiven Auslöse-Mechanismen für Ernas Verhaltensstörungen einfach ignoriert...

Neben der angeordneten Arbeitstherapie dort in der Kolonne setzen ihr vor allen Dingen die medikamentös ausgelösten Krampfanfälle der „Cardiazol-Schockbehandlung“ zu - eine Vorläufer-Therapie der Elektro-Schocks, die zur "Ruhigstellung" und zum "Spannungsabbau" bei inneren Erregungszuständen angezeigt schien. Damals gab es ja noch keine Psychopharmaka und man versuchte "wissenschaftlich" über künstlich ausgelöste physikalisch-reflexhafte "Muskel- und Nervenentladungen" die Störung zu behandeln - natürlich auch zur Ruhigstellung und Disziplinierung...

Denn diese nie erlebten epileptischen Anfallschock-Torturen werden von Betroffenen als erschreckende Horrorerlebnisse geschildert... mit all den Nachwirkungen und Weltuntergangsgefühlen, jeweils bis zum vollständigen Kontrollverlust, durch die wie nach einer „Gehirnwäsche“ sich allmählich Gefühlsverwirrungen und nie gekannte Missempfindungen einstellen...

Am Tag 110 des 484-Tage-Martyriums -

Antrag auf "Unfruchtbarmachung" durch 
Dr. Hartwich, Heilanstalt Gütersloh
11.02.1943
am 11. Februar 1943 stellt der Direktor der Provinzialheilanstalt Gütersloh, Dr. Hartwich, den Antrag auf „Unfruchtbarmachung“, da „Schizophrenie“ im Sinne des NS-Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ als Erbkrankheit gilt.

Dazu heißt eine Passage im Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes Bielefeld:

„Anlässlich der persönlichen Vorstellung in der mündlichen Verhandlung machte sie (Erna Kronshage) einen gespannten Eindruck und lachte unmotiviert auf. Sie äußerte, ihr Lachen sei Weinen“...:

Mit dieser Notiz glaubte das Gericht die diagnostizierte „Schizophrenie“ mit begründen zu müssen. Man muss sich diese Szene jedoch ganz plastisch vor Augen führen: Da verhandeln drei honorige Herren, ein Amtsgerichtsrat und zwei Medizinal- und Oberärzte als mobiles „Erbgesundheitsgericht“ am 29.03.1943 im 20-minütigen Fließband-Takt über die „Unfruchtbarmachung“ von insgesamt 11 Patienten in der „Heil“anstalt Gütersloh – Zitat: „die Kranken sind seitens der Anstaltsleitung dem Gericht zum Termin vorzuführen“...

Und Erna Kronshage ist als dritter „Fall“ von 08.40 bis 09.00 Uhr anberaumt…  - Bei dieser ungleichen „Vorführung“ ohne jeden persönlichen Beistand soll nun über diese „einschneidende“, das ganze Leben verändernde endgültige Sterilisations-Maßnahme entschieden werden...

Und weil Ernas verstörte und verzweifelt unsichere Reaktion auf diese makabere Szene ein „unmotiviertes Auflachen“ ist und von ihr auf Befragen kommentiert wird mit: „Mein Lachen ist Weinen“ … wird diese an sich ja tiefgründige Antwort mit als Indiz für ihre Schizophrenie gewertet...

Aber die 20-jährige Erna lacht ja, um nicht Losheulen zu müssen, weil sie sich ihrer Tränen vor diesen herumschwadronierenden Männern schämen würde – denen sie da in dieser heiklen und existenziell intimen Frage ausgeliefert ist...

Am Tag 284 des 484-Tage-Martyriums – 


am 4. August 1943 wird sie nach Beschluss in zweiter Instanz des Erbgesundheitsobergerichtes Hamm – im Krankenhaus Gütersloh zwangssterilisiert – trotz aller Widersprüche und Eingaben des einsam kämpfenden Vaters.

Der hatte ja zwischenzeitlich auch wiederholt gefordert, Erna aus der Anstalt nach Hause zu entlassen, und nach dieser Zwangssterilisation hätte das auch formal erfolgen können: Doch inzwischen gab es Anweisungen dazu aus dem Reichsinnenministerium - Zitat: „Polizeilich eingewiesene“ Insassen seien nun nicht mehr nach Hause zu entlassen, weil diese „geistig anbrüchigen Personen in Luftschutzräumen … sehr leicht zu Unzuträglichkeiten führen können…“. Deshalb sei die „Entlassung zu verweigern“...

Damit sitzt Erna Kronshage unentrinnbar in der Falle ...

Tod nach 100 Tagen in der Anstalt "Tiegenhof"

Am 12. November 1943 - startet dann mit Erna Kronshage der Deportationszug mit 50 Frauen und 50 Männern, die im Laufe der Luftschutzevakuierungen der „Aktion Brandt“ in Gütersloh überzählig sind und Platz machen müssen.

Es geht in die 630 km entfernte damalige Gauheilanstalt Tiegenhof bei Gnesen im besetzten Polen - die seit 1939 eine Tötungsanstalt ist – zunächst für polnische Patienten und dann reihum für Deportationsankömmlinge aus dem Reichsgebiet.

Hier kommt Erna Kronshage nach 100 Tagen Aufenthalt infolge der allmählichen gesteigerten Verabreichung eines extra von Prof. Dr. Hermann Paul Nitsche entwickelten "Cocktails" aus schleichend erhöhten Barbituratdosierungen - einhergehend mit einer fettlosen Kost - am 20.02.1944 gewaltsam ums Leben ...

Nachdem die Leiche auf Antrag der Eltern rücküberführt wurde, wird laienhaft eine heimliche familieninterne Leichenschau durchgeführt, bei der misstrauisch nach Anhaltspunkten für einen gezielten Krankenmord Ernas Ausschau gehalten wird. Doch diese perfiden gezielten Tötungen durch Barbiturate mit fettloser Kost bzw. der dadurch ausgelöste allmähliche Zusammenbruch des körpereigenen Abwehrsystems hinterlassen keine erkennbaren Spuren...

Der beerdigende Pfarrer hat im Kirchenbuch nicht die offizielle Todesursache aus der Sterbeurkunde übernommen, sondern ausdrücklich notiert: „Todesursache unbekannt.“...

Erna Kronshage wird dann im Familiengrab am 5. März 1944 beigesetzt.

  • Diese äußerst fragliche und tatsächlich kaum abgesicherte Diagnosestellung der damals so bezeichneten "Erbkrankheit Schizophrenie" - 
  • und die Zwangssterilisation gegen den Willen des immer noch sorgeberechtigten Vaters, der den Aufenthaltsort seiner Tochter bestimmen konnte -
  • sowie das unbegründete Festhalten in der Anstalt in dem Vierteljahr nach der Zwangssterilisation bis zur Deportation: 
dieses Konglomerat aus zerknüllt chaotischen Kriegswirren - einhergehend mit diesem rassistischen Erbkrankheits-Wahn der Nazi-Psychiatrie, an dessen Ende der minutiös geplante und mit vielen aktiven und passiven Helfern und Helfershelfern industriemäßig durchorganisierte "Gnadentod" zur "Gesunderhaltung des Volkskörpers" stand, hat den gewaltsamen Tod Erna Kronshages bewusst und überlegt herbeigeführt als unaufhaltsam ablaufende Ereigniskette - sicherlich im jeweiligen Einzelfall einhergehend mit einer Reihe von persönlichen und individuellen Verstrickungen und Verwicklungen und Missverständnissen ...


 🔵 und dann wir mir auch klar: Nicht Erna Kronshage war verrückt - sondern es war der Sog dieses damals allgemein von verirrten und verwirrten Menschen erdachten und gelebten wahnhaften Zeitgeistes, dem man sich nicht zu widersetzen vermochte - in ihm steckte das Un-normale und Krankhafte - bis hin zum Massenmord ... 

Auf dieser immer schräger werdenden Ebene gab es dann letztendlich keinen Halt mehr.


...Und auch hier muss man dazu in dieser Zeit, 75 bis 90 Jahre später,  Bertolt Brecht zitieren, aus seinem Epilog zu "Arturo Ui":


"Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert
und handelt, statt zu reden noch und noch.

So was hätt' einmal fast die Welt regiert!

Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
dass keiner uns zu früh da triumphiert –

der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."



Erna Kronshage ist ein Mordopfer von insgesamt ca. 300.000 "Euthanasie"-Toten.

→ Dieser Artikel ist der neue Abschnitt 26: ABSTRACT/Zusammenfassung - im Studien- und Memorialblog: "MEIN LACHEN IST WEINEN" - click here
für weitere informationen:


Erna Kronshage - zum Tag ihrer Euthanasie-Ermordung vor 75 Jahren: CLICK TO VIDEO|FEATURE "TIEGENHOF"




Flyer zum polnischen Video "Tiegenhof" - übersetzt mit Google-Translator
CLICK TO VIDEO|FEATURE "TIEGENHOF"
und dann [Vollformat] schauen ...

Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube

Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube - S!|art

kunstschaffen von frauen ... - update

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stimmt schon - "alte meisterinnen" fristeten jahrzehntelang in kunstausstellungen und auf auktionen eher ein mauerblümchen-dasein.

und doch muss man sich hüten - vor einer "gefühlten" ignorierung und vielen tatsächlichen dominierungen - denn - einige künstlerinnen haben es auch geschafft und sich längst einen berühmten namen gemacht:

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es fällt mir nach genauerem nachdenken dann meistens schwer,  solche - sicherlich leider immer noch notwendigen und gutgemeinten artikel zu verlinken und zu kommentieren ... 

gendermäßige inklusion und partizipation und emanzipation - oder ganz schlicht auf neudeutsch: gleichberechtigung - sind eigentlich so selbstverständlich, dass man nicht andauernd nochmal besonders so etwas zu erwähnen hat oder herausstellen muss - ansonsten würde ja die kunst von frauen, die oftmals eine qualitativ weitaus bessere und höherwertige ausbildung aufweisen als ihre männliche kollegen, ähnlich behandelt wie etwa die outsider-kunst von art brut, von nichtakademisch und oft autodidaktisch aktiv tätigen künstlerinnen und künstlern - und eine kleine macke hat ja sowieso jeder mensch, der kreativ arbeitet und anderen seine erzeugnisse zeigen will ... 

inzwischen ist dieser früh anerkannte zweig der autodidaktisch kunstschaffenden auf dem weg, ganz "normal" ausgestellt und verhökert zu werden - leider manchmal immer noch zu "sonderpreisen" - und wenn man als otto-normalverbraucher schon mal 500 uro für ein wandbild ausgeben würde, zahlt man für oft ausgefallenere werke auf einer outsider art fair-messe vielleicht vergleichsweise nur 150 uro ...

aber dieses preisliche "gefälle" ist ja längst zwischen frauen-kunst und männer-kunst doch ziemlich eingeebnet - und gleichwertig ... - oftmals weiß man bei meiner auktion oder in der galerie bei oft unleserlichen oder gar keinen signaturen und "ohne titel"-werken ja gar nicht, wen oder was man da vor sich hat ...

ich mag deshalb auch nicht die geschlechtsspezifischen auktionen besonders auch im rundum wallenden #me-too-getöse ... - wo dann schließlich frauen die kunst von frauen kaufen (dürfen) - oft aus "mitleid" ("da will ich gertrud jetzt aber auch mal ne freude machen - die hat an ihrer koje so wenig zuspruch ...")- na und ... ???: da kann man hübsch unter sich bleiben - und da hätte man auch früher schon drauf kommen können. und trennt der riss durch die gesellschaft denn männer auf der einen seite und frauen auf der anderen - dann ist da mit der emanzipation und der "gleichstellung" irgendetwas falsch gelaufen ...

auch allen "quoten-regelungen" in dieser richtung stehe ich skeptisch gegenüber - der jeweils geeigneteste "mensch", der/die/das sich in einem bewerbungsverfahren vor mehreren juror*innen qualifiziert hat, sollte jeweils aufgestellt werden oder den posten übernehmen - und das wird dann irgendwie entweder auf einen mann oder einer frau oder so ähnlich zulaufen ...

ich mag auch nicht andauernd z.b. von donald trump sprechen oder schreiben oder hier etwas veröffentlichen - oder gar von der afd und von pegida - auch nicht das vermeintlich negative oder gar der angriff und vorwurf aus deren richtungen, denn das wertet doch nur unnötig auf: »frames zu negieren bedeutet, sie zu aktivieren.«, meint die sprachforscherin elisabeth wehling. anders gesagt: wer die formulierung einer "anmache" auch nur wiederholt, verstärkt die "anmache" unnötig. wenn man also jeden furz von trump|afd|pegida|populisten von dort unten vermeldet und darauf reagiert und an die große glocke hängt, stärkt man ja die absicht ihrer pr-rezepte - weil das durch die stellungnahmen hinüber und hernüber die clicks und die auflage "aus beiden richtungen" erhöhen - und damit die deutungshoheit bestimmt und die "öffentliche meinung" zurechtknetet wird ...

das alles sollte endlich seine "besonderheiten" und "herausstellungen" verlieren - und nichterwähnung trocknet vielleicht den sumpf allmählich aus ... - und auch all diese "titel" leben von den "cklicks" und den "likes", die wir ihnen geben - und werden so überbewertet ...

hier heißt das: jede "rechtfertigung" weiblicher kunst - und jede besonderheitsbildung weiblichen kunstschaffens stärkt nur die trennung und den riss zum männlich dominierten kunstbetrieb.


im epilog des arturo ui lehrt uns bertolt brecht: 
"ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert
und handelt, statt zu reden noch und noch.
so was hätt' einmal fast die welt regiert!
die Völker wurden seiner herr, jedoch
dass keiner uns zu früh da triumphiert –
der schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."

parkland schulmassaker - szenen aus der notfallambulanz kurz danach


"Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich einen Teenager sterben sah"

Szenen aus der Notfallambulanz verfolgen die Helfer oft ihr Leben lang ...

Von Eric Curran in der "New York Times" 
Mr. Curran ist Medizinstudent im dritten Jahr.

So sieht der Aufnahmebereich der Notfallambulanz aus, wenn die Wiederbelebung eines Schussopfers im Temple University Hospital gescheitert ist. Foto: Eric Curran | NYT






New York Times | PHILADELPHIA - Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich einen Teenager sterben sah. Er wurde mit drei Einschusswunden in der Brust auf der Rückbank eines Polizeiwagens liegend in das Temple University Hospital gebracht. Er trug blaue Jeans, die völlig rotverfärbt durchblutet waren.

Die Schwestern schnitten die Jeans einfach ab und warfen sie zum Ende der Liege. Die Bluejeans, die nun nicht mehr blau waren sondern durchblutet, baumelten eine Zeitlang und fielen schließlich in die Blutlache, die sich auf dem Boden darunter gesammelt hatte. Nachdem nichts mehr getan werden konnte, um den jungen Mann zu retten, wurde die Liege, auf der sein dünner Körper lag, weggerollt und ließ Blutstreifen auf dem Boden zurück, die von den Rädern der Liege stammten, die in der Blutlache gestanden hatten.

Als Medizinstudent im ersten Jahr verfolgt mich dieses Bild und ich denke, das wird wohl für immer so bleiben ...

Immer wieder wurden damals junge Menschen aus Parkland gebracht, direkt im Rettungswagen oder eben auch auf den Rückbänken von Polizeiautos. Die Krankenschwestern und die Ärzte in der Notaufnahme heben sie dann auf die Trage oder Liege. Wenn sie wach sind, fragen sie das Personal vielleicht, ob sie nun sterben müssten, was vom Arzt natürlich verneint wird ...

Einmal eingeliefert dann im Notfallbereich, sucht das Nothelfer-Team nach Einschüssen in den Körpern. Und der Medizinstudent klebt an jede Schusswunde kleine Pics ähnlich den Büroklammern, so dass die dann zur Ortung auf dem Röntgenbild sichtbar sind.

Wenn das Herz aufhört zu schlagen, öffnen die Ärzte oft das Brustbein mit medizinischem Hämmerchen und einem meißelartigen Gerät für eine "offene Herzmassage" zur Wiederbelebung...
Einschub sinedi: Eine solche präklinische Notfallthorakotomie dient der Reanimation bei Patienten mit traumatischem Herz-Kreislauf-Stillstand. Dieser Notfall-Eingriff ist in Deutschland weniger bekannt, wird aber jeweils in Extremsituationen schon seit 1902 durchgeführt - vor allem in den USA und in England. Die Notfallthorakotomie sollte nur als "letzte Möglichkeit" bei Herzstillstand durchgeführt werden, und wenn der Patient nicht innerhalb von 10 Minuten nach Eintreten des Herz-Kreislauf-Stillstandes klinisch operativ versorgt werden kann, was ja in diesem geschilderten Fall wegen der unvorhersehbaren "Überfüllung" der Op-Räume gegeben war...
Zwei behandschuhte Hände halten dann das freigelegte offene Herz und beginnen mit den fachgerechten rhythmischen Kompressionen. Weitere Krankenschwestern und Ärzte helfen dann, Medikamente zu injizieren - und die Defibrillationskontakte ("paddles") für die Stromstöße zur Wiederbelebung werden direkt auf das Organ gesetzt, um durch Stromstöße das Leben wieder in Gang zu setzen. Wenn dann Gott oder das Glück oder die Physiologie es wollen und erlauben, fängt das Herz wieder an zu pulsieren. Und dann drehen sich die Räder der Krankenliege erneut in Richtung Operationssaal und hinterlassen auch jetzt wieder diese schrecklichen blutigen Streifen auf dem Boden, mit blutigen Schuhabdrücken ringsum.


Wenn das Herz eines traumatisierten Patienten stillsteht, werden die Defibrillationspaddles direkt auf das Organ gesetzt, um das Leben wieder in Gang zu setzen. Manchmal kehrt ein Herzschlag zurück. Oft aber auch nicht - Foto: Eric Curran|NYT




Nach dem Kampf, ein menschliches Leben zu retten, bleibt ein stiller, besprühter Raum. Gaze, Schläuche, Hemden, Handschuhe, Hosen, Bänder und Turnschuhe liegen verstreut. Krankenhausarbeiter kommen dann und waschen das Blut ab. Sie bringen Wischer, Handtücher, Bürsten und Mülleimer mit und arbeiten mit Herz und Hand. Denn die Notaufnahme muss schnell gereinigt werden, da bald wieder ein anderes junges Opfer eingeliefert werden könnte.

Ich fing an, diesen Raum zu fotografieren - aus der Hilflosigkeit und aus Verzweiflung, die ich angesichts dieser sinnlosen Todesfälle fühlte. Ich will, dass die Gewalt aufhört. Ich habe gefragte, ob ich eine Kamera benutzen dürfte - nicht um die Toten und Sterbenden zu fotografieren, denn sie verdienen Privatsphäre, Pietät und Respekt. Aber ich fragte mich, ob das Erfassen der Momente, in denen Leben gerettet und verloren wird, den Menschen helfen könnten, zu verstehen, was da immer mal wieder tatsächlich passiert - und angerichtet wird ...

Ich schlüpfe in Plastiküberzüge für meine Schuhe - und manchmal höre ich Schreckens- und Verzweiflungsschreie, wenn nämlich die Angehörigen die Nachricht erhalten, dass ihr Sohn oder ihre Tochter, ihr Bruder, ihre Schwester, ihr Ehepartner oder Partner erschossen worden sind - einfach so ...

Das Temple University Hospital hatte im vergangenen Jahr 481 Patienten mit Schussverletzungen behandelt, wovon 97 starben. In diesem einen Krankenhaus - in dieser Wohngegend - in dieser einen Stadt.

In den USA haben 2017 fast 40.000 Menschen ihr Leben durch Schusswaffen verloren. Dieser Bericht soll dir zeigen, was da drinnen in der Notaufnahme passiert. Er soll zum Umdenken anregen. Denn gerade hier in Amerika sollten Bluejeans einfach nur blau bleiben ...

Quelle: New York Times-online - Donnerstag 14.Februar 2019 - übersetzt mit Google-Translator und textlich bearbeitet von sinedi ...
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Das war das Schulmassaker von Parkland

Beim Schulmassaker von Parkland erschoss am 14. Februar 2018 der 19-jährige Nikolas Cruz an seiner ehemaligen Schule, der Marjory Stoneman Douglas Highschool (MSD) in Parkland (Florida), 14 Schüler und drei Erwachsene. Kurz danach wurde er festgenommen; am nächsten Tag gestand er die Tat. 15 Verletzte kamen in Krankenhäuser.

Eine Woche später wurde bekannt, dass zum Tatzeitpunkt ein bewaffneter, uniformierter Hilfssheriff auf dem Schulgelände patrouillierte. Er ging aber nicht ins Gebäude, als die zahlreichen Schüsse fielen.Etwa zeitgleich plädierte der amtierende US-Präsident Trump dafür, Lehrer zu bewaffnen, und die US-Waffenlobby-Organisation National Rifle Association („Nationale Schützenvereinigung“) dafür, mehr bewaffnete Wachen in Schulen einzusetzen. Polizisten aus der Nachbarstadt Coral Springs äußerten, bei ihrer Ankunft seien neben Peterson mindestens drei weitere bewaffnete Hilfssheriffs nicht im Gebäude gewesen.

Gemessen an der Zahl der Todesopfer war die Tat nach dem Amoklauf in Las Vegas im Oktober 2017 mit 58 und dem Amoklauf in Sutherland Springs im November 2017 mit 26 Todesopfern die drittschwerste Tat in dieser Zeitspanne.

Die Tat hatte zahlreiche Proteste gegen die Waffengesetze in den USA zur Folge. (WIKIPEDIA)
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ich habe mir das lange überlegt, ob ich zum jahrestag der tödlichen schulmassaker-schüsse von parkland hier diese blutigverstörenden bilder und diesen text vom medizinstudenten eric curran, den ich in der "new york times" fand, hier in meinem blog bringen kann, darf, soll, oder gar muss ...

der bericht hat mich echt berührt und zeigt quasi von innen, was nach solchem massaker da in den notfallstationen in den kliniken in exakten sekundenbruchteilgenauen hand-in-hand-ablaufplänen abgeht - und wie oftmals mit solchen akuten "letzten" notfallentscheidungen mit gott um jedes leben im wahrsten Sinne des wortes gerungen und gekämpft wird ...  

bei so einer hier von mr. curran beschriebenen "präklinische notfallthorakotomie", die bei solchen massakeropfern und schussverletzten dort wohl schon fast "routinemäßig" auf die schnelle durchgeführt werden - also einer herbeigeführten offenen herzmassage als "letzten versuch", das leben bei einem herzstillstand nach einem solchen trauma mit verletzung und schock doch noch zu erhalten - sprechen englische quellen von einer erfolgsrate von immerhin 18% - fast ohne bleibende schäden - was man als "sehr gut" unter diesen umständen beschreiben muss ... - die alternative wäre ja der unweigerliche eintritt des todes.

und dieses massaker da in parkland geschah ja ohne ersichtlichen oder nachvollziehbaren grund - einfach so - vielleicht aus langeweile oder unter drogeneinfluss oder einem unbotmäßig aufgebauten hass auf alles und jeden um einen herum...

gern machen wir ja alle vor solchen bildern von solchen massakern die augen geflissentlich zu und lassen "den lieben gott einen guten mann sein" - schauen rasch in eine andere richtung und verdrängen das grausame oder auch schon das unangenehme geschehen zumeist ...

hätte dir nach einem jahr der name "parkland" noch etwas gesagt ... ???

aber - wir dürfen nicht vor allem die augen verschließen - wir müssen hinschauen und wahrnehmen - ganz genau sogar - und wir müssen uns körperlich-seelisch berühren lassen... und nur etwas konkret anschauliches kann uns noch - wenn überhaupt - in dieser virtuellen digitalen zeit echt beeindrucken und uns so wachrütteln, dass wir anteil nehmen...
  
und bei all diesem sterben und diesem leid dürfen wir ja - positiv - auch diese tatsächlichen helden mit wahrnehmen, die da in den unfall- und polizeiwagen und in den notfallambulanzen oft zu zeiten, wo andere längst feierabend haben, ihren job machen - und z.b. diese "defibrillationspaddles" ans leblose herz zur wiederbelebung anlegen müssen, und die blutigen jeanshosenbeine abschneiden und die dann das blut wischen und den raum wieder säubern - oftmals für das nächste opfer - kurz danach ...