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bilder erzählen geschichte

ein bild sagt mehr als 1000 worte


mit bildern lassen sich die zum verständnis notwenigen brücken zu den realen milieus um die zeit und die ereignisse vor 70/80/90 jahren schlagen: bilder, die authentisch-dokumentarisch sind und z.t. aus der unmittelbaren privatsphäre der beteiligten personen stammen - oder eben zeitgenössische symbol-bilder, die eine situation helfen mit zu illustrieren. 

geschichte bleibt auch heute in erster linie eine "(nach)erzählung" - "geschichte(n) erzählen" heißt es ja landläufig.

durch die bildreichen neuen digitalen medien werden vermehrt gerade jungen menschen bilder-"geschichte(n)" nahegebracht.

bilder allein können keine historischen ereignisabläufe wie hier die zwangssterilisation und die euthanasie-ermordung der 20-/21jährigen erna kronshage in ihrer rund 14-monatigen leidens-odyssee erzählen - aber sie können die heute bekannten stellschrauben dieser geschichte(n) "abbilden" und so "be-schreiben" und "erzählen".

mit diesen verschiedenen bebilderten medien zu "erna's story", wird also ein ereignis erzählt und illustriert und von verschiedenen seiten mit verschiedenen medien in den fokus genommen: und das ist die nach heutigen erkenntnissen rekonstruierte wahrheit, die durch einschlägige fachliteratur und amtliche dokumente und akten, durch private briefe und fotos substanziell untermauert wird. 

und um diese geschichte zu verstehen, lade ich dich ein, über diese bebilderten brücken in die vergangenheit mitzugehen, um das erzählte auch tatsächlich nachzuvollziehen. bilder haben hier also somit quasi dolmetscherfunktionen: aus der jetztzeit zurück in die welt vor 80 jahren.


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hinsehen! - was wir von bombenentschärfungen lernen können für's leben



Ausschnitte aus einem "bento"-Artikel von Susan Barth
(Original: click here)



Als wir in den Bunker kommen, scheint mir Kunstlicht ins Gesicht. Es regnet schon den ganzen Tag
hier in Berlin. Drinnen ist die Luft kühl und trocken, zwei Mitarbeiterinnen unterhalten sich leise hinter der Kasse. Eine Freundin und ich besuchen heute eine Dauerausstellung im Story-Bunker Berlin. Alles, was wir heute sehen werden, steht unter einer einzigen Frage: Wie konnte das geschehen? "Das" ist Hitler. Der Nationalsozialismus. Der zweite Weltkrieg. Der Holocaust. Zerstörte Städte. Zerstörte Familien. 55 Millionen Tote.

Wir zahlen 13,50 Euro für ein Kombiticket inklusive Audioguide und schließen unsere feuchten Rucksäcke in einem Schließfach ein.

Ich weiß, dass ich in dieser Ausstellung keinen Spaß haben werde.

Stattdessen wird sie mich aufwühlen. Ich werde gleich immer stummer werden. Ich werde fassungslos sein. Ich werde auf einer der Bänke sitzen und nicht bemerken, dass ich weine.

Warum besuche ich die Ausstellung trotzdem?

Weil ich das Gefühl habe, dass ich es muss. Weil ich glaube, dass Museen, Dokumentationszentren und Ausstellungen nicht nur für Schulklassen gemacht sind. Und dass jeder von uns sie regelmäßig besuchen sollte.

Weil man sich regelmäßig daran erinnern sollte, was vor achtzig Jahren passiert ist. Überall in Deutschland, in Europa, auf der Welt. Auch nach der Schule. Auch, wenn es niemand mehr für einen organisiert.

Nach der Schule war da niemand mehr, der darauf Wert legte, dass ich Dokumentationszentren oder Lesungen Holocaust-Überlebender besuchte. Niemand zwingt mich heute dazu, mich weiter mit diesem Kapitel deutscher Geschichte zu beschäftigen.

Dennoch versuche ich, mir das Grauen regelmäßig vor Augen zu rufen. 

Ich sehe den Film "Das Leben ist schön" oder lese Paul Celans "Todesfuge". Ich besuche Ausstellungen wie die im Story-Bunker, Mahnmale, Denkmäler und jüdische Friedhöfe in deutschen Städten. Alles, was in mir ein Gefühl zu all dem auslöst, was geschehen ist.

Ich mache das nicht, weil ich es spannend finde oder meine eigenen Grenzen austesten will. Sondern weil ich glaube, dass uns nichts anderes dieses Kapitel der Geschichte irgendwie näherbringen kann. Dass nur, wer fühlt, auch verstehen kann, dass so etwas nie wieder passieren darf. Dass das viel mehr bildet und berührt als alle Fakten.

Ich kann hunderte Male hören, dass sechs Millionen Jüdinnen und Juden in Deutschland ermordet wurden. Diese Zahl sagt mir wenig, sie ist zu abstrakt.

Aber in der Ausstellung sehe ich, was mit den Menschen passiert ist, die diese Zahl sind.

Das kann kein Geschichtsbuch. Gefühle lassen sich nicht erzwingen, aber man kann bereit dazu sein, sie zuzulassen. 

Manchmal frage ich mich, ob es moralisch in Ordnung ist, diese Menschen, ihre Bilder und ihre Schicksale zu betrachten, um zu versuchen, das, was passiert ist zu verstehen. Aber so funktioniert die menschliche Psyche. Das, was wir fühlen und erleben, hinterlässt einen intensiveren Eindruck als das, was wir uns einfach nur rational erfahren.

"Haben wir nicht langsam mal genug darüber gesprochen?", höre ich manchmal Menschen genervt sagen, wenn es um den Holocaust geht. Nein, das haben wir nicht. Seht es euch noch einmal an. Alles. Und dann muss es doch offensichtlich sein, dass wir über Unaussprechliches niemals aufhören können zu sprechen. 

Was vergangenen Mittwoch in Halle passiert ist, zeigt das auf eine furchtbare Weise ganz deutlich.

Wie können Ermittlungsbehörden nach so einem antisemitischen, antimuslimischen, einem rassistischen Gewaltakt noch von Einzeltätern sprechen, wenn Rechtsextremismus überall in Deutschland und im Internet immer präsenter wird? Wie kann man so tun, als würde es den ganzen Rest nichts angehen?

Was in Halle passiert ist, ist schwer in Worte zu fassen. Ich bin traurig. Ich bin sprachlos. Ich bin wütend.

Es geht uns alle an. Deswegen wünsche ich mir, dass wir uns immer wieder dem Grauen stellen. 
Der Bildungsauftrag an uns selbst darf nach der Schule nicht vorbei sein. 
_____________________________

ich bin susan barth für ihren bento-aufruf außerordentlich dankbar - gerade auch, weil in ihm eine echte betroffenheit und ein angerührtsein erkennbar mitschwingt - und so vielleicht unseren zunächst ohnmächtigen gefühlen bei solchen ereignissen wie dort in halle aktive möglichkeiten eröffnet werden, damit im hier & jetzt auch angemessen umzugehen.

wir müssen nicht den ganzen tag in sack & asche gehen und vor selbstvorwürfen und dauertrauer eine depressive krise heraufbeschwören. wir sollten die vergangenheit dennoch an uns persönlich heranlassen und sie integrieren in unser heutiges sosein - und wir müssen mit anderen das "unsagbare" miteinander besprechen lernen. 

das geht eben nicht nur mit gesten des bedauerns an den großen gedenktagen und feierstunden - so wichtig auch die für die seelenhygiene unserer gesellschaft regelmäßig sind. aber das darf nicht zum "pflicht"ritual veröden: wir müssen unsere eigene persönliche gedenk- und erinnerungskultur ausbilden, ein(e) jede(r) nach ihrer/seiner facon - und in den familien und im lebensumfeld sind die spuren und hinterlassenschaften von damals auch tatsächlich aufzuspüren. und erst mit dem "erspüren" wird das geschehen "fassbar" und "begreifbar" für unsere ganz individuelle wahrnehmung und ein"fühl"samkeit.

allerorten liest und hört und sieht man ja zur zeit von den späten bergungen und "entschärfungen" der bomben-blindgänger, 80 jahre nach kriegsende, die tief verschüttet mancherorts im erdreich geschlummert haben - und zu deren entschärfung oft ganze stadtteile mit tausenden von menschen in sammelunterkünften oft für stunden ausharren müssen.



die bombenentschärfung als passende metapher für die persönliche aufarbeitung der nazi-zeit bis in die 3. und 4. generation danach


ein solches aufspüren, bergen und entschärfen ist geradezu symbolhafte gestaltwerdung und metapher dessen, was eine angemessene aufarbeitung mit dieser zeit ganz individuell meint: denn da sind in dieser gesellschaft, in den orten und familien überall noch "blindgänger" von früher zu entdecken und zu bergen - oder man sagt ja auch: "da liegen noch leichen im keller" - und die gilt es, in der aufrichtigen auseinandersetzung damit endlich schritt für schritt zu "entschärfen". 

sich das damalige grauen immer wieder vor augen zu führen ist dazu eben auch eine der adäquaten möglichkeiten, diese phase unserer (familien)geschichte nicht einfach abzuspalten und/oder zu verschweigen und beiseite zu wischen - oder wie der afd-vorsitzende gauland, diese zeit einfach als "vogelschiss" der geschichte zu bezeichnen und damit ins lächerliche zu ziehen.

mit solchen inneren gesellschaftlichen verflüchtigungen und verleugnungen macht man sich auch an den millionenfachen opfern insgesamt von holocaust und ns-euthanasie mitschuldig - und diese unentschärften "blindgänger" mit den angerosteten "zündmechanismen" können im laufe der zeit in jedem konflikt mit uns "hochgehen" - davor müssen wir uns schützen.

derartige verdrängungen zeitigen dann ereignisse wie jetzt in halle und anderswo, wo verirrte und maßlos verrohte menschen versuchen, mit vorsätzlichen und durchgeplanten mörderischen nachahmungs-taten aus verqueren motivationen heraus in diesen wahnsinn von vor 80 jahren einzutauchen, um ihn mit den heutigen mitteln fortzusetzen, anscheinend auch aus einer völlig verkorksten geltungssucht heraus - oder aus einer gewissen todessehnsucht - aus einer abstrusen form von "erweitertem suizid", denn die meisten attentäter warten sicherlich indirekt geradezu auf den "finalen" schuss der sicherheitskräfte - und verbuchen das dann vermeintlich "heldenhaft" und verblendet für sich als letzte buchung: "im kampf gefallen" ... 

nur wenn wir alle uns dieser realen vergangenen epoche in unserer region, bei den eltern, groß- und urgroßeltern, nachbarn und verwandten ganz bewusst immer wieder neu stellen, können wir sie vielleicht im laufe der zeit angemessen verarbeiten und damit "gesund" und angemessen umzugehen lernen, sie "entschärfen" - denn nachschwingen und herumspuken werden diese dunklen seiten und "blindgänger" in den familienbiografien und in den winkeln des (un)bewussten ja tatsächlich wohl "bis in die dritte und vierte generation", wie es schon in der bibel steht - und wie es die wissenschaftlichen erforschungen zur "transgenerationalen traumata-weitergabe" zweifelsfrei bestätigen - natürlich in ganz individuellen auswirkungen - jede(r) auf ihre/seine art.

ich habe zu diesem gesamt-komplex ja das ns-euthanasie-mordprotokoll meiner tante erna kronshage ganz kosten- und barrierefrei hier im netz veröffentlicht mit verschieden umfangreichen zugangsmedien, wo man sich dann ganz direkt mit diesem einzelschicksal - vielleicht dann eben auch in der eigenen familie, gemeinde, verwandtschaft - beschäftigen kann.

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Die Nacherzählung - und ihre Tücken


ganz zufällig fand ich in der google-suche einen hinweis auf dieses neu erschienene e-book von bernd mollenhauer: "die peitsche", wo er auf den abschnitten/seiten 339 - 341 dankenswerter weise auch von meiner tante erna kronshage berichtet.

aber - anders als andere autoren, die textpassagen oder anregungen von "erna's story" verwenden und veröffentlichen, hatte sich bernd mollenhauer nicht mit mir in irgendeiner weise zur abfassung seines textes in verbindung gesetzt.

und heraus kommt dann dabei folgende "erna-version", die ich hier mal ungekürzt wiedergeben möchte:


mollenhauer hat sich wohl nicht meiner original-texte bedient, die ja leicht im internet unter dem stichwort "erna kronshage" zu finden wären, sondern er gibt als seine quellen in der fußnote 248 die definition der begriffe "t4" und "euthanasie" bzw. die deutsche ns-mordanstalt "tiegenhof" (heute dziekanka) bei gniezno in polen an, wo erna ermordet wurde.

okay - im großen und ganzen hat mollenhauer das martyrium meiner tante in seiner tragik sicherlich erfasst und textlich zusammengefasst.

doch wurde eigentlich ohne jeden grund eine damalige 13-köpfige landfamilie mit elf  kindern mal einfach als "streng katholisch" umgetauft, weil mollenhauer wohl den hier in der ravensberger senne die der lutherischen erweckungsbewegung geschuldeten evangelischen familien eine solche große kinderzahl nicht zumutete. die gegend hier war glaubensmäßig lutherisch-protestantisch fest verankert - und so auch familie kronshage. 

erna's vater kronshage
mit seiner lieblingskuh
jedoch wurde erna als letztes der elf kinder ja 1922 geboren, wo es mit den verhütungsmethoden noch nicht so weit her war - und die kinderanzahl sich damals immer noch auch als die umfassende qualität einer "lebensversicherung" für die alten darstellte, damit sie als senioren noch umfassende hilfe und betreuung hatten (altersheime und siechenhäuser waren noch rar) - kinderreichtum galt auch als äußerlicher "reichtum" - eben nicht als "prekaritär" konnotiert wie heutzutage - und nur die "studierten" hatten wenige kinder...

jedoch war das alles in diesem falle eine "milchmädchen-rechnung", denn da die jungen 1939 zur wehrmacht an die front eingezogen wurden - und die älteren schwestern bereits dem elternhaus entwachsen waren, blieb die minderjährige erna mit ihren über 40 jahre älteren und kränklichen eltern allein mit ihnen mit der last der hofbewirtschaftung zurück. 

diesen umstand hat der (also evangelische!) vater in seinen protestbriefen zum zwangsanstaltsaufenthalt in gütersloh und zur zwangssterilisation mehrfach als grund für die entlassungsforderung seiner tochter erna vehement und mehrfach genannt (sie sind alle im memorial blog reproduziert).und auch die von mollenhauer völlig aus der luft gegriffene unterstellte "verehrung" vater kronshages für den "führer" - sogar als "guter nationalsozialist" (und "katholik") ist hiermit auf's schärfste zurückzuweisen. das hat sich mollenhauer einfach aus den fingern gesaugt.                
                    
vater kronshage, also mein opa und ernas und meiner mutter vater, ließ seine eingaben und proteste gegen die behandlung, die zwangssterilisation und die internierung in der anstalt gütersloh wohl vom nachbarn, einem von der nsdap suspendierten spd-gemeindemitarbeiter formulieren und heimlich mit der schreibmaschine tippen, denn solche abfassungen und eine solche schreibhilfe, wie sie im memorial-blog abgebildet sind, war im kotten der kronshages nicht vorhanden und es gab auch keine mittel, um gar einen rechtsbeistand zu bezahlen.

vater kronshage hatte bis zum 12.12.1943 - also bis zum 21. geburtstag - bis rund 2 monate vor der ermordung ernas in dziekanka/"tiegenhof" - das volle sorgerecht und das umfasste auch das aufenthaltsbestimmungsrecht für seine tochter.

insofern war das festhalten in gütersloh besonders nach der erfolgten sterilisation im august 1943 reine schikane und vielleicht eine retourkutsche zu den protestbriefen - und weil der landeshauptmann vom provinzialverband den anstalten die anweisung gegeben hatte, das ehemalige "insassen" auch auf antrag nicht zu entlassen und ggf. festzuhalten seien, da diese "anbrüchigen" (sic!) personen sonst mit ihrem verhalten womöglich in den luftschutzkellern panik auslösen könnten ... 

stattdessen entledigte man sich ihrer dann mit deportation in die mordanstalten, besonders auch im okkupierten ausland.

wer also unbeschadet das ns-euthanasie-tötungs-protokoll in seinen nicht unwichtigen exakten verschiedenen ansprüchen genügenden varianten und nuancen studieren möchte, dem sei diese umfassende multimediale link-sammlung empfohlen wo frau & man sich per click  informieren kann

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Also lese und sehe - und erzähle es weiter ... - damit aus diesen Nacherzählungen zwar Deine - aber "richtige" - Nacherzählungen werden können... 
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inzwischen schrieb mir bernd mollenhauer folgende mail:

Sehr geehrter Herr Wieand!  
Besten Dank für Ihre Mail. Ich bin immer froh und dankbar, wenn aufmerksame Leser mich auf unrichtige Darstellungen aufmerksam machen. Und für das falsch wiedergegebene Glaubensbekenntnis der Erna Kronshage kann ich mich nur in aller Form entschuldigen. Die Korrektur werde ich sofort in die Druckvorlage einpflegen. Bitte haben Sie aber etwas Geduld, bis die Korrektur wirksam wird. Aufgrund der technischen Vorgaben seitens der Druckerei, die auch das E-Book hergestellt hat, kann dieser Vorgang einige Tage in Anspruch nehmen. Sollten Sie also noch weitere sachliche Mängel in Bezug auf Erna Kronshage feststellen, bitte ich darum, mir dies umgehend mitzuteilen. 
Mit den besten Grüßen 
Bernd Mollenhauer

- und hier noch der Link zum dann in Kürze überarbeiteten Buch 

Euthanasie - vor 80 Jahren begann das NS-Mordprogramm

Weiter Weg ins Gedächtnis der Gesellschaft

Vor 80 Jahren begann mit dem „Euthanasie“-Programm das erste große Vernichtungsprojekt des NS-Staats

Text von Christoph-David Piorkowski | Tagesspiegel, Donnerstag 29. August 2019, Nr. 23929, S. 25 Wissen & Forschen


Elisabeth Willkomm - Foto aus: www.gedenkort-t4.eu



  • Die Brandenburgerin Elisabeth Willkomm leidet seit Beginn der 1930er Jahre an wiederkehrenden Depressionen. Aufgrund einer heftigen Episode wird die 29-Jährige im Oktober 1942 nach kurzem Aufenthalt im Krankenhaus in eine „Heil- und Pflegeanstalt“ überwiesen. Vier Tage später ist sie tot. Die Ärzte erklären eine Herzmuskelschwäche zum Grund ihres plötzlichen Versterbens.
Stolperstein für Elisabeth Willkomm
In Wahrheit ist Elisabeth Willkomm eine von zahllosen Patienten und Patientinnen, die im Zuge der
sogenannten „wilden Euthanasie“ in den Krankenhäusern Nazideutschlands umgebracht wurden. Denn auch nach dem vermeintlichen „Euthanasie-Stopp“ vom August 1941 wurde die groß angelegte Ermordung von körperlich, geistig und seelisch beeinträchtigten Menschen still und leise weitergeführt.

Bis Kriegsende haben Ärzte und Pflegepersonal mittels Nahrungsentzug und der Überdosierung von Medikamenten Leben, die sie „lebensunwert“ fanden, nach eigenem Ermessen beendet. In Polen und in der Sowjetunion mordeten die Schergen der SS zahllose Heime und Krankenhäuser leer. Die „nationalsozialistischen Krankenmorde“ reichen also bei Weitem über die etwa 70 000 Menschen hinaus, die unter der Ägide der Zentraldienststelle „T4“ in der Berliner Tiergartenstraße in sechs eigens eingerichteten Tötungsfabriken vergast wurden. Nach aktuellen Expertenmeinungen sind im Reichsgebiet und in Osteuropa mehr als 300 000 Personen Opfer der „Euthanasie“ geworden.

In diesen Tagen liegt der Auftakt des Verbrechens 80 Jahre zurück. 

In einem auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierten Schreiben verfügte Hitler die unter dem Euphemismus des Gnadentods firmierende „Vernichtung unwerten Lebens“. Historiker gehen heute davon aus, dass die Krankenmorde stärker ökonomisch als „rassehygienisch“ motiviert waren.
  • „Das maßgebliche Kriterium, das über Leben und Tod entschied, war die Arbeitsfähigkeit“, sagt der Münchner Psychiater und Euthanasie-Forscher Michael von Cranach. 
So wollte man sich die Versorgungskosten für jene Menschen sparen, die man zur Last für den „Volkskörper“ erklärte.

Mit der „Aktion T 4“, der zentral organisierten Ermordung von Kranken mit Kohlenmonoxid, verfolgten die Nazis aber noch andere Ziele. So gilt die Aktion als Testphase für die sich daran anschließende Judenvernichtung. Doch nicht nur die Durchführung der zentralen „Euthanasie“, auch ihr jähes Ende im August 1941, hat unmittelbar mit der Shoah zu tun. Von Cranach sagt, der sogenannte „Euthanasie-Stopp“ sei nur zum Teil mit der Empörung zu erklären, die in Teilen von Kirche und Gesellschaft bestand. Nicht zuletzt sei „T4“ auch deshalb gestoppt worden, weil man das in Organisation und Durchführung von massenhaften Tötungen nunmehr geschulte Personal für den aufwendigeren Holocaust brauchte.

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Am 1. September 2019 jährt sich nicht nur das erste groß angelegte Vernichtungsprojekt der Nationalsozialisten, sondern auch das zentrale Gedenken an die Opfer.
  • Seit fünf Jahren gibt es in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte, am Ort der einstigen Schaltstelle des Verbrechens, den Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde. 
Hinterbliebene und überlebende Opfer haben auf einen zentralen Gedenkort lange warten müssen. Auch deshalb begeht der Förderkreis Gedenkort T4 am morgigen Freitag gemeinsam mit verschiedenen Stiftungen und Verbänden das kleine Jubiläum mit einem Festakt ab 10 Uhr.

Das späte Gedenken an die Euthanasie „hängt sicher auch damit zusammen, dass psychisch kranke Menschen in der Gesellschaft keinen leichten Stand haben“, sagt von Cranach. Der Psychiater hat viel zur Aufarbeitung der NS-Krankenmorde beigetragen. Gemeinsam mit anderen Sozialpsychiatern und Medizinhistorikern sorgte er in den 80er-Jahren dafür, dass die deutsche Psychiatrie sich der Vergangenheit stellt. Denn nach 1945 gab es keine Zäsur. Der Großteil des „Euthanasie“-Personals wurde unbehelligt von jedweder Bestrafung weiter in den Kliniken beschäftigt.
  • Von Cranach erklärt, dass nicht nur zentrale Akteure, sondern auch die Narrative der NS-Psychiatrie noch lange unvermindert fortwirkten. Weit stärker als in den USA oder in England habe in den „Anstalten“ bis mindestens Ende der 70er-Jahre ein autoritärer und menschenverachtender Geist geherrscht.
Die katastrophalen Zustände einer entsozialisierenden „Verwaltungspsychiatrie“ verbesserten sich in den 80er-Jahren im Zuge der Psychiatriereform. Man dürfe sich aber nicht darauf ausruhen, sagt Michael von Cranach.
  • Aufgrund ihrer Verstrickung ins Verbrechen müsse die Institution der Psychiatrie ganz besonders für die Würde des Einzelnen einstehen. Und nicht nur die Behandlung, auch das Gedenken müsse auf den einzelnen Menschen zugeschnitten sein. 
Am Berliner Gedenkort in direkter Nachbarschaft der Philharmonie werden die Opfer nicht als abstrakte Gruppe repräsentiert. Sie werden als jene Individuen erinnert, als die sie aus dem Leben gerissen wurden. Nur so finden Menschen wie Elisabeth Willkomm einen Weg ins Gedächtnis der Gesellschaft.
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Seit 1986 recherchiere ich das NS-"Euthanasie"-Leidensporträt meiner Tante Erna Kronshage (*1922), die zunächst nach ihrer (Selbst-)Einweisung mit der fraglichen Diagnose "Schizophrenie" nach Ein- und Widersprüchen dann zwangssterilisiert werden musste nach erbobergerichtlichem Beschluss in zweiter Instanz, dann deportiert wurde, und schließlich am 20.02.1944 in der Nazi-"Euthanasie"-Vernichtungsanstalt "Tiegenhof"/Gnesen (polnisch: Dziekanka/Gniezno - heute Polen) ermordet wurde. 

Mein "Leitbild" vor 30 Jahren zu Beginn meiner Archiv- und Literaturforschungen und Aufarbeitungen war sicherlich getragen von den Leitsätzen und dem Wollen der "68er"-Generation insgesamt, in die ich hineingeboren wurde - und die diese Vorkommnisse in der Nazi-Zeit nicht mehr mit dem Mantel des Verschweigens zudecken wollte (Autoren: Ernst Klee, Götz Aly, Michael Wunder, Heinz Faulstich u.a.) - die die personale Mittäterschaft der Elterngeneration nicht länger infrage stellte.

Ich fand eine allmählich einsetzende - "formal-statistische" - "Sediment-Ablagerung" dieser rund 300.000 "Euthanasie"-Opfer vor - und dieses allgemeine - auch politisch-historisch und institutionelle Ablagern und Totschweigen all dieser Einzelopfer, für die sich zunächst kaum eine "Gedenk- und Erinnerungslobby" stark machte.

In diesen Zusammenhang passt ein nachdenkenswertes Zitat, das sowohl Stalin, Tucholsky aber auch Remarque zugeschrieben wird:

"Der Tod einer Person
 ist eine Tragödie, 
 aber der Tod von 300.000 
 ist eine Statistik."

Also aus diesem statistisch zahlenmäßig abgehakten Ablagerungs- und Verdrängungs-Sediment will ich mit der Rekonstruktion und Nacherzählung des Leidensporträts meiner Tante Erna Kronshage eben  e i n e n  winzigkleinen Krumen herauspuhlen und ihm nachgehen - beispielhaft für die anderen 299.999 - von denen vielleicht bis heute insgesamt 400 - 500 Einzelbiografien bekannt und publiziert sind - also gut ein Promille.

ERNA KRONSHAGE - click here
Ich sehe mich mehr als themenbezogene Begleitperson und als Lotse in Wort und Bild für einen gemeinsamen "Trip" in die Welt Erna Kronshages, vor allem natürlich der 484 Tage von ihrer Einweisung in die Provinzialheilanstalt Gütersloh - die just dieser Tage als psychiatrisches LWL-Klinikum heute auf ihr inzwischen 100-jähriges Wirken in jeder Hinsicht zurückblicken kann - bis zu ihrem gewaltsamen Tod - mit dessen ungeheuerlichen und auch zufälligen Begleitumständen - sowie all den aktiven und passiven Akteuren, die daran letztendlich mitgewirkt haben und beteiligt waren ... 

Es geht bei der Aufarbeitung all dieser Leidensporträts nicht um die unbotmäßige "Kultivierung eines deutschen Schuldkomplexes" (wie die Afd das inzwischen bezeichnet) - sondern immer noch um die notwendigen Freilegungen längst verdrängter Mordtaten an nicht stromlinienförmig zu integrierenden Menschen mitten aus Familie, Verwandtschaft oder Nachbarschaft, die man als "unnütze Esser" ablehnte und vernichtete, weil deren Leistungsfähigkeit nicht den Normen einer selbsternannten politisch-ideologisch extrem verqueren "Elite" entsprachen.

Und deshalb möchte ich auch den mir nachfolgenden Generationen zumindest virtuell den kurzen Lebensweg Erna Kronshages näherbringen als exemplarisches Beispiel dafür, mit wieviel (Mit-)Täterschaft und Verstrickungen letztlich so ein Mord vorsätzlich und doch auch hinter vorgehaltener Hand ganz stickum verübt wurde - nicht von einem Einzeltäter oder irgendwelchen Monstern, sondern kleinteilig fragmentiert - step by step - von einem verirrten Regime mit all seinen tumben Mitläufern, von Menschen wie du und ich: von Verwandten, Nachbarn, Beamten, Ärzten, NSV- und Ordensschwestern und Diakonissen, und dem Pflegepersonal in den Anstalten und Vernichtungskliniken unter Mitwirkung von Busfahrern, Lokomotivführern usw. - und all die Mitläufer und Gaffer, die es damals auch schon gab.

Und erschreckend beispielhaft zeigt diese Ermordung meiner Tante, wie rasch sich das alles - unter ganz anderen Prämissen - wiederholen kann, wenn "Verantwortung" und "Moral"  und "Ehrfurcht vor dem Leben" geteilt, zergliedert und fragmentiert wird.

Also lese und sehe - 
und erzähle es weiter ... - 
damit aus diesen Nacherzählungen 
Deine Nacherzählungen werden können... 

Sicherlich gibt es dabei neuere Pack-Enden anzufassen, aber wir dürfen all diese Opferschaft nicht einfach zum Sediment herbsinken und versteinern lassen - sondern in fruchtbaren lebendigen Humus umwandeln ...

Da werden dann die unschuldigen Opfer oft im Nachhinein immer noch als ein sorgsam gehütetes "Familiengeheimnis" konsequent abgeschottet, eingeschweißt, abgelegt, abgeheftet und möglichst stickum vertuscht und verleugnet - wodurch jedoch diesen Opfern immer noch keine angemessene Würde und Pietät zugestanden wird ... 

Die betroffenen Familien schweigen sich in der Regel aus, spalten ab, verdrängen und vergessen - oder wissen einfach inzwischen von nichts mehr ...

Ein weiteres - vielleicht verwandtes - Phänomen greift immer mehr Platz: Ein Phänomen, das die Psychoanalyse "Transgenerationale Weitergabe" von unverarbeiteten oder ungenügend verarbeiteten Kriegserlebnissen nennt. 

Auch die Kinder und die Enkel und Urenkel - also ganz biblisch ausgedrückt: "bis ins 3. und 4. Glied" - "leiden" oft genug noch unbewusst an den oft furchtbaren Traumata-Erlebnissen, die der Bombenkrieg, die Vertreibung, der Nazi-Holocaust oder eben auch die von Nazis und der NS-Psychiatrie zu verantwortende Vernichtung "unwerten Lebens" mit all ihren Gräueltaten mit sich bringen ... Oft sind das Nuancen, ein unbewusstes Schaudern oder eine Unfähigkeit - Ängste, die bei besonderen Situationen plötzlich "wie aus dem Nichts" kommen, eigenartige Traumsequenzen usw. -

"Das Vergessen der Vernichtung
 ist Teil 
 der Vernichtung selbst"

so hat es Harald Welzer in Anlehnung an Jean Baudrillard allerdings erst in unseren Tagen formuliert: Das Vergessen des Grauens ist also von den NS-Tätern, vom damaligen faschistischen System, implizit mitgedacht und haargenau mit geplant und einkalkuliert worden - war quasi Sinn der Vernichtungsaktionen: Vollständige und totale "Ausmerze" und konsequentes restloses "Niederführen" - diese faschistischen Unworte schließen ja eine endgültige "Tilgung" mit ein...

Vergangenes ist ja niemals tatsächlich Aus, Schluss und Vorbei: die Biografie der inzwischen 90-jährigen Schauspielerin Lieselotte Pulver heißt deshalb auch richtigerweise: "Was vergeht ist nicht verloren"... - sicherlich mit einem positiver gemeinten Ansinnen: Vergangenes bleibt und es ist - immer wenn wir es aufsuchen und damit kultivieren und integrieren in unser kollektives Bewusstsein...

Dem gewaltsamen Ableben meiner Tante Erna Kronshage im Februar 1944 werde ich Stück für Stück weiter nachspüren, soweit mir das je "bis zur Wahrheit" gelingen wird - noch "blinde Flecken" werde ich zeit- und forschungsgemäß aktualisieren... Und ich werde mich empören über das von ihr erlittene Unrecht.



in fakes verrannt

click here  oder in "Spiegel" Nr. 23/2019, S. 112 ff. lesen ...


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Die NEUE WESTFÄLISCHE schreibt am 03.06.2019 auf ihrer "Kultur/Medien"-Seite dazu:
Skandal: Die deutsche Bloggerin Marie Sophie Hingst hat wohl gar keinen Großvater, der Auschwitz-Häftling war. Holocaust-Opferbögen hat sie gefälscht
Jüdische Familie frei erfunden

Sie galt als engagierte Kämpferin für Holocaust-Opfer, ihr Opa war angeblich in Auschwitz. Sie moderierte Podiumsdiskussionen für den Förderkreis des Berliner Holocaust-Denkmals, engagierte sich bei der Jewish Society ihrer Universität und meldete sogar die Namen von 22 angeblichen Holocaust-Opfern bei der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Doch nun wird bekannt: Die erfolgreiche deutsche Bloggerin Marie Sophie Hingst, die in Dublin lebt, hat ihre jüdische Familiengeschichte frei erfunden.

Wie der Spiegel berichtet, hat die promovierte Historikerin gar keine jüdische Verwandtschaft. Ihr Großvater war evangelischer Pfarrer und nicht, wie angegeben, Auschwitz-Häftling.

Hingst habe 22 gefälschte „Pages of Testimony“, sogenannte Opferbögen, in Yad Vashem eingereicht, die den Eindruck erwecken, dass große Teile ihrer Familie im Holocaust umgekommen seien. Unterlagen des Stadtarchivs zeigen allerdings, dass die Bloggerin aus einer evangelischen Familie stammt. Von den angeblichen Holocaust-Opfern haben wohl nur drei wirklich gelebt, schreibtDer Spiegel. Darüber hinaus hat Hingst in ihrem Blog mehrmals behauptet, dass sie eine Slumklinik in Neu Delhi gegründet und dort eine Sexualberatung für junge indische Männer angeboten habe. Seit 2016 habe sie in einer Arztpraxis auch syrische Flüchtlinge in Deutschland beraten, wie sie bei Zeit Online unter dem Pseudonym Sophie Roznblatt behauptet hatte.

Die Berliner Historikerin Gabriele Bergner war auf den Fall aufmerksam geworden. Mit einer Anwältin, einem Genealogen und einem Archivar hatte sie sich über die Unstimmigkeiten in Hingsts Blogeinträgen ausgetauscht. Mitarbeiter des Stralsunder Stadtarchivs haben gegenüber demSpiegelvon „falschen Identitäten“ gesprochen. Aus der Stadt sollen acht der angeblichen Holocaust-Opfer aus Hingsts Familienumfeldherstammen. Bis auf einige Namen, seien die Umstände frei erfunden gewesen. Die Stralsunder Behörden haben das Auswärtige Amt nun gebeten, die Gedenkstätte Yad Vashem zu informieren, dass die von Hingst eingereichten Formulare wohl gefälscht seien.

Die Chefredaktion von Zeit Online zeigt sich erschüttert. „Nach derzeitigem Stand müssen wir davon ausgehen, dass die in unserem Beitrag geschilderten Ereignisse weitgehend falsch sind“, schreibt die Chefredaktion in ihrem Blog Glashaus. „Die Autorin hat Teile ihrer Biografie erfunden, andere verfälscht, und mit großem Aufwand jahrelang öffentlich vorgetäuscht, eine Person zu sein, die sie nicht ist.“ So nutzte Hingst offenbar die Identität einer verstorbenen Person, um in deren Namen E-Mails an die Redaktion zu schreiben. Selbst Teile ihres engeren Umfelds würden ihren Schilderungen bis heute glauben, so die Chefredaktion. Zeit Online habe die Autorin mit den Recherchen konfrontiert, sie möchte sich allerdings derzeit zu den Vorwürfen nicht äußern.

Dem Spiegel teilte Hingst über einen Anwalt mit, dass die Blogeinträge „ein erhebliches Maß an künstlerischer Freiheit für sich in Anspruch“ nähmen. „Es handelt sich hier um Literatur, nicht um Journalismus oder Geschichtsschreibung.“ Berühmt wurde Hingst durch ihren Blog „Read on my dear, read on“. In den vergangenen Jahren erhielt sie zahlreiche Würdigungen für ihre Arbeit.

2017 wurde sie von den Goldenen Bloggern zur „Bloggerin des Jahres“ gewählt, bei der Preisverleihung warb sie, mit leiser Stimme und bescheidenem Auftreten, für eine Freilassung von Deniz Yücel, dem sie Postkarten ins Gefängnis geschickt haben soll. Im letzten Jahr erhielt sie für einen Essay den „Future of Europe“-Preis der Financial Times.

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es ist schlimm, dass es menschen gibt, die sich mit der not und dem gewaltsamen opfergang erfundener menschen regelrecht "schmücken" und aufmotzen wollen oder müssen, um auf- und ansehen zu erheischen - die dazu holocaust-opfer aus der eigenen familie einfach erfinden und hinzudichten - und denen es scheinbar spaß macht, ihre follower und user in den dazu betriebenen einschlägigen lügenblogs - und in diesem fall sogar noch mit der überschrift "read on my dear, read on" - zu täuschen, in denen sie ihre so bewusst erdachten lügen verbreiten und sich mit echter anteilnahme "bedauern" und mit preisen dafür "feiern" lassen - und nach dem auffliegen sagen: "was regt ihr euch auf - das ist doch alles als erdachte literatur gemeint gewesen"...

das spiel mit identitäten, mit rollen und masken ist ja uralt - und gerade auch in der "darstellenden" kunst: im theater und im film sowieso - und wenn ich zur biennale nach venedig blicke, bespielt den deutschen pavillon dort eine dafür nominierte künstlerin, die sich "natascha süder-happelmann" nennt, ja auch mit "falschen identitäten" und wechselnden namen und trägt einen pappmaschee-steinkopf, um ihr "antlitz" darunter zu verbergen, und spricht nicht selbst sondern lässt stellungnahmen verlesen...

hinter solchen strategien verbirgt sich oft im kern für mich auch immer etwas von "sich-nicht-stellen-können", von "dahinter-verstecken" und von verantwortungsverweigerung und verdrängung - von "tauber nuss"...

als eigenständige kunstform ist das ja vielleicht im digitalen heutzutage und hier & jetzt als "spiel" noch akzeptabel - und theater und film leben ja vom rollenspiel der darsteller - aber im historisch-urkundlichen real-bereich führt man damit das in der verfassung ja besonders gehütete, im alltag aber auch gern inflationär benutzte und oft nur vorgeschobene grundrecht des persönlichkeitsrechts mit dem damit verbundenen "persönlichkeitsschutz" meines erachtens ad absurdum: jeder legt sich dann bald mehrmals wechselnd ungekennzeichnet seine identitäten zurecht, die ihm gerade zupass kommen - und wechselt die je nach "stimmung" wie die kleidung - im internet ist das ja schon lange gang und gäbe: "wer bin ich - und wenn ja wie viele?" lautete der titel von precht schon vor über 10 jahren - und jetzt haben wir dazu den identitäts-schnipsel-"salat". und ein paar migranten tragen drei oder vier verschiedene gekaufte oder erkungelte identitätspapiere bei sich, mit verschiedensten fantasie-namen und geburtsdaten...

doch im spiel mit (er- und gefundenen) identitäten balanciert man auch gemeinhin immer auf dem drahtseilakt zwischen "genie & wahnsinn" entlang: wenn das rollenspiel pathologisch ausartet und man wie in der schizophrenie den inneren identitätshalt ganz verliert oder vergisst und nicht mehr aufgefangen wird - und nicht mehr weiß, wer man ist: so lässt sich in den psychiatrie-diagnosen zum verhalten von frau hingst auch eine "artifizielle störung" ausmachen, die man treffend mit "münchhausen-syndrom" bezeichnet - aber ein solches verhalten gibt es ansatzweise auch bei der "borderline"-persönlichkeitsstörung (bps). doch ich will hier nun nicht laienhaft herumstochern - denn mit einer einschlägigen diagnose würde ja frau hingst sogar noch entlastet - etwa im sinne von "sie konnte ja gar nicht anders"...

besonders wütend bin ich darüber, dass sie damit auch den leuten der rechts-populistischen couleur in die hände spielt, die schon lange die kolportierte opferzahl der shoah öffentlich in zweifel ziehen - und damit das tatsächliche opferleid all der nazi-morde verunglimpfen - und die ja sowieso schon "fake news" hinter jeder ecke vermuten und "lügenpresse" krakeelen - und diesen "fall" jetzt sicherlich "nutzen" für ihre thesen.

da macht diese frau tatsächlich ihren echten abschluss als historikerin und erfindet sich dann für die eigene familie und person ihre "familien-historie", um damit falschen eindruck zu schinden - leute an der nase herumzuführen und falsche preise für die blogs einzusammeln - und: falsches mitleid ... : das ist für mich im wahrsten sinne des wortes einfach nur bodenlos "niederträchtig".

insgesamt erinnert dieses gebaren für mich schon an den "fall relotius", wo ein spiegel-redakteur ein großteil seiner veröffentlichten recherchen einfach erfunden hat, ebenfalls um eindruck zu schinden und preise einzuheimsen.

okay - hochstapler hat es immer gegeben - auch menschen mit eigenartigsten macken: aber dass man mit erfundenen leiden und falschen massenmord-leichen einfach nur eindruck schinden will, ist für mich schon einigermaßen pervers und höchst makaber. 

im kurzen spiegel-video dazu wird ja auch vermutet, dass es eben milieus gibt, gerade auch da wo diese frau hingst lebt und gelebt hat, wo man damit eindruck schinden konnte und kann und zuwendung bekommt. frau hingst hatte 240.000 follower für ihre blogs, die mit ihren erstunkenen und erlogenen "münchhausen"-geschichten mitfieberten...

und mit den in meinen memorial-blogs veröffentlichten seriösen recherchen tatsächlicher familiengeschichtlicher fakten  zur "erna-story", dem ns-euthanasiemord-protokollen meiner tante erna kronshage, fühle ich mich durch solche falsche und spinnerte "forschungs-kolleg*in", die auch noch akademische abschlüsse als anscheinend "echte" historikerin vorweist, aufs höchste diskreditiert.

gut, dass ich von anfang an mit meinen schon in die 80er jahre zurückreichenden recherchen dann vor gut 10 jahren direkt an die öffentlichkeit gegangen bin - und die relevanten echt vorhandenen beurkundungen dieses opferschicksals erst verschlüsselt, dann aber bald schon mit klarnamen, jeweils in den blogs und magazinen mit reproduziert habe - so dass sie sich von jederfrau oder jedermann in den angegebenen auch amtlichen quellen jederzeit tatsächlich auch verifizieren und überprüfen lassen.

bei diesen von den nazi's und allen beteiligten und deren helfern wie am fließband industriell und kleinteilig aber zum kriegsende hin immer weniger bürokratisch betriebenen massentötungen mit anschließender vernichtung der unterlagen dazu, ist dazu eine äußerst diffizile puzzle-arbeit vonnöten.

einiges an bildmaterial in den magazinen habe ich jeweils dann gekennzeichnet, wenn es lediglich der reinen symbolhaften situations- und milieu-illustration dienen soll - eben auch weil "ein bild mehr sagt als 1000 worte", und weil man bis ende der 40er jahre - und dann auch im krieg - wenig an einschlägigen bildmaterialien erstellt und schon gar nicht dokumentiert hat bzw. erstellen konnte, im vergleich zum schon fast inflationären digitalen "knipsen" z.b. mit dem smartphone heutzutage.

und doch ist natürlich die bildliche darstellung in der geschichts(be)schreibung zum holocaust und zu den kranken- und nazi-morden gerade für junge menschen heutzutage besonders aufschlussreich, weil man viele alltägliche gegebenheiten und das jeweilige milieu aus der damaligen zeit erst im bild plausibel nachvollziehen kann.

gerade die "story" um erna kronshage ereignete sich ja darüberhinaus auch an der schwelle vom endgültigen niedergang des lokalen ländlich weitläufigen acker-milieus - hin zu einer urbanen und industriellen allgemein-entwicklung, die man besonders auch hier in der lokalgeschichte von ernas geburtsort senne II hin zur "sennestadt" und jetzt als südlicher randstadtteil von bielefeld bildlich und ideell mit nachvollziehen muss, wenn man das opferschicksal ernas auch an diese flankierenden, auf die psyche und werte einer heranreifenden jungen frau aber einwirkenden geschehnisse mit "be-greifen" und einigermaßen nachvollziehen will.

click zu dem "fall hingst" auch hier - und hier ... 


judith kerr ist tot . "als hitler das rosa kaninchen stahl"

Kinderbuchautorin

Judith Kerr ist gestorben

Die Autorin Judith Kerr verarbeitete ihre Vergangenheit im nationalsozialistischen Deutschland in Jugendbüchern wie "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl". Im Alter von 95 Jahren ist sie nun gestorben.

Die deutsch-britische Kinderbuchautorin Judith Kerr ist tot. Sie sei im Alter von 95 Jahren gestorben, teilte ihr Verlag HarperCollins in London mit. Ihr in Deutschland wohl berühmtestes Buch ist "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", in dem sie die Geschichte ihrer Flucht mit ihrer jüdischen Familie aus Nazideutschland über die Schweiz und Frankreich nach England erzählt.

In London absolvierte Kerr die Kunsthochschule. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete sie zunächst als Lehrerin und Textildesignerin in Großbritannien. Von 1953 bis 1958 war sie als Redakteurin und Lektorin in der britischen Rundfunkgesellschaft BBC angestellt. Dort lernte sie auch ihren späteren Mann Nigel Kneale kennen. Sie waren bis zu seinem Tod im Jahr 2006 verheiratet.

Quelle: SPIEGEL-online


allseits bekanntes buch cover - ravensburger



Porträt von Judith Kerr

"Ich hatte so ein unglaublich glückliches Leben"

Ihr Vater war der Kritiker der Weimarer Republik, sie selbst lehrte Kinder zu begreifen, was Nationalsozialismus bedeutet. 2016 besuchte der SPIEGEL Judith Kerr in London. Lesen Sie den Bericht - anlässlich ihres Todes mit 95 Jahren.

Von Claudia Voigt | SPIEGEL

Autorin und Zeichnerin Kerr - sinedi|art-bearbeitung nach einem Foto von Olivier Hess/ DER SPIEGEL

  • Der folgende Artikel erschien im SPIEGEL 37/2016. Wir zeigen ihn anlässlich des Todes von Judith Kerr in unveränderter Form.

Den schönsten Satz sagt Judith Kerr an diesem sonnigen Vormittag in London ganz nebenbei: "Ich hatte überhaupt so ein unglaublich glückliches Leben." Kerr ist 93 Jahre alt, doch sie wirkt 10, 15 Jahre jünger. Darf man einer Dame, die auf die hundert geht, ein solches Kompliment machen? Kerr lacht. Es ist ein tiefes, rollendes Lachen. "Ich arbeite viel", sagt sie, "das hilft."

Sie lebt in einem viktorianischen Reihenhaus südlich der Themse, das sie vor langer Zeit mit ihrem Mann Nigel Kneale bezogen hat. Nichts Herrschaftliches, sondern eher das Abbild ihres Lebens. Eine verwitterte Gartenpforte; ein Sofa, auf dem schon viele gesessen haben; an den Wänden hängen Erinnerungen, Bilder, die ihre Tochter Tacy gemalt hat, Fotos, die ihren Sohn Matthew auf Weltreise zeigen.

Als die beiden noch Kinder waren, Anfang der Siebzigerjahre, beschloss Judith Kerr, dass sie ihrem Sohn und ihrer Tochter von damals erzählen müsse. Von ihrer eigenen Kindheit, von ihrer Flucht aus Deutschland, von ihren Erlebnissen im Exil. Sie wollte beiden Kindern auch eine Erinnerung an die verstorbenen Großeltern mitgeben, an Julia und Alfred Kerr.

Bevor sie ihre Geschichte aufschrieb, erzählte sie ihrem Mann, der Drehbuchautor war, was sie schreiben wollte.

Das Buch sollte im Winter Anfang 1933 in Berlin beginnen, im Haus in der Douglasstraße, in dem es ein rotes Zimmer gab, mit einem ausgestopften Seehund darin, und einen Salon mit einem Blüthner-Flügel, auf dem ihre Mutter spielte und komponierte. Sie erzählte von ihrem Vater, der Grippe hatte und deshalb ausnahmsweise mal nichts schrieb, von der Rodelbahn im Grunewald - und dass ihr Vater eines Morgens nicht mehr da war. Verschwunden nach Prag. In der Schule mussten sie und ihr Bruder Michael behaupten, der Vater sei noch krank.

Die Mutter begann zu packen; der Abschied vom Hausmädchen Fräulein Heimpel; die Zugfahrt in die Schweiz; aber dort dann das Wiedersehen mit dem Vater. Sie hatte ihrem Mann noch gar nicht von dem prächtigen Sommer in Küsnacht am Zürichsee erzählt und auch nicht von der Ankunft der ganzen Familie gut ein Jahr später in Paris. Paris! Der Blick vom Arc de Triomphe, "als stände sie im Mittelpunkt eines riesigen, funkelnden Sterns". Ihr Mann sagte: "Du kannst nicht nur darüber schreiben, wie interessant deine Kindheit war. Hitler muss auf der ersten Seite stehen." Hitler - den hätte Judith Kerr beinahe vergessen. "Ich habe ihn dann auf die zweite Seite genommen."

Zu Beginn des Gesprächs hatte Judith Kerr vorgeschlagen, deutsch zu sprechen. "Ich habe nicht so oft die Möglichkeit, und ich spreche gern deutsch." 83 Jahre sind vergangen, seit sie das Land verlassen musste, doch ihr Deutsch ist lebendig, ohne jeden Akzent, und im Laufe der zweistündigen Begegnung fehlt ihr nur zwei-, dreimal das passende Wort. Der Begriff "Holz hacken" fällt ihr nicht ein, als sie davon erzählt, dass sie Zweifel beschlichen, nachdem sie das Manuskript ihres Buches fertiggestellt hatte. "Wissen Sie, in Kinderbüchern ist es ja meist so, dass Eltern Helden sind. Wenn furchtbare Schwierigkeiten auftauchen, können die Eltern alles lösen, meist sind sie geschickt, die Mutter kann Kleider nähen und kochen, und der Vater kann Holz hacken und Feuer machen. Meine Eltern waren doch ganz anders. Und ich dachte mir, darf ich das überhaupt schreiben?"

Cover von "When Hitler Stole Pink Rabbit", 1971 - Kerr Kneale Productions Ltd

Sie gab ihrem Buch den Titel "When Hitler Stole Pink Rabbit", denn sie hat es auf Englisch geschrieben. Nicht nur ihre Kinder Tacy und Matthew haben durch diese Geschichte von den Anfängen der Nazizeit erfahren und vom Schicksal der aus Deutschland vertriebenen Juden. "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" ist eines der besten Jugendbücher, die jemals geschrieben wurden. Sieben Millionen Mal hat sich der autobiografische Roman bis heute verkauft. Ergreifend und klar erzählt Kerr, wie sich die Katastrophe der Zeit in das Leben einer jüdischen Familie gräbt. Das Buch kommt ohne Pathos aus, für viele junge Leser begann durch diese Lektüre die Auseinandersetzung mit der Nazizeit.

"Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" 
ist eines der besten Jugendbücher, 
die jemals geschrieben wurden. 


Nachdem der Roman 1973 in Deutschland erschienen war, wurde Kerr zu Lesungen und Gesprächen eingeladen. Bis heute erinnert sie sich an ein junges Mädchen, das sich zu Wort meldete und fragte: Was ist ein Konzentrationslager? Kerr erkannte am Blick des Mädchens, dass es die Antwort genau wusste. "Sie wollte, dass ich vor ihrer Mutter von Konzentrationslagern spreche. Seltsam war das."

Es war nie Kerrs Absicht, Einfluss auf die Erziehung und das Denken jüngerer Generationen zu nehmen. Die Rolle der erzählenden Zeitzeugin ist ihr zugewachsen, sie hat sie akzeptiert, auch wenn ihr die Fragen zur Vergangenheit manchmal zu viel werden. Immer wieder die Nazis.

Eigentlich sei sie Zeichnerin und Illustratorin, in England ist Judith Kerr bekannt für den Bilderbuch-Klassiker "Ein Tiger kommt zum Tee" und für die Figur des Katers Mog, über dessen Abenteuer sie verschiedene Geschichten gezeichnet hat. Nun veröffentlicht Kerr in Deutschland ein neues Kinderbuch, sie hat es geschrieben und illustriert, "Ein Seehund für Herrn Albert" heißt es, die Widmung lautet: "Für meinen Vater, auf dessen Balkon einmal ein Seehund wohnte".

Dass Judith Kerr die Tochter Alfred Kerrs ist, des Schriftstellers und Feuilletonisten, der im Berlin der Zwanzigerjahre mit einem einzigen Artikel Karrieren beginnen oder beenden konnte, hat andere immer mehr beeindruckt als sie selbst. Mit Gelassenheit nimmt sie hin, dass alles, was sie schreibt und sagt, immer auch als Ergänzung zu seinem Leben betrachtet wird. Doch im Laufe der Jahre ist es ihr zu einer Herzensangelegenheit geworden, die Erinnerungen an ihren Vater wachzuhalten. Er starb 1948 in Hamburg, wo er zum ersten Mal nach dem Krieg wieder eine deutsche Theateraufführung besucht hatte.

Judith Kerr war eine Vatertochter, die Nähe zu ihm war größer als die zu ihrer Mutter, sein Einfluss auf sie war prägender. Sie erinnert sich gut, wie er einmal eine Tierzeichnung von ihr mit den Worten lobte: "Für mich ist das das Lamm aller Lämmer." Es hat sie ermuntert und bestärkt, dass er sagte: "Du hast Talent." Aber sie war eben seine Tochter, kaum zehn Jahre alt, Anfang 1933, während der letzten Monate in Berlin, gerade mal Teenager, als die Familie Ende 1935 von Paris nach London zog. Der berühmte Alfred Kerr erhielt im Exil so gut wie keine Aufträge mehr und war in großer finanzieller Bedrängnis.

Sie hat das Leben damals nur aus kindlicher Perspektive wahrgenommen. Manchmal hat sie ihren Vater nachts gehört, der unruhig schlief und unruhig träumte, sie wollte ihm helfen, aber über die Ursachen seiner Albträume habe sie sich keine Gedanken gemacht.

Später hat sie verstanden, wie sehr ihre Eltern sich bemühten, die grenzenlose Not der Familie vor den Kindern zu verbergen. "Mein Bruder und ich, wir fanden es wunderbar in der Schweiz, in Paris. Erst scheint es, man versteht kein Wort von dem, was jemand sagt, und plötzlich kann man diese Sprache sprechen, und es ist eine wunderbare Sprache. Ganz anders als Deutsch. Diese Erfahrung. Es war so interessant. Ich soll zu meinem Vater gesagt haben: ,Ist es nicht herrlich, Flüchtling zu sein?'"

Ist es nicht herrlich,
Flüchtling zu sein?

Doch als die Familie nach England kam und die wirtschaftliche Situation auch hier nicht besser wurde, verließ Julia und Alfred Kerr die Kraft; die wachsende Hoffnungslosigkeit war nun auch für die Kinder zu spüren.

In diesem Herbst erscheint ein mehr als 600 Seiten umfassendes Buch über Alfred Kerr, sein Titel lautet schlicht: "Alfred Kerr. Die Biographie". Die Autorin Deborah Vietor-Engländer hat Briefe, Kritiken, Reden, Manuskripte und Verse Kerrs zusammengetragen. Eindringlich belegen die Texte, wie sehr Kerr sein Dasein als streitbarer Feuilletonist in Berlin genoss; wie früh er verstanden hat, welche brutale Kleingeistigkeit die Nazis antrieb; wie bodenlos sein Absturz war, nachdem er Deutschland verlassen musste.

Aus der Zeit in Paris 1934/35 gibt es Dokumente, die zeigen, dass die Neugier, mit der das Mädchen Judith die ersten Jahre der Flucht erlebte, auf ihren Vater zurückgeht. Auf die Haltung, mit der er dem Schicksal Exil begegnete. Alfred Kerrs wichtigstes Vermächtnis an seine Tochter war offensichtlich Lebensmut. "Haben wir die Pflicht, traurig zu sein – bloß weil in

Deutschland traurige Burschen am Ruder sind? Blüht uns schon der Nachteil der Verbannung: Da sollen wir auch noch ,Verbannung' repräsentieren? Nicht im Traum!" An Albert Einstein gerichtet schreibt Kerr: "Ich möchte jedoch (der Kinder wegen, wovon die Tochter so vieles verspricht) ungern versinken." Ein anderes Mal - auch in Paris - notiert er: "Am wenigsten betroffen bin ich selber: weil ich das nicht will." Doch dieser Wille wurde während der Jahre in England auf eine sehr harte Probe gestellt.

Judith Kerr hat die Biografie gelesen, und obwohl sie manche Quellen schon vorher kannte, fand sie die Lektüre "erschütternd". "Ich habe nicht gewusst, dass mein Vater im Exil zum ständigen Bittsteller wurde."

Dass Alfred Kerr ein verantwortungsvoller Vater war, der versuchte, seine Kinder, so gut es ging, gegen die katastrophalen Erfahrungen des Exils abzuschirmen, ist ein Wesenszug, von dem niemand wüsste ohne die Erzählungen seiner Tochter. Auch wenn die Recherchearbeit der Biografin Vietor-Engländer beeindruckend ist, die Fülle an Material, die sie zusammenträgt - nach der Lektüre erscheint Kerr als intellektueller Egozentriker, wirklich lebendig wird er zwischen den vielen Zeilen nicht. Judith Kerr ist die Stimme, die von seinen menschlicheren Seiten erzählt.

Nun hat sie eine Art Alterswerk vorgelegt, das nicht nur ihrem Vater gewidmet ist, sondern dessen Hauptfigur auch seine Züge trägt. Sie hat die Geschichte in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg angesiedelt: Albert Cleghorn, ein ehemaliger Kioskbesitzer, dem die Tage im Ruhestand endlos lang erscheinen, entschließt sich, zu seinem Vetter William an die See zu fahren. Bei einem Bootsausflug nimmt Albert einen jungen, verwaisten Seehund an Bord, fest entschlossen, das junge Tier zu retten. Albert fährt zusammen mit dem Seehund zurück in die Stadt, die Zugfahrt verbringen sie in einem Gepäckwagen.

Im Nachwort zu dem Buch erzählt Judith Kerr, dass die Geschichte bis zu diesem Punkt einer Begebenheit aus dem Leben ihres Vaters gleicht. Nach einem Aufenthalt in der Normandie brachte auch Kerr einst einen Seehund mit nach Berlin, fütterte ihn mit Milch und hielt ihn einige Tage auf dem Balkon seiner Wohnung. Als der Berliner Zoo ablehnte, den Seehund zu übernehmen, musste er eingeschläfert werden. Kerr ließ den toten Seehund präparieren, später saß er auf dem Boden des roten Zimmers in der Douglasstraße. Manchmal hat Judith Kerr ihn gestreichelt. Im Sommer 1933 wurde der ausgestopfte Seehund, wie nahezu alle Besitztümer der Familie Kerr, von den Nazis beschlagnahmt.

Judith Kerr sagt, sie wisse nicht, warum sie im hohen Alter nun diese Erzählung geschrieben und auch illustriert habe. "Obwohl ich die Geschichte immer kannte, habe ich eigentlich nie daran gedacht, darüber ein Buch zu machen." Es ist eine Erzählung geworden, die nichts mit Hitler zu tun hat, nichts mit Flucht und nichts mit dem Krieg.

Das Buch liegt ihr besonders am Herzen. Sie wird sich noch einmal nach Berlin aufmachen, um es dort vorzustellen. Über Berlin sagt sie, dass ihr die Stadt heute wieder gefalle. Und doch bleibt sie immer nur kurz, höchstens ein oder zwei Nächte, dann zieht es sie zurück nach London. "Ich fühle mich wohler, wenn ich wieder zu Hause bin."

Vor vielen Jahren hat ihr Mann sie überredet, länger in Berlin zu bleiben und ihm die Orte ihrer Kindheit zu zeigen. Das Haus in der Douglasstraße sei heute doppelt so groß wie früher, aber die Eingangstreppe, die sei noch dieselbe. Sie hat ihrem Mann auch den Bahnhof Grunewald gezeigt, weil sie oft mit ihrem Bruder hinging, um die Nummern von Zügen zu notieren. "Wir haben das gern gemacht, ich weiß nicht, warum." Als sie mit ihrem Mann an den Bahnhof kam, wies eine Tafel darauf hin, dass Zehntausende Juden von Grunewald aus deportiert wurden.

"England ist vollkommen meine Heimat", sagt Judith Kerr. Seit über 80 Jahren lebt sie in diesem Land, über fünf Jahrzehnte war sie "wunderbar glücklich" verheiratet. Ihr Mann starb vor zehn Jahren, seitdem ist die Arbeit ihr Trost, seitdem kann sie jeden Tag in der Woche so viele Stunden arbeiten, wie sie möchte. Im vergangenen Winter waren Judith Kerr und der von ihr erfundene Kater Mog die Stars eines Weihnachts-Werbespots der Firma Sainsbury's. So vieles ist geschehen, seit sie Deutschland verlassen musste. Was für ein langes Leben. Was für ein Leben.


  • Claudia Voigt, geboren 1966, arbeitet seit fast zwanzig Jahren für den SPIEGEL. Sie erinnert sich noch gut daran, wie sie zum ersten Mal Judith Kerrs Roman "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" las. Damals war sie etwa zehn Jahre alt. Die Lebensfreude, die aus dem Buch spricht, obwohl es darin um Flucht und Exil und Faschismus geht, hat sie schon als Kind beeindruckt. Vor einigen Jahren nahm sie das Buch wieder zur Hand, um es ihrem Sohn vorzulesen. Seitdem hatte sie den Wunsch, Judith Kerr persönlich zu treffen. Als sie der 93-Jährigen in deren Haus in London gegenüberstand, war sie gerührt und verstand, wie prägend Judith Kerrs Geschichte für ihr eigenes Leben war.

Quelle: SPIEGEL-online archiv


in meiner ausbildung hatten wir auch das fachschul-fach: "methodik und didaktik der kinder- und jugendliteratur", wo wir kursteilnehmer uns wechselseitig mit der entsprechenden literatur vertraut machten - und uns dann gegenseitig ein referat zum selbtgelesenen erarbeiteten buch vortrugen, wobei das referat dann natürlich benotet wurde.

das war ein äußerst interessantes und spannendes fach für mich, denn neben der geschichte und dem dargestellten, mussten auch die illustrationen und die "kindgerechte" sprache im weiteren sinne beurteilt werden, ohne natürlich "kindisch" herüberzukommen - und gleichzeitig war die literaturzusammenstellung auch ein brauchbares pädagogisch wertvolles kompendium damals - auch im sinne des 68er zeitgeistes - und damit für die spätere arbeit "vor ort"...

dabei habe ich zum ersten mal von judith kerr's "als hitler das rosa kaninchen stahl" gehört - und war ganz beeindruckt - und machte mir eine notiz, dieses buch eben auch in der "praktischen" arbeit später zu verwenden, zum kennenlernen und bearbeiten mit kindern und jugendlichen.

mich hat aber auch das geburtsjahr von judith kerr beeindruckt - 1923 - denn damit war sie nur ein jahr jünger als meine tante erna, über deren ns-euthanasie-leidensporträt ich damals anfing zu recherchieren und zu forschen. und im laufe der jahre musste ich immer wieder daran denken, dass erna jetzt ungefähr genauso alt sei wie judith kerr, und dass es im grunde ja - wenn man so will - ebenfalls hitler war, der ein zusammentreffen der beiden frauen auf seine art und weise verhindert hat - sie hätten freundinnen werden können - unter normalen umständen - wenn auch zwischen judith kerr's welt in berlin und erna's welt auf dem bauernhof in der senne in gewisser weise "welten" lagen.

aber aufgrund des "rosa kaninchens" habe ich oft daran gedacht, was erna wohl aufgeschrieben hätte - in ein virtuelles tagebuch von ihrer 484-tage-tortur - zu ihrem viel zu kurzen leben ... - und noch heute träume ich davon, dass "erna's story" mal als eine "graphic novel" für kinder und jugendliche bearbeitet wird, damit ihr euthanasie-mordprotokoll als junge jugendliche frau nicht in vergessenheit gerät.

zeichnung von judith kerr aus ihrer "autobiographie"


die zeichnungen von judith kerr hätten sich dazu sicherlich angeboten - und sie hätte als "zeitgenossin" sicherlich ein tiefes einfühlungsvermögen für eine solche skizze - auch in ihrer dramatik - gehabt.

judith kerr wird nun diesen meinen traum als autorin und zeichnerin einer "erna's story graphic novel" nicht mehr verwirklichen können.




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