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kantig oder windschnittig

und nochmal: PETER HANDKE - vielleicht zuguterletzt (???)

Glaubt ihr ernsthaft, ihr wärt die besseren Menschen?
Die Schriftstellerin Anne Weber über die Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke und seine selbstgerechten Kritiker. Über verkleidete Erwachsene, eine Lektüre an der Schnellstraße und akute Anfälle der Rührung.

Von Anne Weber in der WELT


  • Anne Weber ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Zuletzt ist ihr Roman „Kirio“ bei S. Fischer erschienen, mit dem sie 2017 für den Leipziger Buchpreis nominiert war.

Es fängt an mit einer Hymne, und wegen des Wortes „anthem“ im englischsprachigen Live-Kommentar muss ich gleich an Leonard Cohen denken und an den Riss, der durch alles geht und durch welchen das Licht hineinfindet — in alles. In uns. Die eine oder andere Rede von Nobelpreisträgern hatte ich in der Vergangenheit live mitverfolgt, aber noch nie hatte ich mir die einige Tage später stattfindende Preisverleihung angesehen. War das nicht eine eher langweilige Angelegenheit mit endlosen Reden, zum Intermezzo sich eignenden Musikstücken und vielen ehrwürdig ergrauten Häuptern?

In der Tat. Ich bleibe trotzdem gebannt davor sitzen. Die Musik und das ganze Ambiente sind so gebieterisch, dass ich beim Eintritt der Royal Family fast von meinem Schreibtisch aufgestanden wäre. Erst kommen zwei Prinzessinnen zum Vorschein, türkisblau und pink, die mit ihren breiten Schärpen um den Leib wie verschiedene Jahrgänge von Miss Sweden wirken, in Begleitung eines Prinzen. Dann eine stark geliftete Königin mit ihrem königlichen Mann mitsamt Kronprinzessin und einem zweiten Prinzen.

Ein kleines Mozart-Einsprengsel — und jetzt ist es so weit, die Preisträger schlängeln sich aus den Kulissen, ein kleiner Zug von Leuten, die aussehen, als hätte man sie gerade aus ihrem Labor in Boston, aus ihrer Bürohöhle in Harvard oder aus dem finsteren (nein: lichten!) Wald gezerrt und verkleidet und zurechtgebürstet, um sie dem Königspaar vorzuführen.

Die einzigen, die nicht kostümiert wirken, sind diejenigen, die in einer traditionellen Landestracht erscheinen. Alle aber sind mit einem richtigen Gesicht ausgestattet, jedes einzelne von ihnen möchte man länger betrachten — einer, ich glaube, ein Wirtschaftswissenschaftler, ist so intelligent, dass er wie ein rechter Simpel ausschaut —, aber die Kamera wird ihrer sehr schnell überdrüssig und wischt weiter zum Publikum, an den Frauen wischt sie gerne von oben nach unten entlang, um eine Weile auf dem glitzernden Dekolleté und den sorgfältig manikürten Händen, die das Programmheft halten, verharren zu können.

Für mich ist das feierliche Hereintreten dieser etwas ungläubig blickenden Gestalten der Moment, wo ich derart stark zwischen Lachen und Rührung schwanke, dass der Riss in mir sich gefährlich vergrößert und ich schon ganz geblendet bin von dem vielen Licht, das da einfallen will in mich; außerdem ertaube ich offenbar, jedenfalls bekomme ich von den vielen Reden, die noch folgen, nicht mehr viel mit. Ist es nicht absurd, sich bei einer solchen offiziellen Begebenheit von Emotionen übermannen zu lassen, und das auch noch bei einem derartigen Männerüberschuss auf der Bühne? Gut, ich merke, dass Olga Tokarczuk ebenfalls nass glänzende Augen hat, aber sie hat wenigstens gute Gründe dafür.

Bei mir ist es diese Spannung zwischen dem fou rire, der ausbrechen will — denn es ist schon urkomisch, wenn erwachsene Leute mit der größten Ernsthaftigkeit König und Königin, Prinz und Prinzessin spielen und mit „Ihre Majestät“ angeredet werden wollen und sich zu diesem Zweck eigens Gewänder aus den wertvollsten Stoffen schneidern lassen, und alle spielen mit —, zwischen dem Lachen also, das ausbrechen will, und den Tränen, die ebenfalls einen Ausweg suchen.

Ich sehe eine erwachsene, fein lächelnde Olga Tokarczuk vorangehen, und hinter ihr sehe ich einen Kärntner Buben über eine Streuobstwiese laufen, auf seine Mutter zu, mit den „an der Kochwäsche verbrühten, dann an der Wäscheleine rotgefrorenen Händen“, ich sehe den Vater des Buben, den deutschen Sparkassenangestellten Herrn Schönemann, und den versoffenen Stiefvater, ich sehe den „Leuchtkreis der Lampe auf dem Tisch“ und ich sehe mich, wie ich — wann war das bloß? — an einer Schnellstraße stehe, ein offenes Buch in der Hand, und darin lese von einem „Wunsch, der erwacht angesichts jenes einen Tautropfens in der Sonne, der, im Unterschied zu der Myriade der glasklaren durchsichtigen weißblitzenden, aus dem Tautropfenfeld herausstach als eine Bronzekugel, nicht blinkend und blitzend, sondern leuchtend, schimmernd, strahlend; kein bloßes Glitzerpünktchen, sondern eine Sphäre, eine Wölbung, einen auffordernd zum Entdecken; keines unbekannten Planeten, sondern des altbekannten, der Erde hier, einen herausfordernd zu einem immerwährenden täglichen Entdecken, das zu nichts führte, zu keiner Auswertbarkeit, es sei denn zu einem Offenhalten — Entdecken als ein Offenhalten?“.

Ich stehe an der Schnellstraße und lese und lese und die von links und rechts kommenden Autos fauchen kurz auf, wenn sie an mir vorbeirasen, und legen ihren Fauchrhythmus unter den Rhythmus der Buchsätze, und jetzt erscheint da wieder der Junge vor mir auf dem Bildschirm, er bewegt sich vorwärts, aber das Schreiten will ihm nicht gelingen, eher schlurft er ein bisschen und schaut grimmig und stumm über den dicken Tränenbeuteln hervor, er sieht müde aus, das Haar ist schütter geworden, und ich denke, wisst ihr was, ihr da draußen, die ihr unterscheiden wollt zwischen Mensch und Werk oder die ihr das Werk beiseite nehmt und auch ohne seinen Autor zum Kotzen findet, ihr, die ihr Leser sein wollt und mit nichts als Herablassung oder gar Hass auf diesen Dichtermenschen blickt, der so viele zum Lesen und zu neuem Atmen gebracht hat, der viel umhergeirrt ist und sich mit Lust ver- und geirrt hat, der, bei allem Düsteren, das in der Welt und in ihm selbst zu Hause ist, immer eine Bewegung zum Helleren hin suchte; ihr also, die ihr euch empört und Bescheid wisst und von früh bis spät auf der richtigen Seite seid und anklagt, nur euch selber nie — glaubt ihr ernsthaft, ihr wärt die besseren Menschen? Ich fürchte, ja.


Inzwischen ist die Zeremonie fortgeschritten, ein würdiger, schöner Greis ist im Rollstuhl an den König herangeschoben worden und hat den Nobelpreis für Chemie in Empfang genommen, einer der weniger alten Nobelpreisträger konnte ein Gähnen nicht unterdrücken, Olga Tokarczuk hat — auch von mir — großen Applaus bekommen, und jetzt tritt also Peter Handke nach vorne, als Einziger der männlichen Nobelpreisträger hat er nicht an seiner weißen Weste gezupft, nachdem er aufgestanden ist, weshalb er nun eine gesteifte weiße Welle auf dem Bauch trägt, und genau in dem Augenblick, als er seine Urkunde oder Medaille oder was auch immer in Empfang nimmt, springt mir Gaston auf den Schoß, die Katze der Nachbarin aus dem 4. Stock, die für ein paar Tage hier wohnt und mich behütet vor einem neuen peinlichen Rührungsanfall.

„Es wird wie bei den Pinguinen in der Antarktis sein, die sich dann ins Meer stürzen“, hat Handke neulich zu Ulrich Greiner in der „Zeit“ gesagt. Ich aber sage oder vielmehr lese: „Er stellt sich vor, wie er fiele und wie der Aufprall durch die Bleistiftspiralen, die sich mit der Zeit und den Jahren dort unten abgelagert hatten, abgemildert würde.“





nun hat er ihn endlich - den nobelpreis: und wie immer bei allen "ausgezeichneten" menschen, gibt es gratulanten und neider, und wohlwollende zeitgenossen und hasser.

okay - handke macht es seiner umwelt nicht allzu leicht - und er ist kein sonnyboy, der sich anbiedert und einschmeichelt.


handke - nach einer photo|graphic-bearbeitung von mir




und so schreibt er ja auch seine bücher nicht auf "publikumsgeschmack" - sondern jedes seiner werke ist ein "einzel-kunstwerk", dass die leser jeweils mögen oder ablehnen - und dass die kritik goutiert oder eben durchfallen lässt.

handke stellt sich da dem souverän publikum - wohl eher dem fachpublikum - und er fordert für seinen schreibstil höchste aufmerksamkeit, auch wenn es um ganz alltägliche einfache kleine randerlebnisse geht.

da geht er überraschend und kompliziert den farbnuancen eines winzigen tautropfens auf den grund (s.o.) und macht das allerdings stilistisch gewohnt brillant - eben tatsächlich "nobel". aber - ich sagte das schon andernorts - einen windschnittigen literatur-nobelpreisträger kann es eben gar nicht geben, denn preiswürdige schriftsteller sind wahrscheinlich immer "typen" mit ecken & kanten & unausrechenbaren überraschungen.

und auch all die aufgeregtheiten zu seinen serbien-einlassungen vor einigen jahren gehören für ihn inmitten hinein in sein literarisches gesamtwerk - und darin ist er so selbstverliebt, dass er natürlich nicht eine zeile davon zurücknehmen oder schwärzen wollte.

aber so etwas wäre ja auch die verfälschung seines soseins und nicht mehr das manchmal auch bizarre und wütende und dröhnende original, mit dem er sich seinen namen gemacht hat und wie wir ihn alle seit jahrzehnten kennen - und nicht erst neuerdings, nachdem ihm das findungskomitee den preis zuerkannt hat.

und bisher strolchte handke ja etwas abgeschieden vom mainstream durch seine streuobstwiesen, abgeschieden von dieser lauten welt - so dass er jetzt einen reporter fragen musste: "was ist eigentlich ein shit-storm?" - und der nur ein altes seniorenhandy hat mit großen knöpfen und einfacher bedienung, weil ihn so etwas digitales wohl weniger interessiert - und erst recht nicht fasziniert. aber diese frage nach dem "shit-storm" war ja vielleicht auch nur ein slapstick... - denn er konnte ja sehr wohl der weltpresse eine anonyme zuschrift mit einem mit scheiße kalligraphierten stück toilettenpapier in ausreichendem englisch beschreiben, die ihm postalisch zugestellt worden war.

ich weiß, vielleicht tue ich der olga tokarczuk in meinem gewissen unrecht, dass ich sie auch jetzt wieder hinter peter handke nur noch als marginale hier in meinem "abschluss-kommunique" platziere - pardon. 
wenn ich in polen mitglied der "pis"-partei wäre, stünde sie hier bestimmt in der ersten reihe...

richtig nobel


Olga Tokarczuk - sinedi-Grafikbearbeitung eines Fotos von: imago/ Krzysztof Kaniewski


Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk


Die Wahrheit steckt in der Bewegung

In ihrer Heimat Polen wird der Autorin Olga Tokarczuk „Antipolonismus“ vorgeworfen. Ein Porträt der Literaturnobelpreisträgerin.

Von DOROTA DANIELEWICZ für die TAZ

  • DOROTA DANIELEWICZ - geboren in Poznań, lebt als Publizistin, Übersetzerin und Autorin in Berlin. 2020 erscheint ihr neuer Roman, „Droga Jana“ (Jans Weg), im Verlag Wydawnictwo Literackie in Polen, deutsche Ausgabe in Vorbereitung.


Die Nachricht, dass sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden wird, ereilte Olga Tokarczuk auf der Autobahn in Deutschland. Sie war gemeinsam mit ihrem Partner auf dem Weg von Potsdam nach Bielefeld, wo sie an jenem Abend eine Lesung halten sollte. Damit schloss sich gewissermaßen ein Kreis, denn auch ihre allererste Lesung als junge Autorin im Ausland hatte Olga Tokarczuk im Jahr 1996 – lange bevor sie international entdeckt wurde – nach Deutschland geführt. Damals las sie im Literarischen Colloqium Berlin (LCB) am Wannsee.

Für das LCB habe ich damals die polnischen Lesungen organisiert, und im Rahmen einer Woche mit polnischen Autorinnen luden wir Olga Tokarczuk ein. Kurz zuvor hatte sie ihren ersten Roman vorgelegt: „Podróż ludzi Księgi“ (1993, nur auf Polnisch erschienen, zu Deutsch etwa: „Die Reise der Buchmenschen“).

Eine nostalgische Geschichte über eine Gruppe von Pilgern, die nach dem „Buch der Bücher“ suchen. Einer von ihnen findet schließlich das sehnsüchtig gesuchte Werk, ehe sich herausstellt: Er kann nicht lesen. In dieser Geschichte finden sich schon viele für die heutige Nobelpreisträgerin typische literarische Motive: das Fasziniertsein von Mythischem und Unerklärlichem bei gleichzeitiger Suche nach Wahrheit, eine spirituelle Sehnsucht nach der Erfassung einer tieferen Bedeutung.

Olga Tokarczuk, geboren 1962 in Zielona Góra, debütierte mit 16 Jahren. Sie veröffentlichte zunächst in einem polnischen Jugendmagazin, schrieb Kurzprosa und Gedichte. Die Übersetzung ihres Debüts fand in Deutschland damals keinen Verleger. Wir beide blieben freundschaftlich verbunden, sodass ich jedes Buch von Olga später mit großem Interesse gelesen habe, viele Lesungen mit ihr moderierte und einige Interviews führte – ihr Werk ist somit ein Teil meines Lebens geworden.

Sie liebt Kreuzberg

Im Jahr 2001 wurde sie Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin, und in dieser Zeit entstand ihre Berliner Erzählung „Spiel auf vielen Trommeln“ (Matthes & Seitz, 2006). Sie wohnte damals in einer Wohnung am Mariannenplatz in Kreuzberg, im Bethanienhaus. Dieser Bezirk gefiel ihr gut: Wohnmobile mit Aussteigern im Hinterhof, die Oranienstraße mit ihren Lokalen, Bars und multikulturellen Bewohnern.

Schon damals war sie in Polen eine gestandene Autorin: Für „Ur und andere Zeiten“ (Berlin Verlag, 2000) bekam sie 1997 den Publikumspreis des renommierten polnischen Nike-Literaturpreises. Es folgten zahlreiche weitere Preise. Aber gerade die Kreuzberger Impressionen, „Spiel auf vielen Trommeln“, kann man als wichtigen ersten Schritt in Richtung Nobelpreis sehen: Das Buch erschien in schwedischer Übersetzung von Jan Henrik Swahn, der später weitere Romane von Tokarczuk kongenial ins Schwedische übertrug. Darunter auch die „Jakobsbücher“, ihr Opus Magnum (Kampa Verlag, 2019).

In „Ur und andere Zeiten“, dem ersten ausgezeichneten Werk, geht es um Ur, ein uraltes fiktives Städtchen, das auf verschiedenen Zeit- und Raum­ebenen beschrieben wird mithilfe miteinander verflochtener Legenden. Ur kann man auf zwei Wegen verlassen – entweder vertikal, im Geiste, auf der Suche nach der kosmischen Wahrheit, das heißt dem höheren Sinn, oder horizontal, durch den Wald, wobei man die unsichtbare Grenze von Lebens- und Denkgewohnheiten überschreitet.

Hier wird Tokarczuks Credo sichtbar: Die Wahrheit entdeckt man in und durch die Bewegung, auch wenn sie sich nicht beschreiben und begreifen lässt. Der stete Perspektivwechsel ist für die Nobelpreisträgerin von größter Wichtigkeit. „Ganze Epochen haben ihre Wahrheiten, die nach einer gewissen Zeit in Staub zerfallen. Auch Individuen haben ihre Wahrheiten; manche von ihnen bleiben das ganze Leben lang aktuell, andere werden immer wieder modifiziert“ [Übersetzung d. A.], schreibt sie in dem bislang nicht auf Deutsch erschienen Essayband „Moment niedźwiedzia“ (2012).

Ins Unendliche multipliziert

In einem Interview mit der Gazeta Wyborcza erinnert sich Tokarczuk an ihre Anfänge: „Einmal habe ich bei Stanisław Lem eine faszinierende Erzählung über ein Gesetz der Physik gefunden. Der Protagonist dieser Erzählung, Herr Dońda, befand, dass jede Information, die ins Unendliche multipliziert wird, an einem bestimmten Punkt einen Wert erreicht, bei dem sie kollabiert und sich in ein Atom verwandelt.
Trotz wiederholter Aufenthalte in Deutschland und gelungener Übersetzungen hat das Werk der polnischen Autorin hier nie ein großes Publikum erreichen können
Er beschreibt die Vorstellung, dass alles, was wir schreiben, produzieren, sagen und lesen, diesem Gesetz gehorcht und es irgendwann ein ‚Klick‘ gibt – und dann verwandelt sich alles in ein Atom. Die Materie wird auf diese Art fester, verbessert ihre Qualität.“

Nicht nur von Stanisław Lem wurde sie geprägt, auch ein Werk der deutschen Literatur, das sie sechsmal gelesen hat, hat sie maßgeblich beeinflusst: „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. „Wenn mich jemand fragen sollte: Ich bin vor allem eine Leserin, erst an zweiter Stelle eine Autorin.“

Trotz wiederholter Aufenthalte in Deutschland und gelungener Übersetzungen von „Ur und andere Zeiten“, „Unrast“ (Schöffling, 2009) „Taghaus, Nachthaus“ (DVA, 2001) hat das Werk der polnischen Autorin hier nie ein großes Publikum erreichen können.

Misstrauen und Angst

Die „Jakobs­bücher“ – 2019 im Kampa Verlag erschienen, in der großartigen Übersetzung von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein – fanden jahrelang keinen Verleger in Deutschland. Als ich versuchte, den großen europäischen Roman über die Sekte des falschen Propheten Jakob Frank Verlagsleuten zu empfehlen, begegnete ich Misstrauen und der Angst vor zu hohen Druck- und Übersetzungskosten.

Es gab jedoch eine Literaturkritikerin, die schon bei der ersten Lektüre Tokarczuks Begabung erkannte: Iris Radisch. In einem Gespräch sagte sie mir, dass Polen, überhaupt der Osten „für das Metaphysische“ zuständig seien. Da ist was dran. In der deutschsprachigen Presse wurde Tokarczuk oft als eine der letzten Kandidaten für den Nobelpreis genannt, der Standard bezeichnete sie nach Bekanntgabe der Auszeichnung als „esoterisch angehaucht“. Ihre Botschaft wurde da wohl gründlich missverstanden.

In dem Roman „Der Gesang der Fledermäuse“ (Schöffling & Co., 2011), der 2016 von Agniesz­ka Holland unter dem Titel „Die Spur“ wunderbar verfilmt worden ist, bringt Tokarczuk ihr Mitgefühl mit Tieren und die Ablehnung von deren sinnloser Tötung zum Ausdruck.

Die Protagonistin des Romans, Janina Duszejko, eine ältere Frau, die auf dem Lande lebt, verliert ihre Hunde, die zufällig von Jägern erschossen werden. In der Gegend kommt es zu Morden, es sterben Männer, die in verschiedene dunkle Geschäfte verstrickt sind, und die Autorin stellt dem Leser die uralte Frage: Darf man im Namen höherer Werte töten?

Keine Gratulation vom Präsident

Auch in der Geschichte von Jakob Frank ist eine Frau, die Großmutter des Protagonisten Jakob, eine wichtige Erzähl­in­stanz. Jakob, ein Jude aus Ostgalizien, setzt sich für die Rechte seines Volks ein, für Freiheit, Gleichheit, Emanzipation. Er inszeniert sich als Prophet, provoziert sogar ein Pogrom, um gute Beziehungen zum katholischen Bischof zu pflegen.

Eingebettet ist die Geschichte, in ein breites Panorama des 18. Jahrhunderts in Europa, von der Türkei bis Deutschland. Die Großmutter Franks, Jente, ist eine hellsichtige Frau, die das Geschehen aus einer allwissenden Perspektive beobachtet. Der Roman ist sinnlich, bildhaft und unheimlich gut erzählt und trotz der Länge von 1.184 Seiten nie langweilig.

„Mit Geschichte sollte man so umgehen, dass man auch die untere Seite des Teppichs sieht und betrachten kann, wie die Fäden von unten miteinander verflochten sind, wie er gemacht worden ist“ – so beschrieb die Schriftstellerin die Arbeit an ihrem Buch bei einer öffentlichen Diskussion beim Malta Festival Poznań. Die andere Seite des Teppichs, das ist in den „Jakobsbüchern“ der polnische Antisemitismus und der Umgang des polnischen Adels mit der ukrai­nischen Bevölkerung, den Tokar­czuk in schonungsloser Radikalität als „Versklavung“ beschreibt.

Daraufhin wurde sie mit Hass überflutet, man warf ihr „Antipolonismus“ vor. Auch jetzt, nach der Auszeichnung mit dem Nobelpreis, wird auf nationalistischen polnischen Foren von einem Preis „für die polnischsprachige, jedoch nicht polnische Autorin“ gesprochen und ihre „Schädlichkeit für das Image der Polen im Ausland“ beschworen. Vom polnischen Präsidenten hat sie immer noch keine Gratulation bekommen.

Literatur und Weltlage

Ihr Wohnort Wrocław dagegen hat Tokarczuk einen großartigen Empfang bereitet. Ihr Auftritt im Nationalen Musikforum wurde auf Großleinwänden auf dem Platz vor dem Veranstaltungsort für alle, die nicht mehr in den Saal hi­neingekommen waren, übertragen. Und das waren Hunderte. Nach langen Standing Ovations überreichte der Bürgermeister von Wrocław ihr die Schlüssel zu den Stadttoren und begrüßte sie zu Hause.

Schon einen Tag später erklärte Tokarczuk, sie wolle eine Stiftung gründen, die „Raum für ein internationales Gespräch über die Möglichkeiten der Literatur bei der Analyse der Weltlage“ bieten sollte. Die Stadt Krakau beschloss, aus Anlass der Nobelpreisverleihung einen Wald für Olga Tokarczuk zu pflanzen – „Ur“ heißt er. 25.000 Bäume, die von den Einwohnern eigenhändig gepflanzt werden sollen.

Am Dienstag ist endlich die Ehrung in Stockholm. Seit Tagen gibt Olga Tokarczuk keine Interviews, geht nicht ans Handy, wahrscheinlich arbeitet sie in der Stille an ihrer Nobelpreisrede. Wir sind sehr gespannt, was sie sagen wird, denn sie weiß Bescheid: Jede oft wiederholte Information schafft, nach der Lem’schen Theorie, womöglich neue Atome. Die Verantwortung für das Wort ist groß.

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pdf: Die Rede von Olga Tokarczuk zur Nobelpreisverleihung - in english - ich habe keine deutsche Übersetzung gefunden - allerdings konnte ich mit diesem Google-pdf-Translator zumindest den Sinn einigermaßen erfassen...

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nun bin ich sowieso nicht der große bücherwurm - aber im gegensatz zu peter handke sagte mir olga tokarczuk, die literatur-nobelpreisträgerin von 2018, überhaupt nichts - aber das lässt sich ja ändern.

alles, was ich nun an rezensionen zu ihrem werk lesen konnte, hat mich auf alle fälle neugierig gemacht - und klang doch sehr sympathisch - denn so einen hang zur mystik und zur spiritualität habe ich ja auch - und wenn die stadtbibliothek in ein paar wochen die "jakobsbücher" von ihr ausgelegt hat, ist das, glaube ich, auch ein stoff für mich.

obwohl der umfang mich etwas irritiert, denn erfahrungsgemäß lege ich "dicke" bände schnell aus der hand, weil etwas anderes mich vielleicht dann in anspruch nimmt - und ich danach oft den anschluss verpasse, wieder einzusteigen.

aber vielleicht ist das ja bei olga tokarczuk auch anders.

und ihren mit-preisträger peter handke kenne ich auch eher aus einem längeren doku-film mit ihm und ansatzweise ein paar frühere "68-er" bände von ihm - und dann habe ich seine skandälchen verfolgt, die wohl mit zu seinem markenzeichen zu rechnen sind. und er hat es als "deutschsprachiger" autor natürlicherweise leichter als frau tokarczuk als polin.

handkes serbien-affinität und der ganze hype darum geht mir etwas auf den senkel - und einen nobelpreisträger kann man mit seinem gesamtwerk sicherlich nicht auf diese diskussion reduzieren.

ich habe ja letztlich hier öfter stellung bezogen zu emil nolde und die jüngeren entlarvungen zu seinem ns-engagement als maler des "deutschen" expressionismus - wo ich aber auch mitkonstatieren möchte, dass der "halbdäne" nolde sicherlich auch aus opportunistischen geschäftsinteressen sich mit dem jeweils herrschenden "mainstream" gemein machte, denn nach dem krieg hat er ja flugs eine andere dann zur zeit besser passendere geschichte erzählt und ist rasch entnazifiziert worden - wie soviele gesinnungsgenossen, auch aus der großen politik z.b. 

und wie bei handke meine ich: noldes oeuvre lässt sich nicht auf seinen opportunismus reduzieren. künstler sind eben auch nur menschen - und gerade künstler pflegen ja ihre macken, um sich zu profilieren und erkennbar zu machen, um sich zu vermarkten. 

aber ich merke schon auch hier wieder in diesen ausführungen: die diskussion um peter handke beherrscht die gedanken um diese jetzigen literaturpreise - und olga tokarczuk gerät da etwas in den hintergrund, obwohl sie ja wohl auch in polen nicht nur bewunderung genießt und von der "pis"-regierung glattweg ignoriert wird.

also künstler ecken immer irgendwie und irgendwo an - und diese kantigkeit und kauzigkeit macht letztlich ihre individualität aus, aus der heraus sie zur feder greifen, oder bei nolde waren es staffelei und pinsel. einen aalglatten und leichtverdaulichen autoren wird man aber auch keinen nobelpreis verleihen können.

und deshalb habe ich hier diese besprechung aus der taz jetzt über olga tokarczuk mit aufgenommen und eben auch ihre preisrede - vom polnischen ins englische übersetzt - und du kannst ggf. mit dem google-translator diesen text ins deutsche übertragen lassen - sie soll - gerade auch als frau - nicht im schatten vom handke stehen.


erinnerungsarbeit durch und durch

Kriege und ihre Folgen werden im TAMdrei im interkulturellen Stück durch die Intensität der Darstellung sehr präsent. 
Foto: Tim Ilskens/Theater - NW u. WB




Das Recht auf Erinnerung

Parallele Welten im TAM-drei: Heldentaten oder Verbrechen?

Von Burgit Hörttrich | WB

Wieso hatte der Großvater keine Freude daran, mit den Enkeln zu spielen? „Das kommt vom Krieg“, sagt die Großmutter. Ist der Onkel ein Held, weil sein Name irgendwo in einem Dorf im Kosovo auf einem Kriegerdenkmal steht? Die Großmutter erzählt von den Haustieren und von selbst gestrickten Socken, wenn es um die Vertreibung aus der Heimat geht. Oder sie erzählen gar nichts vom Krieg, die Verwandten.

Gibt es ein Recht darauf, zu erfahren, was Eltern, Großeltern, Onkel, Cousins im Krieg erlebt haben? Dieser Frage sind 16 Bielefelder zwischen 17 und 56 Jahren mit kurdischen, türkischen, kosovarischen, deutschen, serbischen, bosniakischen, ägyptischen, italienischen, syrischen und russischen Wurzeln seit mehr als einem Jahr nachgegangen. Gemeinsam mit Schauspieler Omar El-Saeidi und Theaterpädagogin Martina Breinlinger haben sie daraus ein Stück gemacht. „Krieg.Erinnern“ wurde bei der Premiere im TAM-drei gefeiert – nach minutenlangem, betroffenem Schweigen.

Familienfotos von „früher“, angefangen vom Ersten Weltkrieg, aber auch Alltagsszenen aus vermeintlich glücklichen Zeiten, sind Anknüpfungspunkte für Fragen, um Geschichten zu erzählen, Erinnerungen auszutauschen. Durchaus lustige Geschichten, aber auch solche Fragmente, bei denen der Erzähler mitunter nicht so recht weiß, ob er das, was er da erzählt, selbst erlebt hat, gehört hat, es seiner Fantasie entspringt. Buchstäblich laufend, suchen die Protagonisten nach Wahrheit. Oder doch nach Antworten. Denn die, die sie mitunter bekommen, passen nicht so recht ins Weltbild.

Berichtet wird auch von Kriegen, die in der Allgemeinheit längst in Vergessenheit geraten sind, bei den Betroffenen aber tiefe Narben hinterlassen haben. Die einen wollen reden, jedes Detail ausbreiten, die anderen am liebsten vergessen, nicht „darüber“ sprechen. Darüber zum Beispiel, dass der Großvater im Konzentrationslager gearbeitet hat, darüber, dass man ja nichts gewusst hat. Es gibt Geschichten von Versöhnung. Oder zumindest Versöhnungsversuchen.

Da ist die Sorge, dass die erlebte Erinnerung mit Tätern und Opfern stirbt, dass nur noch Bücher und Fotos, Erzählungen aus dritter, vierter Hand zurück bleiben. Das seien dann „Momentaufnahmen, die kalt werden“. Die Stück-Collage schildert bewegend emotionale Berg- und Talfahrten, wenn Angehörige befragt werden, die Skrupel, die eigenen Verwandten zu „verhören“ und auch die Angst davor, Dinge zu erfahren, die man gar nicht wissen wollte, die nichts ins eigene Denkmuster passen.

Die Mitwirkenden Mohammad Alhammadi, Derya Bal, Edda Barteit, Luca Buxel, Marwan El Sayed, Merisa Ferati, Canip Gündogdu, Daniel Heinrih, Khani Hussein, Delia Kornelsen, Giacomo Monaca, Gaye Mutluay, Ingo Nie, Demokrat Ramadani, Baris Solmaz und Ayhan Turan spielten mit großen Engagement. Sie waren sie selbst und auch wieder andere, deren Schicksale ihnen sichtbar nahe ging.

Die Projektreihe Parallele Welten mit Laien und Künstlern des Theaters gibt es bereits seit 2012 - und erzeugt große Aufmerksamkeit. So wurde 2015 das Stück „Ehrlos“ für das Welt-Amateur-Theatertreffen in Monaco nominiert und zum Theatertreffen der Jugend eingeladen.

„Krieg.Erinnern“ ist zu sehen am 10., 12. und 13. Dezember im TAM-drei

WESTFALEN-BLATT | Montag, 9. Dezember 2019 | Seite 12: Bielefelder Kultur



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Kriege und der Blick zurück

Wie ist das mit den Erinnerungen? Welche Rechte hat man an denen der vorherigen Generationen? Und wenn sie sich erinnern, sind diese dann wahr? Oder sind sie nicht vielmehr immer subjektiv und selektiv?

Von Christiane Buuck | NW

„Krieg. Erinnern“ lautet der Titel des aktuelles Stücks in der Projektreihe „Parallele Welten“ des Theaters Bielefeld. Ein Jahr lang haben die Mitspieler zwischen 17 und 62 Jahren unterschiedlichster Herkunft mit Menschen aus verschiedenen Ländern gearbeitet, deren Erinnerungen aufgeschrieben und szenisch umgesetzt. Dabei ging es um die zentrale Frage, wie subjektiv und selektiv Erinnerungen sind. Können sie wirklich die Wahrheit abbilden?

Unter der Leitung von Theaterpädagogin Martina Breinlinger und Schauspieler Omar El-Saeidi hatten sich die Mitspieler mit kurdischen, türkischen, kosovarischen, serbischen, ägyptischen, italienischen, syrischen, russischen und deutschen Wurzeln ein Jahr lang mit diesen Fragen auseinandergesetzt und sie szenisch umgesetzt.

Bei der Premiere am Samstag im TAMdrei hatte die Aufführung bereits begonnen, als die Zuschauer sich ihre Plätze suchen. Auf dem Boden sitzend schauen sich die Spieler alte Familienfotos an und unterhalten sich darüber. Die Familien der Spieler sind größtenteils Opfer eines Krieges. Ein Teil ihres Lebens, an das sie bisher nicht erinnert werden wollten, wurde von ihren Kindern hinterfragt. Kriege und deren Folgen werden durch die Schilderungen sehr präsent in dem kleinen Theaterraum, die Barriere zwischen Darstellern und Zuschauern verschwimmt. Diese Nähe wirkt so manches Mal – insbesondere für die erste Reihe – fast beängstigend und bei der Bewegungs- und Gefühlsintensität, mit der die Darsteller präsent sind, berührt und entsetzt der Inhalt des Vorgetragenen das Publikum. Das Erlebte, die Ängste und das Grauen der Kriege bekommen Gesichter. Die Zuschauer verfolgen Diskussionen um Fragen wie „Was bedeutet es, Pazifist zu sein?“, „Was ist wahr?“ und nicht zuletzt auch die Frage nach der Schuld. In einer Clown-Maske setzt Canip Gündogdu dem entgegen: „Ich will nicht von Dingen sprechen, von denen ich keine Ahnung habe.“ Aber wie bildet man sich eine eigene Meinung, da doch Gedanken und Gefühle von Kindheit an gelenkt werden – im Elternhaus oder auch von den Medien ?

Nach der Premiere sind alle erleichtert, Mohammad Alhammadi gibt zu, große Angst vor dem Auftritt gehabt zu haben, doch: „Ich will, dass die Kriege aufhören!“ Alle haben Mut bewiesen und Großartiges geleistet an diesem Abend, gerade, weil sie auch ganz viel von sich selbst Preis gegeben haben. Die Zuschauer waren mehr als nachdenklich – dieses Stück, so grandios es auch ist, ist schwere Kost und wirkt noch sehr lange nach.

NEUE WESTFÄLISCHE | Dienstag 10. Dezember 2019 | S. 19: Lokales Bielefeld 

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genau die hier sich offenbarenden fragen und antworten und  wirklichkeiten und behauptungen und auch das eiserne beschweigen mancher zeugen, denen es die sprache verschlagen hat - das sind die themen einer zeitgemäßen erinnerungs- und gedenkkultur, so wie sie - vielleicht auch durch aktives rollenspiel - einer jungen generation vermittelt werden können, wenn die zeitzeugen selbst allmählich die bühne verlassen.

damit lässt sich dann in szene setzen, was jetzt auch noch von den traumatisierten selbst oder eben auch von kindern, enkeln und urenkeln und neffen und großnichten er-innert wird.

schon das wort er-innern - ist für mich jedenfalls die physische umkehrung des verinnerlichens - also sousagen die "schluckauf"- und "aufstoß"-variante verinnerlichter geschehnisse, die selbst erlebt oder durch verbale und auch nonverbale überkommene erzählungen in uns herumschwirren - und die sich "gehör" und "wahrnehmung" verschaffen wollen.

denn sie sind für alle menschen, egal welcher religiöser wurzeln, staatsangehörigkeit und hautfarbe und welchen geschlechts, egal welchen alters oder welcher sexueller orientierung, profilierende und beeinflussende fakten, die ein "lebenslänglich" in irgendeiner weise prägen.
Magnetresonanztomographie-
Aufnahmen eines menschlichen 
Gehirns

und damit das "herumschwirren" in uns, auf welcher art auch immer, nicht "überhand" nimmt und pathologische nuancen ausbildet, sollten wir das, was nach außen drängt, auch nicht einfach quasi "unverdaut" wieder herunterschlucken, sondern "ausspucken" im weitesten sinne: wir sollten uns endlich mal "um kopf & kragen reden", die "seele aus dem leib" reden, ja uns mal "auskotzen", sollten einfach losstammeln und das ausdrücken, was wir da vom uropa wissen, oder von der tante, oder was wir an mitteilungshemmnissen an der eigenen mutter beobachten können oder konnten.

das sind die spuren, die in jedem von uns gelegt sind - und die uns - direkt und indirekt - berühren und betreffen - von denen wir abhängig sind.

und solche "improvisations"-elemente auf den tatsächlichen "brettern, die die welt bedeuten", also im profesionellen theater, sollten vielleicht auch in schul-kursen und laienspielgruppen unter dieser prämisse ergründet, erarbeitet, dargestellt - und so zum allgemeinen erhaltenswerten kulturgut werden, da wo er-innerung "hautnah" gelebt und ausgelebt werden kann, damit sie tatsächlich verinnerlicht, integriert und zum gesunden bestandteil des ich wird.

es sind quasi stolpersteine, vor denen man nicht stutzt, um sie zu lesen - sondern innerlich gelegt, um genauso innerlich und tatsächlich im miteinander drüber zu stolpern...


jugendvolxtheater bethel in dem stück "ich will leben", 2018

noch ein beispiel dazu siehst du auch hier...

Ich will, dass die Welt erfährt, was passiert ist.

KZ-Überlebender gegen SS-Wachmann
"Ich komme nicht aus Rache. Allerdings: Ich beschuldige, ich verzeihe nicht"

Wie beteiligten sich Wachmänner an den Taten im KZ Stutthof? Vor Gericht hat der Überlebende Abraham Koryski sadistische Gräuel geschildert: "Ich will, dass die Welt erfährt, was passiert ist."

Von Julia Jüttner | SPIEGELonline



Abraham Koryski: Der 92-Jährige ist aus Israel angereist, um als Zeuge auszusagen - Foto: Christian Charisius / AFP


Als Abraham Koryski im August 1944 ins Konzentrationslager Stutthof nahe Danzig kam, war es Nacht. Es roch nach Leichen. Acht Tage lang war er mit etwa 800 Juden aus Estland unterwegs gewesen, ohne Essen, ohne Trinken, so erinnert er sich. Er wurde mit anderen in eine Baracke getrieben, es war so eng, dass er im Stehen schlafen musste. Am nächsten Morgen wurden ihm die Haare abrasiert. Abraham Koryski war nun ein KZ-Gefangener, er war damals 16 Jahre alt.

Am vergangenen Wochenende wurde Abraham Koryski 92 Jahre alt, er ist aus Israel angereist und sitzt nun in Saal 300 des Landgerichts Hamburg und erzählt von seinen ersten Stunden im KZ Stutthof. Ein kleiner Mann mit einem freundlichen Gesicht, geboren in Litauen, er trägt ein Hörgerät und eine Brille. Neben ihm sitzt seine Tochter, ein paar Reihen dahinter sitzen zwei weitere Angehörige.

Links von ihm sitzt Bruno D., 93 Jahre alt. Er stand von August 1944 bis April 1945 als SS-Wachmann auf einem der Türme des KZ Stutthof. Die Nationalsozialisten hielten dort mehr als 100.000 Juden und politische Gegner gefangen, 65.000 von ihnen ermordeten sie. Bruno D. ist angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen. Die Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, dass er, auch wenn er keinen Gefangenen eigenhändig getötet hat, durch seine Arbeit als Wachmann Beihilfe zum Massenmord geleistet hat.

Sadistische SS-Offiziere

Abraham Koryski ist gekommen, um zu erzählen, was er erlebt hat. Er spricht mit lauter Stimme, ein Dolmetscher übersetzt aus dem Hebräischen. Das Gericht braucht ihn nicht nach der Rolle der Wachleute im KZ zu fragen: Abraham Koryski weiß, worum es in diesem Verfahren geht, er redet nicht lange herum.

Koryski schildert das Unaussprechliche in vielen Details: wie SS-Offiziere und Wachmänner Gefangene zu "bizarren, sadistischen Shows" zusammenriefen. Bei einer habe ein SS-Offizier - offensichtlich unter Einfluss von Alkohol - einen Stuhl zerbrochen und einen Vater samt Sohn aufgefordert, sich zu entscheiden: Entweder der Offizier erschieße einen von beiden oder einer prügele den anderen mit dem Stuhlbein zu Tode. Der Vater habe daraufhin entschieden, der Sohn möge den Vater erschlagen. "Er tat es", sagt Abraham Koryski. "Danach wurde der Sohn erschossen."

Abraham Koryski durchbricht die Stille in Saal 300: "Ich frage euch alle hier: Kann man glauben, dass Menschen so etwas tun?"

Die Wachmannschaft habe man an ihren Uniformen und der Kopfbedeckung von den SS-Offizieren unterscheiden können, sagt Abraham Koryski. Er beschreibt, wie er im Krematorium die nicht verbrannten Knochen einsammeln und auf einen Waggon laden musste; wie er nach dem Aufstehen die Menschen auflesen musste, die in der Nacht gestorben waren; wie sie nachts aus den Baracken getrieben wurden, nackt, bei Minustemperaturen, sie mussten sich duschen und nackt zurücklaufen. "Viele Menschen starben nach solchen Aktionen."

Und er beschreibt, wie die Gefangenen Stunde um Stunde beim "Lager-Appell" auf einem Acker ausharren mussten: Mütze auf, Mütze runter, Mütze auf, Mütze runter. "Das war reiner Sadismus", sagt Abraham Koryski. Beim Appell habe es keine Wachtürme gegeben. Aber für viele andere Gräueltaten gilt seinen Angaben nach: "Die Wachmannschaften waren überall, sie waren dabei." Sie seien eben nicht nur auf den Türmen gestanden. "Man hat nie Gesichter gesehen, man wollte keine Gesichter sehen. Wir hatten Angst."

"Wir aßen Schnee"


Vor seiner Deportation nach Stutthof hatte Abraham Koryski Jahre im Getto in der Altstadt von Vilnius, der Hauptstadt Litauens, verbringen müssen. Von dort hatten die Nationalsozialisten Tausende Juden zur Massenvernichtung nach Ponar gebracht. Über mehrere Lager war der Junge schließlich in Stutthof gelandet, wo er kurz vor Ende des Kriegs zum sogenannten Todesmarsch gezwungen wurde: kilometerlange Menschenschlangen, ohne Essen, ohne Trinken, ohne wärmende Kleidung, ohne Schuhe. Wer starb, wurde auf die Seite geschoben, die anderen mussten weiterlaufen. "Wir aßen Schnee", sagt Abraham Koryski. Mehrfach habe er sich hingesetzt, weil er erschossen werden wollte, weil er die Schmerzen nicht länger ertragen konnte. Dann stand er doch wieder auf. Die Rote Armee habe ihn schließlich befreit.

Es sei sein "ausdrücklicher Wunsch" gewesen, in diesem Verfahren auszusagen, sagt die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring. "Warum?" Wieder ist es still im Saal. Abraham Koryski hat Mühe, zu sprechen. "Ich hatte Angst vor dieser Frage", sagt er und weint. Lange bleibt es still im Saal, dann sagt er: "Für mich ist es nicht einfach. Ich komme nicht aus Rache. Allerdings: Ich beschuldige, ich verzeihe nicht." Er hält inne. "Ich will, dass die Welt erfährt, was passiert ist. Alle sollen alles wissen." Besonders die nächsten Generationen.

"Meine Rache ist meine Familie, meine Angehörigen, die hier im Saal sind", sagt Abraham Koryski. "Sie zeigen, dass ich es geschafft habe, das alles zu überleben."







Der Eingang zum Lager bei Nacht. Bis zu 85 000 Menschen sind in dem NS-Konzentrationslager umgekommen. Foto: Kerstin Zimmermann 


ähhh - ich bin da mit meinen gefühlen in einem echten dilemma: auf der einen seite habe ich etwas dagegen, dass 93-jährige alte männer 75 jahre nach dem krieg als wachmänner wegen "beihilfe zum mord in 5230 fällen" einen mehrtägigen mammutprozess über sich ergehen lassen müssen. der angeklagte bruno d. war ja damals auch erst gerade 17 jahre alt, ein heranwachsender vielleicht verblendeter junge, der damals abkommandiert wurde und mitgemacht hat, wie hunderttausende wehrmachtsangehörige unter anderen umständen eben auch - mitgemacht bei der vernichtung von menschen - mitgemacht bei einem mörderischen krieg, den andere angezettelt hatten.

ich weiß nicht, wann und wo und zu welchem zeitpunkt sich bruno d. hätte absetzen können als wachmann, hätte die befehle verweigern können, denen er unterstand, und wann und wie er sich hätte auflehnen sollen gegen diese seine angebliche "beihilfe zum mord"...

und irgendwie fällt mir auch der spruch ein: "den letzten beißen die hunde", denn solche prozesse und anklagen hätten ja gegen rangmäßig höher stehende lagerkommandanten und maßgebliche tatsächlich verantwortliche menschen spätestens vor 50/60 jahren stattfinden oder eingeleitet werden müssen - aber da lag ja die angeblich unbeeinflussbare staatstragende kraft der "justiz" (->legislative, exekutive, judikative) allenfalls im tiefen dornröschenschlaf - und jetzt hechelt man hinter den letzten überlebenden wachmännern her, weil sich ein paar junge staatsanwälte hervortun wollen, um das was ihre alten kollegen versäumt haben, auszubügeln und sich ihre sporen zu verdienen...

damit will ich natürlich die mörderischen verfehlungen von damals nicht beschönigen - aber wieviel rangmäßig höhere leute, die echt dreck amstecken hatten, sind damals einfach "verhandlungsunfähig" von gedungenen ärzten und gutachtern eingeschätzt worden - und so davongekommen.

andererseits ist es natürlich wichtig und unabdingbar, dass solche aussagen wie hier von abraham koryski offiziell protokolliert und historisch festgehalten werden - und dass damit geschichte geschrieben werden kann, denn die zeitzeugen sind eben auch inzwischen um die 90 jahre alt und können nicht mehr ewig ihr wissen so authentisch weitergeben, und so die öffentlichkeit und vor allen dingen die jugend von den tatsächlichkeiten dieser für sie unvergesslichen mörderischen einzelerlebnisse unterrichten. dafür ist natürlich "danke" zu sagen.

 

cia-foltermethoden


 "Erweiterte Verhörtechniken" 

Ein Opfer der CIA-Folter zeichnet sein Leiden


"Wir haben Leute gefoltert", so lapidar hat es Ex-US-Präsident Obama einst zusammengefasst. Der Häftling Subaida wurde von der CIA gefoltert und hat das in Zeichnungen festgehalten, die "New York Times" hat sie veröffentlicht.

Von Alexander Sarovic | SPIEGELonline (click)

Der Gefangene ist nackt, sein Kopf geschoren, die Augen sind vor Schmerzen zusammengekniffen. Seine Hände sind an eine Stange über seinem Kopf gekettet, so hoch, dass er nur auf Zehenspitzen stehen kann. Der Mund öffnet sich zu einem Schrei.



Die bedrückende Zeichnung zeigt das sogenannte "Wall Standing", eine der Foltermethoden, von denen der US-Geheimdienst CIA beim Kampf gegen Al-Qaida nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 Gebrauch machte. Angefertigt wurde sie vom Guantanamo-Insassen Zain al-Abidin Mohammed Hussein, besser bekannt als Abu Subaida.

Sein Anwalt Mark P. Denbeaux, Professor an der Seton-Hall-Universität im Bundesstaat New Jersey, hat sie nun in einem Bericht veröffentlicht. Der Titel des 94-seitigen Reports: "Wie Amerika foltert". Der Jurist dokumentiert und analysiert darin das Entführungs- und Verhörprogramm der CIA während der Regierung von Präsident George W. Bush.

In dem Programm entführte die CIA zwischen 2002 und 2008 mindestens 119 Terrorverdächtige. Mit Flugzeugen wurden die Männer an sogenannte "Black Sites" verschleppt: Geheimgefängnisse unter anderem in Afghanistan, Litauen, Polen und Thailand.
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Der Geheimdienstausschuss des US-Senats kam 2014 in einem Bericht zum Schluss, dass dort systematisch gefoltert wurde. Am Ende des mehr als 500 Seiten langen Dokuments findet sich eine Liste aller Personen, die der Geheimdienst in diesen Jahren festhielt. Der erste Name darauf: Abu Subaida.

Der Palästinenser, heute 48 Jahre alt, wurde im März 2002 in Pakistan gefasst. Die CIA verdächtigte ihn, ein wichtiger Al-Qaida-Leutnant mit Verbindungen zu Osama Bin Laden zu sein und im Voraus von den Anschlägen vom 11. September gewusst zu haben. Er war der Erste, den die CIA den "erweiterten Verhörtechniken" - so die verharmlosende Bezeichnung der Bush-Regierung - unterzog. 2002 waren die Methoden von der Administration des damaligen Präsidenten genehmigt worden, zunächst eigens für den Fall Subaida.




Subaidas Zeichnungen, in den vergangenen Monaten für die Studie seines Anwalts angefertigt, zeigen mehrere dieser Foltermethoden. Nach eigenen Angaben erlitt er die Qualen im August 2002 in einem Geheimgefängnis in Thailand. Die Illustrationen geben einen verstörend detaillierten Einblick in den Krieg gegen den Terror: Folter, dargestellt aus der Sicht des Gefolterten.

Die Zeichnungen gehen in ihren Details teilweise über das hinaus, was die meisten bisher bekannten Darstellungen zeigen. Das gilt etwa für das sogenannte Waterboarding, die wohl berüchtigtste der "erweiterten" Verhörmethoden.

Subaida war der Erste, der ihr unterzogen wurde. Ganze 83 Mal kam die Foltertechnik bei ihm zum Einsatz. Seine Darstellung zeigt einen nackten Gefangenen auf einer Liege, die Kopfstütze ist mit einem Scharnier befestigt. Demnach wäre es möglich gewesen, den Kopf des Gefangenen nach hinten zu kippen.

Das Waterboarding habe zu "Krämpfen und Erbrechen" geführt, heißt es im Senatsbericht aus dem Jahr 2014. Es habe Subaida "teilnahmslos" gemacht; "Bläschen stiegen empor in seinem offenen, vollen Mund". Der Geheimdienstausschuss konstatierte, das Waterboarding sei "brutal und weit schlimmer als von der CIA dargestellt" gewesen.
Abu Subaida (Archivfoto): Der Erste,
der dem Folterprogramm unterzogen wurde

Andere Zeichnungen zeigen "Stresspositionen" und Schlafentzug. So wurde Subaida nach eigener Darstellung in einer schmerzhaften Position auf dem Boden gefesselt. Dies habe dazu geführt, dass er "vielleicht zwei oder drei Wochen oder sogar länger" nicht geschlafen habe, wird der Palästinenser in Denbeaux' Bericht zitiert.

Auf einer anderen Illustration ist zu sehen, wie er in eine Kiste gezwängt wird, so klein, dass er nur zusammengekauert und bewegungsunfähig darin verharren konnte. Er habe "unzählige Stunden" in dieser "Hunde-Box" verbracht, sagte Subaida seinem Anwalt.

Schließlich enthält der Bericht eine Darstellung des sogenannten "Wallings": Der Gefangene steht nackt und gefesselt an einer Wand. Ein Wärter hat ein Handtuch um seinen Hals gebunden und schlägt den Kopf des Gefangenen gegen die Wand.

2015 wurde Folter bei Verhören verboten

Der US-Kongress zog im Juni 2015 Konsequenzen aus dem Bericht des Geheimdienstausschusses: Er verabschiedete mit großer Mehrheit ein Gesetz, das die "verschärften Verhörmethoden" verbietet. Eine treibende Kraft hinter der Initiative war der inzwischen verstorbene Senator John McCain. Er selbst war in Vietnam als Kriegsgefangener gefoltert worden.

Subaida verbrachte mehr als vier Jahre in "Black Sites". Seit Herbst 2006 sitzt der heute 48-Jährige im Gefangenenlager auf dem US-Marinestützpunkt Guantánamo im Osten Kubas. Das US-Verteidigungsministerium hält ihn weiterhin für einen Dschihadisten, der sich "wahrscheinlich eine extremistische Geisteshaltung bewahrt hat".

Allerdings räumte die Regierung schon vor Jahren ein, dass Subaida nicht das hochrangige Al-Qaida-Mitglied ist, für das man ihn bei seiner Ergreifung hielt. Laut der "New York Times" war er nicht einmal Mitglied der Terrorgruppe. Auch hatte er vor dem 11. September 2001 keine Kenntnis von den geplanten Anschlägen. Er wurde bis heute nicht angeklagt. Gerichtsakten zeigen, dass die Militärstaatsanwälte auch für die Zukunft keine Anklage planen.

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da hört man zu den holocaust-gedenktagen immer die schwüre: "nie wieder!" - 

und da haben wir nachkriegskinder von kleinauf gelernt, voller bewunderung auf dieses amerika zu schauen: das war ja das große vorbild hier im westen - menschlich, moralisch und überhaupt: ja - wenn heute der unsägliche donald trump ruft: "america first", dann klang das für mich erst einmal gar nicht so übertrieben: das war ja der traum unserer kindheit: einmal nach amerika zu kommen... und so zu werden wie die "amis" - und was habe ich gelitten beim kennedy-mord - und wie habe ich immer an das gute im menschen geglaubt... - und wie böse war doch "der russe"...

also so um 68 legte sich meine "american affinity" dann mit den gräueltaten im vietnam-krieg (z.b. einsatz des chemie-kampfmittels "agent orange" zum entlauben der wälder, was aber heute noch zu bleibenden gen-schädigungen bei menschen führt) - 
und ich fand dann alsbald schon mein nachbarland niederlande ganz toll - und "viel liberaler" als hier die brd - ich musste nicht mehr nach "übersee".

und 1995 fragte mich eine neue kollegin aus dem sachsenland (ehemalige ddr), die hier nach westdeutschland nach dem fall der mauer "rübergemacht" hatte: "wie jetzt - du warst noch nie in amerika drüben??? - das war doch das erste was wir gemacht haben, da hin fliegen und in new york shoppen gehen - und du hattest doch immer die möglichkeit dazu..."

und dann kam das desaster 2001 mit dem angriff auf die twin-towers - und die reflexe dazu von mr. president bush - und meine angst um völlig überzogene reaktionen - und die worte von gerhard schröder: "wir stehen an der seite der usa - ohne wenn und aber"...

und dann kam obama, der sonnyboy, der als erstes den friedensnobelpreis überreicht bekam - und dann verkündete, er würde "guantanamo" so schnell wie möglich schließen. und dann trat edward snowden ins bild und klärte uns auf über die angewohnheiten des nsa-geheimdienstes und das allgemeine abhören einschließlich des kanzlerinnen-handys - und die geschäftspraktiken der sozialen netzwerke mit den dafür zurechtmanipulierten silicon-valley-algorithmen (was alles ungebrochen weiterhin so betrieben wird - immer weiter...) - und ich hatte hier das "ego"-buch von frank schirrmacher gelesen, das leider viel zu rasch nach meiner überzeugung auf dem grabbeltisch gelandet ist - und eigentlich ein guter background-erklärer auch der trump-ära nach wie vor ist - und nach meiner meinung zur pflichtlektüre in allen schulen gemacht werden sollte. auch die hauptkritiker von 2013 bei den ersten buchbesprechungen haben jetzt nach der thronbesteigung des größten "ego's" dieser tage dem leider inzwischen verstorbenen schirrmacher trotz seiner großen weitsicht in dem buch noch wenig abbitte geleistet.

und ich bin seit meiner "ego"-lektüre überzeugt, dass mr. trump oft wie besessen lediglich den algorithmen-vorgaben nachkommt oder sogar folgen muss, die z.b. für die strategien gegenüber nordkorea, der ukraine und china jeweils in die spielkonsole eingelegt werden. und diese (un-)sinnleitenden fakten hat frank schirrmacher mir jedenfalls mit seinem buch plausibel nahegebracht - bis hin zu meiner daraus resultierenden verwegenen vermutung bzw. verschwörungs-theorie, dass die vielen tweets von trump vielleicht auch hier und da nur ein "spiel"-schreibautomat zur arbeitsteilung absetzt, denn trump will ja ab und zu auch noch golf spielen...

tja - lange rede - kurzer sinn: nun lese ich von den ausgeklügelten kz-methoden und folterpraktiken in guantanamo und den anderen lagern für vermeintliche al-kaida-kämpfer und sehe die verstörenden bildnisse dazu, wo die wenigsten entführten personen bis heute tatsächlich von einem staatsanwalt angeklagt wurden (also oft schon seit über 18 jahren nicht) - die aber immer noch weiterhin einsitzen - einfach so - wegen eines nie enden sollenden "verdachts" - und ich frage mich, wie man auf diese nicht aburteilbaren menschen überhaupt gekommen ist - und ich höre vom streit um die exekutionspraktiken in einzelnen bundesstaaten bei der tatsächlichen ausübung der todesstrafe, die donald trump wieder favorisiert und neu befeuert hat (all seine anderen eskapaden erspare ich mir hier) ... 


Häftlinge im Camp X-Ray auf dem US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba. FOTO: PA/DPA


aber das alles festigt meinen inneren gefühlsmäßigen paradigmenwechsel in bezug auf mein kindliches "america first" von damals - vielmehr sehe ich ein völlig verkorkstes, bankrottes, dekadentes und abgewirtschaftetes land mit sehr durchwachsener (geschäfts-)moral und skrupellosem egoismus - in gewissen auswüchsen erkenne ich da schon einen (neo-)faschismus im kumpelig daherkommenden schafspelz - obwohl man ja allen grund hätte, vor der welt auch mal demütig zu sein: da haben ja die alten die indianer als ureinwohner abgeschlachtet und vertrieben - die ersten atom-bomben auf japan abgeworfen mit hunderttausenden unschuldigen opfern - also schon auch "genozide" - mehrere völlig unnötige waffengänge ohne un-mandat, also verstöße gegen das völkerrecht  - aber trotzdem stolziert man im ego-trip durch die welt: ICH zuerst, antiliberal und antimarxistisch bzw. antisozial, das unverhohlene darstellen eines "führer"-gehabes nach innen - und eben eine überzogene nationalistische gesinnung ("america first" - und das hieß ja mal in deutsch: "deutschland - deutschland über alles - über alles in der welt"...)...

nee - in ein solch undemokratisches und antiliberales land mit so viel dreck am stecken reise ich nicht...

doku: handkes rede zum nobelpreis - no comment: bilder sagen mehr als 1000 worte - worte zaubern dir 1000 bilder vor augen

Handkes Rede zum Nobelpreis im Wortlaut


Lesen Sie hier die Nobelvorlesung von Peter Handke vor der schwedischen Akademie 
Handkes Rede war vornehmlich autobiografisch, ohne ein Wort zu Serbien zu verlieren. 
Sein 1982 uraufgeführtes dramatisches Gedicht "Über die Dörfer" diente dem österreichischen Dichter Peter Handke als Klammer für seine Nobelvorlesung, die der Nobelpreisträger am Samstagnachmittag in der Schwedischen Akademie hielt. Im Folgenden das Manuskript seiner Rede:

"Spiele das Spiel. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts. Sei weich und stark. Laß dich ein und verachte den Sieg. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen. Sei erschütterbar. Zeig deine Augen, wink die andern in die Tiefe, sorge für den Raum und betrachte einen jeden in seinem Bild. Entscheide nur begeistert. Scheitere ruhig. Vor allem hab Zeit und nimm Umwege. Überhör keinen Baum und kein Wasser. Kehr ein, wo du Lust hast, und gönn dir die Sonne. Vergiß die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, zerlach den Konflikt. Beweg dich in deinen Eigenfarben, bis du im Recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird. Geh über die Dörfer."

Das sagte vor bald vierzig Jahren eine Frau zu einem Mann am Beginn eines langen Dramatischen Gedichts namens "Über die Dörfer".

In der Kindheit hat meine Mutter immer wieder, wenn es die Zeit war und wenn die Zeit es erlaubte, von den Leuten aus dem Dorf – slowenisch "Stara Vas", zu deutsch "Altes Dorf" – erzählt; keine Geschichten, sondern kurze, und doch, wenigstens für meine Ohren, unerhörte Begebenheiten. Mag sein, daß die Mutter diese zugleich auch meinen Geschwistern vortrug. Aber mir ist, als sei ich jeweils ihr einziges Publikum gewesen.

Eine jener Begebenheiten ging so: Auf einem der Bauernhöfe, schon halb im Gebirge, arbeitete eine Idiotin (oder, wie es damals hieß, "eine Schwachsinnige") als Magd. Diese wurde vom Hofherrn vergewaltigt und bekam ein Kind, dessen Mutterrolle aber die Frau des Hauses übernahm. Die Magd, die wahre Mutter, hatte sich von ihrem Kind strikt fern zu halten. In dessen Augen war die andere seine Mutter. Und eines Tages verfing sich das noch kleine, doch schon sprechfähige Wesen beim Alleinspielen in dem Drahtzaun am Rand des Anwesens und verstrickte sich dort mehr und mehr. Es schrie und schrie, bis auf einmal jetzt die Idiotin, die "Geistesschwache", oder, Wort der Erzählerin in der Mundart der Gegend zwischen Saualpe und Karawanken, "die Treapn", daher gerannt kam. Im Handumdrehen war das Kind freigehakt. Und danach aber die Frage des Kindes an seine zuletzt noch hinzugeeilte vermeintliche Mutter – die Magd schon zurück zu ihrer Arbeit, ob im Stall oder auf den Feldern –: "Mutter, warum hat die Treapn so weiche Hände?"

In dem Buch "Der kurze Brief zum langen Abschied" ist aus dieser Erzählung ein Lied geworden, eine Ballade, gesungen in einer nächtlichen Bar von Philadelphia/Pennsylvania/USA, mit dem von Strophe zu Strophe wiederholten Schrei des Sängers: "Und dieses Kind war ich! Und dieses Kind bin ich!"

Die meisten der anderen Begebenheiten, von denen die Mutter mir erzählte, handelten von den Angehörigen der Familie oder Sippe, und die Hauptperson da war fast jedesmal einer ihrer beiden dann im Weltkrieg "auf dem Feld der Ehre gefallenen" Brüder. Es sei versucht, zwei solcher kurzen, aber für mein Schreiberleben entscheidenden Episoden wiederzugeben. Die erste ging, und geht, um meiner Mutter jüngeren Bruder, den überhaupt jüngsten des Hauses, damals in der Zwischenkriegszeit, sagen wir, im Jahr 1936. Es war eine Nacht mitten im Herbst, noch eine Zeit vor der Morgendämmerung, und Hans oder, nach der slowenischen Dorfsprache Janez oder Hanzej, schon seit einem Monat außer Haus, Zögling im sogenannten "Marianum", etwa vierzig Kilometer westwärts, dem für spätere Priesterstudenten bestimmten Internat in Klagenfurt/Celovec, der Kapitale von Kärnten. Tiefe nächtliche Stille im Anwesen, das erste Hähnekrähen noch fern. Und jetzt, unvermittelt, das Geräusch eines kehrenden Besens im Hof. Und wer da kehrte, und kehrte, und nicht aufhörte, den Hof zu kehren in der Dunkelheit, das war der Benjamin der Familie, fast noch ein Kind. Und was ihn auf den Weg aus der Stadt zurück ins Dorf gebracht hatte, das war das Heimweh gewesen, domotožje (slowenisch ohne Artikel). Er, dabei erzählt, war ein guter – ein begeisterter Schüler und Lerner, war in der frühen Nacht aus einem ebenerdigen Internatsfenster gestiegen und auf der damals noch ungeteerten Landstraße nachhause gegangen. Aber statt dann einzutreten – keine Tür war je abgesperrt –, nahm er den Hofbesen und kehrte vor dem Haus den Hof. Jener Tag war nämlich, erzählte meine Mutter, ein "Samstag", der Tag vor dem Sonntag, "und am Samstag hieß es: Hofkehren!" Und der Bruder kehrte und kehrte, bis es langsam Tag wurde und einer der Hausleute – in der Phantasie ist das keiner von den Eltern, sondern seine Schwester – ihn ins Haus holte. Er ist nie mehr zurückgekehrt ins "Bischöfliche Knabenseminar" und lernte in einem Nachbardorf das Tischler- oder Schreiner-Handwerk.

Diese Begebenheit geistert, sozusagen naturverwandelt, das heißt, ohne ein Zutun, von Anbeginn durch meine Bücher, meine epischen Exkursionen bzw. Ein-Mann-Expeditionen. Bei der nun folgenden steht eine solche Metamorphose aus, oder, so Gott, das Geschick oder was auch immer es vergönnt, bevor. Nach dem Buch mit Namen "Die Wiederholung": "Die zweite Wiederholung".

Ende August, Anfang September 1943, erzählte die Mutter, kam der andere, der älteste der Brüder, für ein paar Wochen "Heimaturlaub" zurück von der russischen Krimfront. Und es traf sich, daß ihm nach dem Aussteigen aus dem Postbus als erstes die Person begegnete, die in der Gegend zuständig war für das Überbringen der Unglücksnachrichten aus dem Krieg. Die Person war gerade unterwegs hin zum Dorf und zu dem einen Haus mit der Nachricht, daß der jüngste der Brüder in der Tundra den "Heldentod fürs Vaterland" gestorben sei. Und da der Todesbote unverhofft einen der Hausangehörigen vor sich hatte, konnte er sich den Weg ersparen. Er händigte dem Heimurlauber die Nachricht aus. Was dann freilich geschah: Gregor ist nachhause gegangen, ist mit Singen und Jauchzen empfangen worden – wie vor allem meine Mutter in der Jugend nicht selten ein Jauchzen hören ließ –, hat aber während sämtlicher Heimurlaubstage den Tod des Bruders, des – wie der sich selber in seinen Kriegsbriefen genannt hatte – "Tundrajünglings", vor der Familie verschwiegen. In der verbleibenden Zeit mied Gregor nach den Worten der Erzählerin, im Frieden "der Häuslichste der Familie", Haus, Eltern, Schwester[n], auch das eigene Dorf Stara Vas, und trieb sich von morgens bis abends, und manchmal auch über Nacht, in den Nachbardörfern herum, in Encelna Vas, in Lipa, in Ruda, in Globasnica, in Diekše, in Rinkolah, in Krcanje, wo er allerdings, ob bei Bekannten oder vor allem Unbekannten, so meine Mutter, "sich ausweinte. – Sich ausweinte? Er der Einäugige? – I wo. "Sein Weinen hat nicht aufgehört. Wird nimmer aufgehört haben." Und erst am letzten Tag, auf dem Weg zum Bus zurück in den Krieg, hat er der Schwester, von der er sich als einziger begleiten ließ, die Todesnachricht ausgehändigt. Und einige Wochen später war auch er unter der "fremden Erde, die ihm leicht sei!" (Laut Totenzettel, später, laut Gedenkplatte auf dem Friedhof.)

In dem Dramatischen Gedicht mit dem Namen "Über die Dörfer" wendet sich am Ende, das auf einem Friedhof spielt, die Frau des Anfangs noch einmal an den Mann, die Nebenperson, doch vor allem an die anderen dramatis personae, die Hauptpersonen, Schwester wie Bruder, die einander und ebenso ein jeder sich selber den Krieg erklärt haben, und jene, "Nova" genannte, Frau, welcher das Reden immer wieder sehr schwer fällt, hebt so an:

"Nur ich bin das hier, Abkömmling aus einem anderen Dorf. Doch seid gewiß: Aus mir spricht der Geist eines neuen Zeitalters, und der sagt euch jetzt folgendes. Ja, es gibt die Gefahr, und nur dadurch kann ich reden, wie ich reden werde: im Widerstand. So hört jetzt mein Dramatisches Gedicht. – Es ist schon recht, nicht mehr dahinzuträumen, aber weckt einander doch nicht mit Hundegebrüll. Keiner von euch ist der Schuldige, und gerade in euren Verzweiflungsausbrüchen habt ihr vielleicht bemerkt, daß ihr gar nicht verzweifelt seid. Verzweifelt, wärt ihr schon tot. Spielt also nicht zur Unzeit die einsamen Menschen. Es stimmt freilich, daß es in eurer Geschichte keinen einzigen stichhaltigen Trost gibt. Aber laßt das Gegrübel über Sein oder Nicht-Sein: das Sein ist und wird weitergedacht, und das Nicht-Sein ist nicht denkbar. Wißt, wie gleich ihr seid – wißt, wie ihr gleich seid. Bloß ich sage das. Aber ich bin nicht nur ich. Ich-Ich kann das Leichteste und Zarteste unter dem Himmel sein, und zugleich das Allumfassende – das Entwaffnende. "Ich!" bin der einzige Held und ihr sollt die Entwaffnenden sein. Ja, das Ich ist die menscherhaltende Menschnatur! Der Krieg ist fern von hier. Unsere Heerscharen stehen nicht grau in grau auf den grauen Betonpisten, sondern gelb in gelb in den gelben Blütenkelchen. Die Verneigung vor der Blume ist möglich. Der Vogel im Gezweig ist ansprechbar. So sorgt in der mit künstlichen Farben fertiggemachten Welt für die wiederbelebenden Farben einer Natur. Das Bergblau ist – das Braun der Pistolentasche ist nicht; und wen oder was man vom Fernsehen kennt, das kennt man nicht. Unsere Schultern sind für den Himmel da, und der Zug zwischen der Erde und ihm läuft nur durch uns. Geht langsam und werdet so selber die Form, ohne die keine Ferne Gestalt annimmt. Die Natur ist das einzig stichhaltige Versprechen. Sie kann freilich weder Zufluchtsort noch Ausweg sein. Aber sie gibt das Maß: dieses muß nur täglich genommen werden. Die ziehenden Wolken, auch wenn sie dahinjagen, verlangsamen euch. Wer sagt, daß das Scheitern notwendig ist? Habt ihr euren Krieg nicht hinter euch? So verstärkt die friedliche Gegenwart und zeigt die Ruhe der Überlebenden. Was von weitem der drohende Kopf des Todes war, entfaltet sich beim Näherkommen als Kinderspiel. Schüttelt euer Jahrtausendbett frisch. Übergeht die kindfernen Zweifler. Wartet nicht auf einen neuen Krieg: die Friedlichsten sind die im Angesicht der Natur. Bietet euren Nachkömmlingen nicht das Teufelsprofil. Das Haus der Kraft ist das Gesicht des Anderen. Hier, jetzt, ist das Fest der Erkenntlichkeit. So laßt euch nicht nachsagen, ihr habet den Frieden ungenutzt gelassen: euer Arbeiten soll ein Wirken sein – gebt weiter. Weiter geben tun aber nur, die lieben: liebt eines – es genügt für alles. Dich liebend, erwache ich zu mir. Auch wenn die meisten nicht erhebbar sind: seid die Erhebbaren. Schaut weg von den viehischen Zweibeinern. Seid wirklich. Folgt der Karawanenmusik. Geht so lange, bis sich im Wirrwarr die Fluchtlinien zeigen; so langsam, daß euch neu die Welt gehört, so langsam, daß klar wird, wie sie euch nicht gehört. Ja, bleibt für immer fern von der als Macht auftretenden Macht. Klagt nicht darüber, daß ihr allein seid – seid noch mehr allein. Überliefert das Rauschen. Erzählt den Horizont, damit das Schöne nicht jedesmal wieder nichts war. Erzählt einander die Lebensbilder. Was gut war, soll sein. Verlangsamt euch – und erfindet: Verwandelt eure unerklärlichen Seufzer in mächtige Lieder. Unsere Kunst muß aus sein auf den Himmelsschrei! Laßt euch nicht die Schönheit ausreden – die von uns Menschen geschaffene Schönheit ist das Erschütternde. Betreibt die Enträtselung, die zugleich das Eine Rätsel verdeutlicht. Merkt euch: Sooft ihr starr angeblickt werdet vom entgegenkommenden Kind, seid ihr die Ursache. Viele Tarnungen anzunehmen, wird euer Geschick sein, und manch fröhlichen Schwindel zieht jeder öffentlichen Wahrheit vor. Spielt die Possen der Alltäglichkeit. Sich zu verlieren, gehört zum Spiel. (Und doch: Stolz geht nur der Unmaskierte!) Geht hinaus in den unbekannten Erdteil, und laßt die Illusionslosen böse grinsen: die Illusion gibt die Kraft zur Vision. Ja, überliefert form-sehnsuchtsdurchdrungen die heile Welt – das Hohnlachen darüber ist ohne Bewußtsein, es sind die Krepierlaute der Seelenkadaver. Die Toten sind euer zusätzliches Licht. Macht euch nichts aus eurer Unfähigkeit, sie anzureden: Eine Silbe genügt. Aber mehr noch gedenkt unserer Ungeborenen. Zeugt das Friedenskind! Rettet eure Helden! Sie sollen bestimmen: Krieg, laß uns in Ruhe. Ihr Leute von hier: Ihr seid die Zuständigen. Laßt euch nicht einreden, ihr wäret die Fruchtlosen einer Endzeit. Wir sind so nah am Ursprung wie je. Vielleicht gibt es keine Orte einer Wildnis mehr. Aber das Wilde, immer Neue, ist weiterhin: die Zeit. Das Ticken der Uhren besagt nichts. Die Zeit ist jenes Vibrieren, das auch durch das verfluchte Jahrhundert hilft. Zeit, ich habe dich! Jetzt ist der heilige Tag. Wirkend arbeitend, könnt ihr ihn fühlen. Vielleicht gibt es ja keinen vernünftigen Glauben, aber es gibt den vernünftigen Glauben an den göttlichen Schauder. Seht das Wunder und vergeßt es. Schafft den großen Satz. Die Freude ist die einzige rechtmäßige Macht. Erst wenn ihr euch freut, geht es mit rechten Dingen zu. – Es bleibt freilich dabei, daß es in unser aller Geschichte keinen stichhaltigen Trost gibt. Wer mißt? Die machthabenden Kindermörder verschwinden ungestraft. Die Ruhe ist nur episodisch: die rieselnden Brunnen stürzen um zu Barrikaden. Die Hoffnung ist der falsche Flügelschlag. Die Freudeverderber sind überall. Unter der Freudensonne gehend, schlucken wir zuinnerst die Bitterkeit. Liebe Leute von hier: Die Schreie des Grauens werden sich ewig fortsetzen. Euer Flehen um Gnade weckt bloß die Nichtszeichen. So richtet euch auf und seht den Mann im dunklen Anzug und weißen Hemd. Seht die Frau, die jenseits des Flusses auf dem Balkon in der Sonne steht. Beweist, mit euren Mitteln, unseren menschlichen Trotz! Jedem noch so flüchtigen Kuß einen Segen. Und jetzt jeder zurück auf seinen Platz. Dämonisiert den Raum, durch Wiederholung. Die Form ist das Gesetz, und es richtet euch auf. Der ewige Friede ist möglich. Hört die Karawanenmusik. Abmessend-wissend, seid himmelwärts. Haltet euch an dieses dramatische Gedicht. Geht ewig entgegen. Geht über die Dörfer."

Haben die von meiner Mutter erzählten kleinen Begebenheiten mir den Anstoß für mein nun fast lebenslanges Schreiberleben gegeben, so die Werke der Kunst, und nicht bloß die Bücher, sondern in gleicher Weise die Bilder, die Filme (vor allem die "Western" von John Ford und die "Eastern" des Japaners Yasujirô Ozu), die Lieder (zuletzt, zum Beispiel, die von Johnny Cash und Leonard Cohen gesungenen) mir die zum An- und Erklingenlassen des Anstoßes lebensnotwendigen Formen, Rhythmen oder, bescheidener ausgedrückt, Schwingungen und Schwungkräfte gegeben. Die frühesten Schwingungen oder Schwungkräfte kamen freilich nicht von den Künsten, sondern bewegten und durchdrangen das Kind, das ich war, mit den slowenisch-slawischen religiösen Litaneien unter den romanischen Bögen der Kirche nah dem Geburtsort Stara Vas. Und jene monotonen und zugleich so melodiösen Anrufungen himmelwärts durchdringen und beatmen mich inzwischen Siebenundsiebzigjährigen weiterhin; zupfen die Saiten für meinen weiteren Schreiberweg; summen mir Himmelstonleitern und Kadenzen, tonlose, wie etwa in der wunderlangen zur Mutter Gottes gebeteten Lauretanischen Litanei; die paar hier zitierten, aus den vielleicht hundert Namen und Anrufungen, eigens unübersetzt gelassen (bis auf das jeweilige Responsorium: "Prosi za nas" = Bitte für uns!):
Mati Stvarnikova – prosi za nasMati Odresenikova – prosi za nasSadež modrosti – prosi za nasZačetek našega veselja – prosi za nasPosoda duhovna – prosi za nasPosoda časti vredna – prosi za nasPosoda vse svetosti – prosi za nasRoža skrivnostna – prosi za nasStolp Davidov – prosi za nasStolp slonokosteni – prosi za nasHiša zlata – prosi za nasSkrinja zaveze – prosi za nasVrata nebeška – prosi za nasZgodnja danica – prosi za nas

Vor einigen Jahren war ich in Norwegen, dank Henrik Ibsen. Aber nicht von dem Dramatiker und seinem wie unserem "Peer Gynt" will ich jetzt zu guter Letzt – liebes deutsches Wort – erzählen, sondern von zwei so kleinen wie unerhörten norwegischen Begebenheiten. Die erste betrifft einen von den fünf oder sechs Leibwächtern, bodyguards, mit denen ich einen ganzen Nachmittag und Abend verbringen durfte. Zu später Stunde nämlich rezitierte mir jener Mann in einem stillen Hafenlokal von Oslo auf seinem Mobiltelephon gespeicherte eigene Gedichte, zuerst norwegisch, dann englisch, und das waren sämtlich Liebesgedichte, sehr zarte.

Und an einem der folgenden Abende, den ich zuletzt allein, auf einer Kreuz- und Quer-Wanderung durch das mitternächtlich leere Oslo (oder Kristiania, wie die Hauptstadt im "Hunger" – Buch des junges Knut Hamsun noch heisst), verbrachte, traf ich vor dem beleuchteten Schaufenster einer Buchhandlung auf die Silhouette eines Mannes, und als ich mich neben ihn stellte, wendete er sich zu mir und zeigte zugleich auf eines der ausgestellten Bücher. "Da: mein erstes Buch!", sagte er. "Und heute erschienen! Der erste Tag!" Sehr jung war der Mensch, fast noch ein Kind, oder so: ein "Jüngling", wie er im Buche steht. Und der freute sich – eben wie nur ein Kind sich freuen kann. Und das Freudestrahlen, das von ihm, dem Autor, dem Urheber, ausging, ist bis heute nicht vergangen. Möge nie vergehen!

So benutze ich jetzt den Moment, den zweien, dem Mann im Osloer Hafen und dem Jungen vor dem Bücherfenster, einen Gruß zukommen zu lassen, westwärts oder wohin auch immer.

Zu bedauern dabei ist vielleicht, daß ich hier keines der Liebesgedichte meines damaligen Leibwächters vortragen kann; zwar habe ich mir an dem Abend einige kopiert, jedoch den Zettel verloren. An seiner Stelle jetzt aber ein anderes Gedicht, das eines Soulguards, eines Seelenwächters (Nachsicht für das Wortspiel):

Anmerkung: An dieser Stelle endet das von der Schwedischen Akademie Redemanuskript. Handke trug am Ende noch ein Gedicht von Tomas Tranströmer auf Schwedisch vor. Tranströmer wurde 2011 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

(Peter Handke, 7.12.2019)

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Quelle: Der Standard - Kultur