"
Posts mit dem Label Erna Kronshage werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Erna Kronshage werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

NEU: ERNA'S LEIDENSPORTRÄT als 10-min. Youtube-Video - und als 114-seitiges Yumpu Bildmagazin -

Das neue Youtube-Video - für einen Überblick - oder für Info-, Kurs- und Unterrichtszwecke:



... und zum schauen und blättern im eigenen Lektüre- und Arbeitstempo (click):

weitere Videos zum Thema sind in der YouTube-Playlist abrufbar (click):

& click here & here

»mein lachen ist weinen« - online-magazin zum blättern zu erna kronshage - in einfacher sprache

»mein lachen ist weinen« - 

erna kronshage: einweisung. schocktherapie. erbgerichtsverfahren. zwangssterilisation. deportation & ns-euthanasie-ermordung - 

online-magazin zum blättern
blick in das online-magazin zu erna kronshage zum blättern - in einfacher sprache - click

für unterrichtszwecke und auch zum weitererzählen unter unterschiedlichsten bedingungen kannst du es auch downloaden...

gedenktag an ein ss-kriegsverbrechen: vor 75 jahren wurde walter barking hinterrücks hingerichtet

75 jahre nach 1945: da gibt es vielerorts jetzt anlässe des gedenkens an das ende des krieges und der befreiung von kz's, gefangenenlagern und vieles mehr.

ein besonders perfides stück kriegsgeschichte geschah vor 75 jahren - hier fast direkt vor der haustür, zumindest aber damals vor der deelentür meiner oma - die ja ein jahr zuvor ihre tochter erna kronshage beerdigen musste als ein mordopfer der ns-krankenmorde - und die auch 4 monate später ihren mann verlor, der an seinem asthma starb, was sich seit diesem tod seiner 21-jährigen tochter verstärkt hatte. 

also direkt vor erna kronshages geburtshaus, dem pachtgehöft der kronshages - nähe bahnhof kracks - an der heutigen beschrankten kreuzung verler straße / sender straße / krackser straße, geschah so kurz vor kriegsende (am 4.april 1945) hier im raum bielefeld eine solche fatale und provinziell-verrückte kurzschluss-handlung:


Der schließlich ausgebrannte Königstigerpanzer als Kriegs-Mahnmal in Senne I


Ein fataler Fehlschuss

Bielefeld, das ist für Walter Barking nicht mehr als eine Zwischenstation. Der 25-jährige stammt aus Bocholt, seine Frau wohnt in Sende bei Schloß Holte, und genau dahin zieht es den Soldaten nach seiner Entlassung aus dem Bethel-Lazarett Eckerdsberg. Wo sich seine Einheit befindet, weiß Barking nicht, er ist ein Versprengter, der Anschluss sucht, wie so viele in jenen Tagen. Am Krackser Bahnhof begegnen ihm SS-Männer, die ihn zunächst für einen Deserteur halten. Nach Überprüfung seiner Papiere drücken sie ihm eine Panzerfaust in die Hand und geben ihm den Auftrag, sie auf einen feindlichen Panzer abzufeuern. Walter Barking bezieht Stellung auf dem Anwesen des Kaufmanns Karl Freitag. Dieser hatte schon in der Frühe einen amerikanischen Panzerspähwagen gesehen. Gegen 8 Uhr rollt tatsächlich ein Panzer aus Schloß Holte kommend heran. Barking nimmt Deckung hinter einem Kaninchenstall, zielt und drückt ab. Das Geschoss streift den Turm des Panzers, zwei Männer, die auf dem Panzer sitzen, sterben.

Barking erkennt sogleich seinen Irrtum. Er hat auf einen deutschen Königstiger geschossen, 70 Tonnen schwer, zehn Meter lang. Und die Besatzung merkt sogleich: Das war kein amerikanisches Panzergeschoss, sondern eine Panzerfaust, die nur die Deutschen benutzen. Barking ergreift die Flucht, wird jedoch wenig später aufgespürt und zunächst verprügelt. Dann führt man ihn in ein nahe gelegenes Waldstück. Der 14-jährige Sohn der Familie Freitag beobachtet, wie Barking stürzt und dann hinterrücks erschossen wird. Ein ganzes Magazin feuert ein SS-Mann auf den Soldaten ab.
[einschub sinedi: dieser damals 14-jährige sohn der familie freitag - inzwischen hochbetagt - hat mir vor einiger zeit als zeitzeuge bei einem besuch erzählt, dass seine nachbarin erna kronshage ihm beim lesenüben und beim üben von diktaten geholfen habe - und dass er auch ende februar 1944 den güterwagen auf dem bahn-abstellgleis hat stehen sehen, in dem der sarg mit ernas leiche aus gniezno/gnesen zur beisetzung direkt bis quasi vor den bauernhof der kronshages, ernas geburtshaus, rangiert worden ist...]
Map-Ausschnitt beschrankte Kreuzung Senne II: am roten Punkt hat
Walter Barking mit der SS-Panzerfaust gestanden -
oben halb links der "Mühlenkamp", Erna's Geburtshaus 
Etwa eine Stunde braucht die Panzerbesatzung, um den Königstiger wieder flott zu bekommen, dann fahren sie in Richtung Elbrechter Hof. Dort gerät der Königstiger unter amerikanischen Beschuss und in Brand, ohne auch nur einen Schuss abgegeben zu haben. Bis auf einen Mann, der sich verletzt retten kann, kommt die Besatzung ums Leben. Erst Tage später werden die verkohlten Leichen geborgen, der zerstörte Königstiger steht noch lange zwischen dem Bahnhof Kracks und Windelsbleiche, bis er zerlegt und fortgeschafft wird.

Quelle: WESTFALEN-BLATT vom 01.04.2020 - S.11 - Sonderseite zum Einmarsch der Amerikaner in Bielefeld vor 75 Jahren - Autor: Heinz Stelte WB - Infos auch auf Seiten des Bielefelder Stadtarchivs


Befreiung des Stalag 326 - Stukenbrock

DAS AMERIKANISCHE PRESSEFOTO ZEIGT DEN TAG DER BEFREIUNG DES STALAG 326 IN STUKENBROCK-SENNE AM 2. APRIL 1945 DURCH DIE US-AMERIKANER. 2015 HAT BUNDESPRÄSIDENT JOACHIM GAUCK DEN AUFTRAG ERTEILT, DAS SCHICKSAL DER MENSCHEN AUS DEM ERINNERUNGSSCHATTEN ZU HOLEN. FOTO: ARCHIV DER GEDENKSTÄTTE STALAG 326 (VI K) SENNE



Das Ende des Grauens

Befreiung des Stalag 326 jährt sich zum 75. Mal

Von Monika Schönfeld | WB

Schloß Holte-Stukenbrock. Sie sahen aus wie von den Toten auferstanden: verwahrloste Männer, abgemagert, krank, schmutzig, gehalten wie Tiere. Was die Soldaten der zweiten US-amerikanischen Panzerdivision am 2. April 1945 am Rande des Truppenübungsplatzes in Stukenbrock vorfanden, ließ ihnen den Atem stocken. An diesem Tag wurde das größte Lager der Wehrmacht für sowjetische Kriegsgefangene und Verschleppte im Gebiet des damaligen Deutschen Reiches befreit.




In der Zeit zwischen 1941 und 1945 durchliefen etwa 300.000 Gefangene das „Stalag 326“ zur Musterung von Zwangsarbeit im Ruhrbergbau, auf Höfen und in Fabriken. Schätzungen zufolge starben bis zu 65.000 aufgrund der katastrophalen Lagerbedingungen, in dem nah gelegenen Lazarett Staumühle (Hövelhof, Kreis Paderborn) und den Arbeitskommandos. Die Toten wurden in Massengräbern einen Kilometer entfernt verscharrt – auf dem heutigen Sowjetischen Ehrenfriedhof.

Nach den Juden waren sowjetische Kriegsgefangene mit mehr als drei Millionen Toten die zweitgrößte Opfergruppe der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Diese „vergessene Gruppe“ aus dem Erinnerungsschatten zu holen, ist der Auftrag, den vor fünf Jahren der damalige Bundespräsident Joachim Gauck erteilt hat. Er war zum 70. Jahrestag des Kriegsendes zur Gedenkveranstaltung in Stukenbrock und hat die erste der Stelen enthüllt, die die Namen der bisher knapp 16.000 identifizierten Toten tragen.

„Es gab einige Projektteams, die bereits in den 1990er-Jahren zu den sowjetischen Kriegsgefangenen geforscht haben. Im Expo-Jahr 2000 haben wir versucht, den Bekanntheitsgrad des Stammlagers aufzuwerten“, sagt Oliver Nickel, Geschäftsführer der Gedenkstätte Stalag. Während die Gräueltaten in Konzentrationslagern bekannt sind, weiß kaum jemand etwas über die Kriegsgefangenenlager. »Die Bedingungen in dem Lager haben sich eigentlich nicht sehr von denen in einem KZ unterschieden«, sagt Oliver Nickel. Auf dem Papier war das Stalag 326 (VI K) ein Kriegsgefangenenlager. Es unterstand nicht der SS, wie die Konzentrationslager, sondern der Wehrmacht. Es war auch kein Vernichtungslager, wie zum Beispiel Auschwitz, wo die Juden in die Gaskammern geschickt wurden. „Ich habe aber mit ehemaligen Gefangenen gesprochen, die sagten: ‚Was für die Juden Auschwitz war, war für uns Stukenbrock‘“, erzählt Nickel.

Seit 1996 gibt es die Dokumentationsstätte Stalag 326 im Arrestgebäude des ehemaligen Lagers, am Original-Schauplatz. Denn das Gelände des Stalag war nach dem Krieg zwei Jahre lang Internierungslager für Wehrmachtsoffiziere, von 1948 bis 1970 wurden die alten Baracken weiter genutzt, um hier Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten aufzunehmen, später DDR-Flüchtlinge und Spätaussiedler. Das „Sozialwerk Stukenbrock“ wurde von verschiedenen Organisationen getragen, hatte Kinder- und Altenheime, Theater, Geschäfte und war damit eine Stadt innerhalb der Stadt. 1970 ist die Bereitschaftspolizei eingezogen, heute ist das Gelände „Polizeischule“ – der offizieller Name lautet Landesamt für Aus- und Fortbildung der Polizei und Personalangelegenheiten NRW. Die Hoheit der Polizei auf dem Gelände schützt die Gedenkstätte, macht sie aber auch schwer zugänglich.

Um die Gedenkstätte Stalag 326 zu einem internationalen Bildungs- und Begegnungsort zu entwickeln, hat sich nach dem Gauck-Besuch ein Lenkungskreis unter der Leitung des Landtagspräsidenten André Kuper gebildet. Das Land Nordrhein-Westfalen, die Landeszentrale für politische Bildung und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe als obere Denkmalbehörde und Museumsträger wollen die kleine und bisher überwiegend ehrenamtlich geführte Gedenkstätte ausbauen. Der Förderverein der Gedenkstätte hat gemeinsam mit der Polizei und Privatleuten einen Fundus von Gegenständen wie Strohkörbchen und geschnitzten Holzlöffeln gesammelt, die die Kriegsgefangenen angefertigt haben, um sie gegen Brot zu tauschen. Es gibt Filmmaterial, Fotos, die der Lagerarzt gemacht hat, aber auch bei Bauarbeiten im Aushub gefundene Schuhe, Blechnäpfe, Löffel. Diese Fundstücke aus Ausgrabungen haben Archäologen des Landschaftsverbandes vergangenes Jahr dokumentiert.

Angelaufen ist die wissenschaftliche Aufarbeitung mit ei­nem Symposium und dem inzwischen dritten Workshop. Parallel ist eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben worden. Die Technische Hochschule OWL hat eine Synopse geliefert, Masterstudenten haben 2019 Ideen für ein Besucherzentrum auf dem Gelände vorgestellt. Das soll die denkmalgeschützten Gebäude (Arrestgebäude, Entlausung, Lagerkirche, Lagerstraße und Sozialwerksbaracken) und das historische Umfeld mit dem Bahnhof Hövelhof, dem Lazarett Staumühle, dem Russenpatt, der Waschstelle an der Ems mit dem Ehrenfriedhof sowjetischer Kriegstoter einbeziehen.

Bis zum 31. Juli soll der Antrag auf eine Anschubfinanzierung des Bundes gestellt sein. Bis Ende des Jahres geht es um eine neue Trägerstruktur, an der sich Stadt, Kreis, Land und Bund beteiligen, in der der Förderverein der Gedenkstätte aber einen festen Platz behalten wird.


click here

Text aus: WESTFALEN-BLATT, 01.04.2020, Seite 3

________________________________________________



auch im studien- und memorialblog für erna kronshage habe ich im abschnitt 7: "bomben auf senne II" (7-4) vom lager stukenbrock berichtet, weil ja im bahnhof kracks, direkt vis-á-vis dem bauernhof, auf dem erna kronshage lebte und arbeitete bis zu ihrer einweisung nach gütersloh, die russischen gefangenen manchmal mit den transportzügen ankamen - und dann zum lager marschieren mussten (ca. 15 kilometer) bzw. von dort zu ihren einsatzorten abfuhren oder ankamen - oder auch in der nachbarschaft auf höfen als zwangsarbeiter eingesetzt waren:
Ab dem 10.07.1941 bis zum Kriegsende wurde das Lager STALAG 326 (VI K) Senne in Schloß Holte-Stukenbrock mit vielen Tausend russischen Kriegsgefangenen belegt, die auch teilweise in der Landwirtschaft verstreut in der Senne und wahrscheinlich in der nahegelegenen Eisen- und Stahlgießerei Tweer am Krackser Bahnhof eingesetzt wurden. Fast täglich fuhren also Gefangenentransporte in Güterwagen der Reichsbahn auf den Gleisen des Bahnhofs Kracks in unmittelbarer Sichtweise am Mühlenkamp vorbei. 
Jedenfalls berichteten Zeitzeugen aus Senne II immer wieder von den "Marschkolonnen" der Gefangenen, von einzelnen Leichen, die am Rand der Schienen abgelegt wurden auf der Strecke der Sennebahn bis Hövelhof - und von verzweifelten Lebensmittelerbettelungen dieser zerlumpt und ausgemergelt daherkommenden jungen Männer, die zunächst dort im Lager in Erdhöhlen "hausen" mussten unter den unmöglichsten hygienischen Bedingungen die Seuchen und Verlausungen auslösten - fern jeder Bestimmungen der "Genfer Kriegskonvention".  
Ca. 65.000 tote Kriegsgefangene wurden von 1941-1945 auf dem Lagerfriedhof in Stukenbrock begraben - zum Teil in Massengräbern (Stichwort: "Blumen für Stukenbrock")...  
aus: erna-k-gedenkblog, Abschnitt 7 (7-4) (Bildquelle: ARCHIV DER GEDENKSTÄTTE STALAG 326 (VI K) SENNE)
"Für die Bevölkerung der Senne gehörten die Kriegsgefangenenzüge sehr bald zum Alltag und wurden kaum mehr registriert, da sie mit ihren Sorgen genug zu schaffen hatten. In der Erinnerung haftengeblieben sind nur noch die über das 'normale' Elend hinausgehenden Transporte der Jahre 1941/42 ..." (aus: Karl Hüser/Reinhard Otto | Das Stammlager 326 (VI K) Senne 1941-1945, Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld, 1992 - S. 48). 
Der Anblick dieser gezeichneten jungen Männer hat in Erna Kronshage bestimmt nachgewirkt und ihr die Schrecken des Krieges zusätzlich traumatisch vor Augen geführt. Gleichzeitig stieg mit diesen Bildern auch die Angst um ihre Brüder, die als Soldaten an der Ostfront ihren Dienst versehen mussten...

die zahl des tages: 75.000



"Es ist keine Routine geworden"

Gunter Demnig verlegt 75.000. Stolperstein


Seit Jahrzehnten verlegt der Alsfelder Künstler Gunter Demnig sogenannte Stolpersteine zur Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus. Jetzt hat er seinen 75.000. Stein vergraben. Im Interview erzählt er, was ihn antreibt - und was passierte, als bei einer Aktion einmal Neonazis aufmarschierten.

Gunter Demnig ist viel unterwegs in diesen Tagen. Im Dezember reiste er an 17 Tagen durch Deutschland. Der 72-jährige Künstler verlegt sogenannte Stolpersteine. Sie erinnern an Menschen, die im Nationalsozialismus ermordet und verfolgt wurden. Die Steine tragen die Namen der Opfer und werden vor den ehemaligen Wohnhäusern der Opfer in den Boden eingelassen. Anfang der 90er Jahre startete Demnig sein Projekt. Mittlerweile liegen in bundesweit 1.265 Kommunen Stolpersteine.

Den 75.000. Stein klopfte Demnig am vergangenen Sonntag im bayerischen Memmingen in den Gehweg. Am Montagmorgen war er schon wieder zurück im heimischen Alsfeld (Vogelsberg). In wenigen Tagen bricht er mit Kelle und neuen Steinen auf zu einer großen Reise durch Italien. In insgesamt 21 europäischen Ländern hat Demnig schon Stolpersteine verlegt. hessenschau.de sprach mit ihm über sein Projekt.

hessenschau.de: Sie haben gerade Ihren 75.000. Stolperstein verlegt. Fast immer tun Sie das selbst - das klingt nach sehr viel Stress.  

Gunter Demnig:  Das ist völlig normal inzwischen, im letzten Jahr war ich an 270 Tage unterwegs. Gerade im Ausland finde ich es wichtig, dass ich das selbst mache. In Oslo war ich schon zehn Mal. Aus dem Ausland melden sich oft Angehörige, die davon gelesen oder gehört haben und sagen, bei uns war die Oma oder Uroma betroffen und sie möchten einen Stolperstein. Wir geben das dann zurück an die Städte, weil die Initiative aus den Orten kommen muss. Der nördlichste Stein liegt noch nördlich von Hammerfest in Norwegen auf einer winzig kleinen Insel. Der Mann wurde denunziert.

hessenschau.de: Sie reisen nicht nur mit der Kelle durchs Land und verlegen Steine. Sie treffen auch viele der Nachkommen der Opfer. Was passiert da?

Gunter Demnig: Oftmals sitze ich am Abend davor mit den Angehörigen zusammen beim Essen und man tauscht Gedanken aus. Was bei meiner Arbeit am Ende übrig bleibt, ist eine sehr große Dankbarkeit für dieses Projekt. Die meisten der Opfer haben weder ein Grab noch Grabsteine und jetzt gibt es wenigstens einen Ort der Erinnerung. Und, was mir wichtig ist, laut dem Talmud ist ein Mensch vergessen, wenn sein Name vergessen ist, das hatte mir der Rabbi von Köln in den 90er Jahren mit auf den Weg gegeben. Das war einer der Hauptgründe, warum ich das Projekt begonnen habe.


Gunter Demnig (72), Künstler, hat in Memmingen den 75.000. Stolperstein verlegt. Die Namensplatten in Bürgersteigen erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus. „Und wenn die Knie mal nicht mehr mitmachen, dann komme ich eben mit meinem Rollator und meinem eingebauten Hammer und verlege die Steine so“, sagt Demnig. -
sinedi-illustration nach einem dpa-foto - text-sequenz: nw


hessenschau.de: Hätten Sie Anfang der 90er gedacht, dass Sie im Jahr 2019 den 75.000sten Stein verlegen?

Gunter Demnig: Überhaupt nicht. Ich habe mit ein paar hundert, vielleicht tausend Steinen gerechnet. Dass es solche Dimensionen annehmen würde, hätte ich mir nicht träumen lassen. Für mich war es anfangs Konzeptkunst. Im Jahr 1992 erschien das Buch "Kunstprojekte für Europa" mit dem Untertitel "Größenwahn". Da dachte ich: meine Idee passt da gut rein. Mittlerweile ist für mich das Interesse von Jugendlichen wichtig. Die Erfahrungen an Schulen sind zum größten Teil sehr toll und positiv.

hessenschau.de: Sie haben in diesem Jahr in Frankfurt den 1.500sten Stein verlegt. Wir wissen, dass in der Stadt sehr viel mehr Menschen deportiert und ermordet wurden. Kann Ihre Arbeit überhaupt ein Ende haben? Und werden Sie das Reisen manchmal müde?

Gunter Demnig: Das, was zurückkommt, entschädigt für vieles. Ich kann aber nicht sagen, dass es Spaß macht. Denn der Anlass ist ja kein Grund zur Freude. Es ist keine Routine geworden. Das Einsetzen der Steine, klar, das kann ich zur Not im Dunkeln machen.

Ganz besonders wichtig sind mir die Treffen mit Schulklassen. Wenn Angehörige der Opfer dazukommen, werden die Schüler neugierig: Sie wollen wissen, wie konnte so etwas im Land der Dichter und Denker passieren? Wenn die nur von sechs Millionen Toten lesen, dann ist das eine abstrakte Zahl.

Wir hatten zum Beispiel mal Kontakt mit einem Geschichtsleistungskurs aus der Nähe von Hildesheim, der am Ende selbst einen Antrag auf Stolpersteine stellte. Der Stadtrat fiel damals aus allen Wolken. Ich habe ihm gesagt: Es kann doch gerade nicht besser sein, wenn gerade Schüler so etwas machen.

hessenschau.de: In den 90er Jahren wie auch heute ist rechtsextreme Gewalt ein großes Thema. Immer wieder werden auch Stolpersteine aus dem Boden gerissen. Sind Sie wegen Ihrer Arbeit schon mal bedroht worden?

Gunter Demnig: Drei Morddrohungen in 20 Jahren, damit kann ich leben. Bei der Verlegung von Steinen sind Neonazis nur ein einziges Mal aufmaschiert, bei Leipzig. Das ist schon eine Weile her und die hatten keine Springerstiefel an, sondern Schlips und Kragen. Sie verlangten, dass ich auch etwas für gefallene deutsche Soldaten machen sollte. Ich habe damals zu ihnen gesagt: "Machen Sie das doch selbst, gründen Sie einen Verein und gehen Sie zum Bürgermeister - ich mache derweil weiter."

Mit Gunter Demnig sprach Sonja Süß.

Quelle: hessenschau.de







mir bleibt dazu nur einfach danke zu sagen an gunter demnig und sein großartiges europaweites stolperstein-netzwerk mit 75.000 knotenpunkten: und statt vieler extra worte - hier ein transkribiertes schüler-interview zum ns-euthanasie-leidensweg meiner tante erna kronshage und dem stolperstein dazu, den gunter demnig am 06.12.2012 hier in sennestadt unweit ihres letzten wohnortes verlegt hat - also auch einer der 75.000 knotenpunkte dieses netzwerkes:


clicken & blättern


deportation 1943: erleuchtetes gedenken

gedanken zum november-deportations-gedenken





ja - sagt der gnom zur königstochter
- wenn du meinen namen errätst - 
darfst du dein kind behalten ...

wenn sich lettern aus licht auftun
sich tanzend begegnen nach all den jahren
sich anmachen - sich auspreisen - nicken
und finden sich zu namen und setzen
sich jeweils einen ⚪ (punkt) davor
eintausendsiebzehn mal -
punkt für punkt: 
eine beeindruckende strecke
für jagdaufseher und wachmänner
für lokomotivführer und fahrdienst
leiter: sprosse für sprosse 
hochgeklettert und verstrickt
auch mit der pharmaindustrie
bis in die grauen busse bis auf die rostigen
schienen: herford hannover berlin frankfurt
anderoder warthegau poznan gniezno
allüberall die roten backsteinbauten
mit desinfektionsgeruch und einer prise urin in der nase -
und den feuchten laken
verknuddelt auf besudelten matratzen
von der gelben suppe betört 
und draußen: all die särge
und all die krähen auf den fichten
und all die spinnweben
die spinnweben
die gebuddelten löcher
in denen sand rieselt
beim ablassen der seile
der alten seilschaften
der alten netzwerke
da - da kräht der blaue rabe
und streckt sich
raschelt mit dem gefieder
eh ihn die katz holt ...

sinedi

_______________________

Für die Durchführung der Deportations-Transporte am 12. November 1943 in weiter östlich gelegene Tötungsanstalten teilte die "Gekrat" (eine Tarnorganisation für Deportations-Transportlogistik mit "Grauen Bussen" und der Reichsbahn in die "Euthanasie"-Tötungsanstalten  - nun nicht mehr wie ursprünglich in Berlin, Tiergartenstaße 4 - sondern in "Hösel bei Ratingen/Rhld." - jetzt als Unterabteilung einer effizienten "Eingreiftruppe" für die Lazarettbetten-Beschaffung... - direkt dem Generalkommissar für das Reichgesundheitswesen Prof. Dr. Karl Brandt unterstellt) am 28. Oktober unter dem Original Gekrat-Stichwort "Sonderaktion Brandt" mit:
"Sehr geehrter Herr Direktor Hartwich! Zum Abtransport Ihrer Kranken hat mir die Reichsbahndirektion für den 12. November einen Sonderzug zusammengestellt. Es gehen am 12.11.43 fünfzig Kranke nach Meseritz, fünfzig Männer und fünfzig Frauen nach Gnesen und hundert Frauen und vierzig Männer nach Warta b. Schieratz. Der Sonderzug läuft bis Posen und wird dort aufgeteilt. Er geht abends um ca. achtzehn Uhr in Hamm ab. Ich werde noch versuchen, den Zug in Gütersloh abfertigen zu lassen, ob es möglich ist, weiß ich noch nicht. Genauere Nachrichten übermittle ich Ihnen noch telefonisch, am Termin ändert sich nichts mehr. Die restlichen fünfzehn Kranken für Bernburg werden im Laufe des Novembers, nach vorheriger Verständigung mit Ihnen abgeholt und per Autobus nach Bernburg gebracht. Heil Hitler! gez.Sawall."
Die Sterberate dieser Transporte lag bis 1945 bei 80 - 90 % - Erna Kronshage wurde genau 100 Tage später, am 20.02.1944 in der Vernichtungsklinik Tiegenhof bei Gnesen ermordet.

In der Klinikkirche Gütersloh leuchten jetzt die Namen von den 1017 deportierten Patienten zum Gedenken.

virtual-reality-erfahrung - eine neue mediale möglichkeit des nachempfindens




eine großartige und eben auch zeitgenäße idee von der "robert-enke-stiftung" mit ihrem projekt "impression-depression" und dem kampf um depressions-prophylaxe und -besserung und heilung.

sich in den anderen menschen hineinzuversetzen, mitzufühlen, mitzugehen, einzutauchen - das wird hier versucht mit der "virtual-reality"-brille und mit physischen hilfsmitteln - hier also auch mit der 10-kilo-bleiweste als "last" - als fühlbare und einengende be-lastung.

und in diesem zusammenhang kommt mir dann immer der begriff "mit-teilen" in den sinn - die geschehnisse und das erleiden auch hier im netz mit-teilen und davon berichten: als entlastung, als therapie und als prophylaxe für die user: "geteilte last ist halbe last"...

also wenn es gelingt, mich in und auf die gefühls- eund denkwelt eines anderen einzulassen - quasi eine "virtuelle" empathie zu entwickeln - ganz bei mir und in dem anderen menschen zu sein - dann entlastet das - den angehörigen, den interessierten, den betroffenen.

da wird also nicht nur verbal "mit-geteilt", sondern eben auch emotional und annähernd physisch und habituell nachempfunden.

und heute, zum totensonntag, ist das vielleicht auch ein thema, sich mit dem leid, der last, der trauer, der depression auseinanderzusetzen - eben mit den zeitgemäßen medialen möglichkeiten.

ich habe dazu jetzt den neuen "erna's story"-titeln zu den info-medien zum euthanasie-mordprotokoll meiner tante erna kronshage zusatz-stichworte hinzugefügt:

CLICK


see
hear
read
feel - to trace it back ... 

sehe
höre
lese
fühle - um es zurückzuverfolgen

ja - um dich zu bitten - und sogar aufzufordern, diesen weg zum erfassen des geschehens 80 jahre zurück mitzugehen, mit einzutauchen in erna's lebenswelt und erna's "story", mitzufühlen - und sich vielleicht mit hilfe der verschiedenen medien zurückzuversetzen in das, was erna da widerfahren ist, was über sie gestülpt wurde, und wie sie auf dieser plötzlich immer schiefer nach unten neigenden lebensebene letztlich keinen halt mehr finden konnte und ihr das gras unter den holzschuhen weggezogen wurde - bis in den tod...

vielleicht wird es einmal für dieses nachempfinden 80 jahre danach auch mal eine "virtual-reality"-erfahrungsform geben, wo junge menschen nachvollziehen können, wie sich das damals anfühlte, das leben auf dem lande als jugendliche - als letzte einer 11-köpfigen geschwisterschar - in einer (ehemaligen) 13-köpfigen großfamilie peu à peu fast zu vereinsamen  und allein zu sein mit den über 40 jahre älteren eltern  - und ohne adäquates sozialumfeld - und überhaupt: wenn man will - und nicht kann... - und wo man mit den eigenen sinnen "erfährt", dass das alles kein vorübergehender "vogelschiss" war (afd-gauland)...

bis man mit einer solchen "virtual-reality"-erfahrung soweit ist, dienen vielleicht bilder, video- und radio-features und -sequenzen und texte dazu, sich die zum verständnis notwenigen brücken zu schlagen: zu den realen milieus um die zeit und die ereignisse vor 70/80/90 jahren: bilder, die authentisch-dokumentarisch sind und z.t. aus der unmittelbaren privatsphäre der beteiligten personen stammen - oder eben zeitgenössische symbol-bilder, die eine situation helfen mit zu illustrieren. 

geschichte bleibt auch heute in erster linie eine "erzählung" - "geschichte(n) erzählen" heißt es ja landläufig.

durch die bildreichen neuen digitalen medien werden vermehrt gerade jungen menschen bilder-"geschichte(n)" nahegebracht.

bilder allein können keine historischen ereignisabläufe wie hier die zwangssterilisation und die euthanasie-ermordung der 20-/21jährigen erna kronshage in ihrer rund 14-monatigen leidens-odyssee in ihren details authentisch erzählen - aber sie können die heute bekannten stellschrauben dieser geschichte(n) "abbilden" und so "be-schreiben" und "erzählen" und zum mit-, ein- und nachfühlen einladen.

mit diesen verschiedenen bebilderten medien zu "erna's story", wird also ein ereignis erzählt und illustriert und von verschiedenen seiten mit verschiedenen medien in den fokus genommen: und das ist die nach heutigen erkenntnissen rekonstruierte wahrheit, die durch einschlägige fachliteratur und amtliche dokumente und akten, durch private briefe und fotos substanziell untermauert wird. 

und um diese geschichte zu verstehen, lade ich dich ein, über diese bebilderten brücken in die vergangenheit mitzugehen, um das erzählte auch tatsächlich zu verstehen. bilder haben hier also somit quasi dolmetscher- und "beamer"-funktionen: aus der jetztzeit zurück in die welt vor 80 jahren. 


im moment völlig verrückt



sinedi.art

Leben mit Schizophrenie

"Ich bin an ein fahrendes Auto gesprungen"
 
Cordt Winkler, 39, lebt mit der Diagnose "paranoide Schizophrenie". Er kannte die Krankheit schon als Kind – von seinem Vater. Im Gespräch erzählt er von Verfolgungswahn, Medikamenten und den guten Seiten des Verrücktseins. 

Text: Daniel Sander | SPIEGEL +
Dieser Text stammt aus der Reihe SPIEGEL+ Bestseller. Er ist erstmals erschienen im März 2019.


SPIEGEL: Herr Winkler, wie gut erinnern Sie sich an die Zeit, als Ihre Krankheit sich offenbarte?

Winkler: Sehr genau. Das Anschleichen begann mit Anfang zwanzig, kurz bevor ich während des Studiums nach Berlin gezogen bin, dort ging es dann richtig los. Dieses Gefühl, dass man beobachtet wird, überwacht von unsichtbaren Kameras. Auf einmal war ich überzeugt, dass ich perfekt Klavier spielen kann, dass ich große Symphonien komponieren muss. Dabei fand ich dann die Weltformel. Die will jeder haben, deswegen war klar, dass ich verfolgt werde. Es war schlimm, aber ich erinnere mich auch an Glücksmomente. In einem Moment war ich sicher, dass ich jeden Moment an BSE sterben würde. Dann wurde mir bewusst, dass ich wahrscheinlich bald zum Bundeskanzler gewählt werde.

SPIEGEL: Sehen Sie sich als schizophrenen Menschen?

Winkler: Ich glaube, man kann niemanden als schizophrenen Menschen bezeichnen – diese Krankheit ist ja kein Dauerzustand. Es handelt sich in der Regel um Episoden, von denen man sich weitgehend erholen kann. Sichtbar wird die Krankheit nur in diesen Akutphasen. Treffender finde ich deshalb "an einer Schizophrenie erkrankt", das ist ein feiner Unterschied.

SPIEGEL: Sie hatten bisher vier Episoden. Fühlen Sie sich denn krank?

Winkler: Ich finde diese Gratwanderung zwischen den Begriffen "krank" und "gesund" generell nicht sinnvoll. Mir geht es eher um die Frage, wie man eine gute Lebensqualität erreicht, wenn man mit Einschränkungen lebt. Und das gelingt mir, würde ich sagen.

SPIEGEL: Wann wurde bei Ihnen die Diagnose "paranoide Schizophrenie" gestellt?

Winkler: Das stand irgendwann in einem Arztbrief, der mir nach einem Psychiatrieaufenthalt ins Haus flatterte, glaube ich. Erst mal reden die Ärzte immer von einer Psychose. Es müssen ganz bestimmte Symptome über einen gewissen Zeitraum auftreten, damit man von einer Schizophrenie sprechen kann.

SPIEGEL: Finden Sie den Begriff Schizophrenie noch angemessen?

Winkler: Das Wort ist mit so vielen Ängsten, Vorurteilen und Klischees verbunden, dass ich damit nur schwer vermitteln kann, was mit mir los ist. Die Leute denken oft an "Jekyll und Hyde", an multiple Persönlichkeitsstörung, und das ist etwas ganz anderes. Ich höre auch keine Stimmen, obwohl das selbst Ärzte oft zuerst fragen. Der Begriff macht den Menschen Angst und hält sie möglicherweise davon ab, die Diagnose selbst für sich zu akzeptieren. Deswegen finde ich es gut, dass in Staaten wie Japan oder Südkorea das böse S-Wort ersetzt worden ist. Ich finde so etwas wie "vorübergehende psychotische Störung" treffender.

SPIEGEL: In dem Buch, das Sie über Ihr Leben mit der Krankheit geschrieben haben, erzählen Sie auch von Ihrem Vater. Bei ihm trat die Krankheit zum ersten Mal auf, als Sie drei Jahre alt waren. Haben Sie sich vor Ihrer ersten Episode je Sorgen um sich selbst gemacht?

Winkler: Ich wusste, dass es eine genetische Komponente gibt. In meiner Kindheit und Jugend habe ich das aber verdrängen können. Es war schlimm, meinen Vater immer wieder in diesem Zustand zu erleben, und ich wollte auf keinen Fall daran denken, dass es mir mal so gehen könnte.

SPIEGEL: Ab wann war Ihnen bewusst, dass mit Ihrem Vater etwas nicht stimmt?

Winkler: Mir war immer klar, dass mein Vater anders ist. Es gab immer erst eine Phase, in der es ihm gut ging. Dann schlich sich die Krankheit an, und er fing an, merkwürdige Dinge zu tun. In der akuten Phase war er dann außer sich, schrie und weinte und tobte. Anschließend kam er jedes Mal in eine Psychiatrie und wurde sediert. Die Medikamente hatten starke Nebenwirkungen, deswegen setzte er sie immer bald ab, nachdem er nach Hause gekommen war. Und dann ging es wieder los. Es war ein Drehtüreffekt.

SPIEGEL: Sie sprechen von einem Anschleichen der Krankheit. Wie fühlt sich das an?

Winkler: Das sind unklare und wirre Symptome, die auch für Fachleute schwierig einzuschätzen sind. Bei mir war es so, dass ich kurz vor der tatsächlichen Episode einfach allein sein wollte und manchmal grundlos angefangen habe zu weinen. Ein unbestimmtes Gefühl von Verlorenheit. Wegen meiner Familiengeschichte bin ich in ein Früherkennungszentrum gegangen und habe mich von einem Psychiater untersuchen lassen. Der hat aber nur eine leichte Depression diagnostiziert.

SPIEGEL: Wenn Sie sich an Ihre Episoden erinnern, schauen Sie da auf einen anderen Menschen?

Winkler: Das ist schon immer mein Ich gewesen, ich habe es schließlich so erlebt. Es ist aber nicht das Ich, das ich steuern kann. Es macht mich nicht als Person aus. Trotzdem kann ich mich genau erinnern, was ich gedacht und wie ich mich gefühlt habe. In dem jeweiligen Moment schienen mir all die kruden Dinge sehr logisch.

SPIEGEL: Gibt es während einer Episode Momente des Erkennens? Spürten Sie: Das ist jetzt nicht normal?

Winkler: Vor meiner letzten Episode war ich in Therapie und habe dort einen Notfallplan entwickelt. Punkt eins: zum Therapeuten gehen, wenn sich die ersten Symptome häufen. Klingt ja leicht. Ich habe das auch versucht. Aber ich bin dann aus dieser anderen Realität nicht mehr rausgekommen. Man ist dann überzeugt, dass es ganz logisch ist, in die nächste Tiefgarage zu gehen und dort mit dem Feuerlöscher Schaumgebilde zu erschaffen. Man wird da langsam hineingezogen. Manchmal hatte ich noch klare Momente, in denen ich mit Freunden telefonieren und denen schildern konnte, dass es mir vielleicht nicht so gut geht. Aber gerade dann habe ich offenbar einen so klaren Eindruck gemacht, dass sie den Ernst der Lage nicht erkannt haben – das ist von außen ganz schwer einzuschätzen.

SPIEGEL: Selbst für Menschen, die Sie gut kennen?

Winkler: Ja, vielleicht besonders für die. Manche wollen es vielleicht nicht wahrhaben. Für Außenstehende ist es enorm schrecklich mitanzusehen, was da passiert mit einer Person, die nicht mehr sie selbst ist. Anzusehen, wie diese Identität brüchig wird und verloren geht. Ich hab es ja bei meinem Vater gesehen. Das wünsche ich niemandem.

"Die Vorstellung des verletzlichen und furchtbar kreativen Psychotikers ist ein Klischee"

SPIEGEL: Ihre Mutter ist an Krebs gestorben, bevor Sie ihr von der Krankheit erzählen konnten. Wie hätte sie reagiert?

Winkler: Sie wäre geschockt gewesen. Gerade weil sie so sehr unter der Krankheit meines Vaters gelitten hat. Als Kind war es schon schlimm, aber als Mutter, die Verantwortung für die ganze Familie trägt, die sich entscheiden muss: Unterstütze ich den Partner, oder lasse ich mich scheiden und bringe meine Kinder und mich hier raus? Am Ende hat sie Letzteres getan, nach vielen Jahren. Nicht, dass diese Zeit für meinen Vater leicht gewesen wäre, aber ihm stand ich lange nicht so nah. Immerhin konnte ich mit ihm über meine Krankheit reden, bevor er gestorben ist. Er hat es erstaunlich gefasst aufgenommen.

SPIEGEL: Ihrem Vater haben Sie sich wieder angenähert – wie das?

Winkler: Ich war eine Zeit lang in meinem Heimatort, weil meine Mutter im Sterben lag. Da sind er und ich fast zeitgleich in derselben Psychiatrie gelandet. Meine zweite Episode war schlimm, ich bin an ein fahrendes Auto gesprungen und habe mich am offenen Fenster festgekrallt. Ein Wunder, dass niemand schwer verletzt wurde. Ein paar Tage nachdem sie mich eingeliefert hatten, durfte ich wieder raus und habe meinen Vater vorgefunden, wie er selbst gerade in eine Psychose abglitt. Da durfte ich ihn gleich mit in die Klinik bringen. Das verbindet.

SPIEGEL: Sie heißen in Wirklichkeit anders. Haben Sie Angst, dass Menschen Ihren echten Namen erfahren?

Winkler: Ich schäme mich nicht. Aber ich fand es wichtig, zwischen meinem alltäglichen Ich und einem Ich, das so stark auf Krankheit ausgerichtet ist, zu unterscheiden. Das Buch beschreibt vor allem die Phasen der Krankheit, obwohl sich das insgesamt höchstens auf ein paar Monate summiert, während es mir die restlichen knapp 40 Jahre gut ging. Wenn ich mal den Arbeitgeber wechseln müsste und ein Personalchef beurteilt, ob er nun den netten, kompetenten Alltagstypen anstellt oder den Schizophrenen, den er vorher gegoogelt hat, ist eine gewisse Anonymität sicher hilfreich.

SPIEGEL: Im Buch beschreiben Sie gefühlte Momente der Genialität und unendlicher Kreativität. Vermisst man das in den gesunden Phasen? Das Gefühl, ein großer Komponist zu sein?

Winkler: Ich konnte ja nicht wirklich Klavier spielen, ich dachte das nur. Für meine Nachbarn muss das entsetzlich gewesen sein! Die Vorstellung des verletzlichen und furchtbar kreativen Psychotikers ist ein Klischee. Das möchte ich mir nicht zu sehr zu eigen machen. Aber es gibt viel Verrücktheit, die man positiv werten kann, dafür muss man nur "Alice im Wunderland" lesen. Sich immer in der Norm zu bewegen, ohne Ausreißer nach unten oder oben, scheint mir auch nicht erstrebenswert. Allerdings möchte ich diese Krankheit auf keinen Fall verklären. Ich glaube, man sollte daraus lieber keine Identität formen wollen.

SPIEGEL: Sie wurden mit vielen verschiedenen Medikamenten behandelt. Können Sie mal die Unterschiede beschreiben?

Winkler: Klar, aber mit dem Hinweis, dass jedes bei jedem anders wirkt. Ich kann nur von mir sprechen.

SPIEGEL: Haloperidol.

Winkler: Bekommt man gern in den Akutphasen, das ist der Hammer schlechthin. Sehr wirksam, aber es knockt einen komplett aus. Mein Vater hat das früher fast immer bekommen.

SPIEGEL: Risperidon.

Winkler: Gut für Anfänger.

SPIEGEL: Amisulprid.

Winkler: Macht sehr schläfrig.

SPIEGEL: Ziprasidon.

Winkler: Macht eigentlich wach, mich hat’s auch schläfrig gemacht.

SPIEGEL: Aripiprazol.

Winkler: Die Cola light unter den Neuroleptika.

SPIEGEL: Das ist das, was Sie heute noch nehmen?

Winkler: Bei mir hat es am wenigsten Nebenwirkungen. Aber nochmal ausdrücklich: Das geht anderen anders, für manche reicht es auch nicht aus. Es kann immer sein, dass ich es nicht mehr vertrage. Ich muss einmal im Jahr mein Blut untersuchen und ein EKG machen lassen, weil es Auswirkungen auf Blut und Herz haben kann. Ich muss nehmen, was es nun mal gibt.

"Ich weiß nicht, wohin ich wollte, ich hatte nur das Gefühl, dass ich in Gefahr war"

SPIEGEL: Bisher haben Ihre Versuche, die Neuroleptika abzusetzen, immer zu einer neuen Episode geführt. Können Sie sich vorstellen, es trotzdem noch mal ohne zu wagen?

Winkler: Mit Medikamenten fühle ich mich auf der sicheren Seite. Ich habe es bis heute nicht geschafft, die Frühwarnsymptome einer Episode richtig einschätzen zu können. Deswegen bin ich hin- und hergerissen zwischen Kontrollverlust auf der einen Seite und den Nebenwirkungen von Medikamenten auf der anderen. Ich will mich nicht für immer und ewig festlegen. In gewisser Weise können Medikamente das Ich verändern, indem sie zu stark sedieren. Das ist auch kein gutes Gefühl.

SPIEGEL: Können Sie das beschreiben?

Winkler: Dann ist Ich wiederum ein ganz anderer. Einer, der für andere leichter zu handeln ist. Ich merke, dass ich dann weniger streitlustig bin, dass manches an mir abprallt. Praktisch für mein Umfeld, aber auch schade, dass man manche Wahrnehmungen nicht so auf sich einprasseln lassen kann.

SPIEGEL: Andererseits würden Sie bei einem weiteren Versuch, die Medikamente abzusetzen, riskieren, dass er schiefgeht – und Sie sich und andere gefährden. In Italien sind Sie an einem Bahnhof barfuß über die Gleise getanzt, bevor Polizisten Sie gerettet haben. Was war da geschehen?

Winkler: Ich glaube, ich bin da eine knappe Woche umhergeirrt. Vorher war es eigentlich ein schöner Urlaub, ganz romantisch auf Capri mit meinem Partner. Kurz vor dem Rückflug begann das Anschleichen, die Gedanken, dass mich dunkle Kräfte durch Spiegel beobachten. Das behielt ich aber für mich. Mein Partner hatte mich vorher nie während einer Episode erlebt und konnte nicht erkennen, was mit mir los war. Er hat ein früheres Flugzeug genommen, weil wir damals nicht in derselben Stadt gewohnt haben. Ich bin in meins dann einfach nicht eingestiegen und von Rom aus losgelaufen. Ohne Ziel. Habe meine Tasche mit dem Pass und dem Telefon weggeworfen, wie bei jeder Episode. Ich weiß nicht, wohin ich wollte, ich hatte nur das Gefühl, dass ich in Gefahr war. Es ist die einzige Phase, in der mir Stücke fehlen. Ich kann gar nicht beurteilen, ob es da um Stunden oder ganze Tage geht. Ich war völlig von Sinnen.

SPIEGEL: Irgendwie haben Sie es zwischendurch in die deutsche Botschaft geschafft.

Winkler: Ja, zum Glück, da hat man ein Lebenszeichen von mir wahrgenommen, das man in Deutschland zurückverfolgen konnte. Die dachten da schon das Schlimmste. Als man in der Botschaft meinen Namen wusste, war ich aber längst wieder abgehauen. Offenbar hatte ich nach einem Passersatz gefragt, wollte aber auf keinen Fall preisgeben, wer ich bin. Richtig zu mir gekommen bin ich erst wieder in der Klinik. Da habe ich dann meine Schwester angerufen und begriffen, was los war. Wie lang ich weg war, und wie viele Leute nach mir gesucht haben: mein Partner, meine Schwester, mein Schwager, mein Chef, meine Freunde.

SPIEGEL: Haben Sie danach versucht, etwas zu ändern?

Winkler: Es war klar, dass es so nicht weitergehen kann. Ich habe wieder Medikamente genommen und eine Gesprächstherapie angefangen, um mich endlich mit der Krankheit auseinanderzusetzen. Erst da wurde mir klar, dass ich kein gesunder Mensch ohne Einschränkungen bin.

SPIEGEL: Beobachtet Ihr Umfeld Sie nun auf Anzeichen von Verrücktheit?

Winkler: Die sind eigentlich recht entspannt. Mein Partner und ich haben im vergangenen Jahr geheiratet. Wenn ich jetzt mal etwas Komisches zeichne oder sage, dann fragt er mich, ob ich denn auch meine Pille genommen hätte. Ich glaube, dass er das ganz sympathisch findet, dass ich manchmal ein bisschen seltsam bin. Ich finde, dass eine Grundtemperatur an positiv gestimmter Verrücktheit eigentlich ganz hilfreich ist. Das kann gern bleiben.

SPIEGEL: Herr Winkler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

  • Cordt Winkler: "Ich ist manchmal ein anderer. Mein Leben mit Schizophrenie". Goldmann; 240 Seiten; 10 Euro. Das Gespräch führte der SPIEGEL-Mitarbeiter Daniel Sander. 


sinedi.art



gerade auch als ergänzung zu den "euthanasie"-mordprotokollen meiner tante erna kronshage (s. erna's story) habe ich diesen "spiegel +"-artikel hier mit aufgenommen - als authentischer bericht aus einer anderen pathologischen seinsebene, die hier - wie auch bei erna - "schizophrenie" benannt wird.

aber cordt wagner differenziert diesen begriff hier sehr genau - und beschreibt zustandsschübe einer eigenständigen und dem ich eigentlich fremden abgespaltenen ausdrucksweise.

und selbst er bemerkt als "experte" für sein ich und sein nicht-ich bzw. neben-ich nicht immer gleich, wenn er in den nächsten "schub" gerät - in die nächste "episode" abgleitet.

in bezug auf meine tante erna fällt mir auf, welche distanz doch da ist, zwischen dem, was von ihr festgehalten und überliefert ist - und was die damalige ns-psychiatrie eben damals mit "schizophrenie" diagnostiziert hat, was dann aber in der konsequenz auch in der regel seinerzeit zu einer zwangssterilisation der betroffenen führte - und den schilderungen von herrn wagner hier - fast möchte man ja von einer authentischen schizophrenie-"reportage" "aus erster hand" sprechen ...

so viel ich heute weiß, war erna wohl immer im tatsächlichen hier & jetzt und hatte eigentlich nie wahnvorstellungen oder war nie gänzlich "außer sich" - höchstens aus tatsächlichen nachvollziehbaren verstimmungen heraus oder vielleicht im zusammenhang mit den anfällen in der cardiazolschock-therapie, mit der man sie ja malträtierte - "zum inneren spannungsabbau"...

da man bei erna wohl in den ersten 24 stunden nach aufnahme in die provinzialheilanstalt gütersloh die "schizophrenie" als erbkrankheit diagnostizierte, ist der hinweis von herrn wagner wichtig, "es müssten ganz bestimmte symptome über einen gewissen zeitraum auftreten, damit man von einer 'schizophrenie' sprechen kann"... außer wohl einem glimpflich abgelaufenen "jähzorns"-zustand gegenüber der mutter war da von erna ja nichts zu vermelden - und von ihrer einweisung in gütersloh bis zu ihrer ermordung in der vernichtungsanstalt "tiegenhof" bei gnesen (polen) hat es ja gerade mal insgesamt "nur" 484 tage gedauert.

um sich in die schub-erkrankung einer schizophrenie einigermaßen objektiv hineinzudenken, ist diese "reportage" hier für mich und hoffentlich auch für dich äußerst informativ und hilfreich.



über das "verrücken"



Film „Küchenpsychologie“

Paddeln mit den Dämonen

Die Künstlerin Marie Weil hat einen Film über die Bewältigung ihrer Psychose gedreht. Er läuft auf den Hofer Filmtagen.

Von Barbara Dribbusch | taz - Soziales & Gesellschaft - Inland (click)

Vielleicht ist am Ende doch alles gut – wenn die Freundinnen und Freunde durch den Wald gehen, im Gänsemarsch, jeder trägt eine Schüssel oder einen Teller mit Salat, Früchten, Gemüse, Kuchen. Die Gruppe singt im Kanon ein Kinderlied: „Finster, finster, finster, finster, nur der Glühwurm glüht im Ginster, und der Uhu ruft im Grunde. Geisterstunde.“

Man könnte eine Psychose als Geisterstunde bezeichnen, als ein Hineingeworfensein in einen vor- und frühsprachlichen Raum, wenn Dinge, Bilder, Personen, Stimmen mit neuen Bedeutungen, Verbindungen aufgeladen werden, die andere Menschen nicht nachvollziehen können. Die Berliner Künstlerin Marie Johanna Weil hat solche Phasen durchlebt und über ihren Selbstheilungsversuch einen Film gedreht, der auf den Hofer Filmtagen am vergangenen Mittwoch Premiere hatte und dort auch am Samstag und Sonntag zu sehen ist.

Der Film „Küchenpsychologie – über das Verrücken“ arbeitet mit der Spannung zwischen Bildern, Erzählerinstimme und Experteninterviews. Aus dem Off berichtet die 42-jährige Autorin in ruhigem Ton von ihrer Einweisung in die Psychia­trie. Ihre Hände basteln derweil aus einem Schuhkarton eine Art Puppenhaus und stellen Betten aus Pappe hinein. Bunte Bonbons werden hineingekippt, das sind die Psychopharmaka. Die Psychia­trie ist nicht das durchgängig Böse, aber eben auch nicht besonders hilfreich. Eindeutige Schuldzuweisungen an die Psychia­trie, die Familie, die Gesellschaft, die Biochemie gibt es in dem Film nicht, insofern unterscheidet sich der Film von anderen Dokumentationen über die Psychiatrie und Psychosekranke.


Verrückte Urgroßmutter

Als sie aus der Klinik heraus ist, beginnen die Heilungsversuche. Weil, die an der Universität der Künste in Berlin bildende Kunst studiert hat, baut aus Ton große, klobige Tonfiguren mit groben Gesichtern, einige mit Haaren, andere ohne. Die Figuren sollen Alter Egos von ihr sein und Verwandte. Die eine, die größte, stellt die Urgroßmutter dar. Die Urgroßmutter trug einmal frisch gekochtes Essen nicht zu Tisch, sondern kippte es direkt ins Klo mit der Aussage, da würde es später ohnehin landen. Fortan galt sie als verrückt.

Ist das Genetik, das mit dem Verrücktwerden? Es gibt etwas erhöhte Risiken, wenn in der Verwandtschaft schon Leute betroffen sind, sagt Stephan Ripke, Genetiker und einer der im Film interviewten Experten. Aber: „Die meisten Sachen sind unklar.“


DER FILM„Küchenpsychologie – über das Verrücken“. Regie: Marie Johanna Weil. Deutschland 2019, 50 Minuten.
Hilfreicher als unbewiesene Theorien ist eine gewisse Akzeptanz. Weil ordnet die Tonfiguren immer ein wenig anders an, fährt sie in der Schubkarre herum, legt sie auf den Komposthaufen, begießt sie, nimmt sie auseinander und füllt ihre Hohlräume mit Erde, in die sie Pflanzen setzt. Eine Tonfigur steht im Bug des Kanus, als sie durch ein Fließ paddelt. Es ist besser, die Dämonen ein bisschen herumzuschippern, als sie verjagen zu wollen.

Von ihren konkreten Wahn­inhalten in der Krise spricht Weil nicht, um keinen Voyeurismus zu bedienen, wie sie später im Interview sagt. Aber von dem Gefühl, neben sich zu stehen, nicht im Körper zu sein, die Seinsgewissheit, die „ontologische Sicherheit“ nicht zu haben, davon erzählt sie. Die ­Vernichtungsangst, wenn ­außen und innen ineinanderstürzen, die können vielleicht auch Nichtbetroffene ahnen. „Es ging mir darum, Verbindung herzustellen, Gemeinsames zu zeigen“, sagt Weil.

Sich erden in der Krise

Die Natur, das Ländliche, die Nahrung, das Essen, FreundInnen, die dableiben, auch wenn es mal schwierig wird – das ist die heilende Bildsprache im Film. Da werden Tomaten gepflanzt, Kartoffeln ausgegraben, Möhren geschält, es wird Teig angerührt. Weils FreundInnen sind in einer großen Landküche mit der Vorbereitung eines Festmahls zugange.

Weil erzählt unterdessen aus dem Off von Existenzängsten der Vorfahren, dem Weltbild der Aufklärung, das die Mystik ausschloss, dem Wunsch, zwei Identitäten haben zu können, eine, die beobachtet, distanziert und absichert, und eine, die sich mitten hineinbegibt in eine eigene, mystische Welterfahrung. Die Küchenszene signalisiert: Man kann sich auch im „Verrücken“ erden, sich vergemeinschaften.

Nachdem der Kanon von der Finsternis gesungen ist, sitzt die Gruppe auf einer Wiese unter freiem Himmel um einen Tisch und verspeist das Selbstgekochte. Eine Psychoanalytikerin ist dabei, ein selbst ernannter Schamane, der Genetiker. Sie alle hatten im Film etwas zum „Verrücken“ gesagt, aus ihren unterschiedlichen Perspektiven, von denen keine den Anspruch erhebt, die einzig wahre zu sein. „Die Wahrheit weiß keiner“, hatte Ripke erklärt. Vielleicht könnten im Umgang mit dem Wahn diese Vielfalt der Sichtweisen, die Akzeptanz des Rätsels und ein gewisser Pragmatismus ein Fortschritt sein, der wirklich hilfreich ist.

_______________________________________


wenn etwas aus der balance gerät - aus dem ruder läuft - plötzlich einen neuen standort hat oder plötzlich ein standpunkt verleugnet wird - wenn die arithmetik der alltäglichkeit massive brüche bekommt: dann ist etwas ver-rückt (ge)worden... dann löst sich der gedankenknoten, an dem man spinnt, plötzlich nicht mehr auf und man findet das pack-ende nicht mehr... und das innere eingebaute navi muss zurückgesetzt und ganz neu aufgespielt und kalibriert werden mit neuer software.


in meiner beruflichen tätigkeit bis vor 10 jahren bin ich immer wieder menschen begegnet, die unter einer solchen momentanen oder längerfristigen unpässlichkeit, einer verrückung im inneren wie im äußeren litten oder gelitten hatten oder auch nicht litten und sich "eingerichtet" hatten, aber danach immer noch begleitung und halt suchten.

studierte ärzte verschrieben und verschreiben dann zumeist aus lauter zeitnot und überforderung heraus irgendwelche psychopharmaka zu ihrer selbst- und der patienten fremdberuhigung und stellen bandwurm-diagnosen oder benennen allerwelts-pseudo-zustände mit festgelegten icd-verschlüsselungen für die ad-hoc-krankenkassen-abrechnung, die innerhalb von 24 stunden nach der einweisung eine diagnose verlangt, und die ab dann den patienten für immer abstempelt und einordnet - und sie zelebrieren manchmal hochnäsigkeit und überlegenheit und pseudo-wissen - denn die einen sagen so und die anderen sagen so...

das amerikanische psychiatrie-manual zur benennung der diagnosen (z.b. das dsm-5) erweitert sich jedes jahr um viele neu hinzudifferenzierte bezeichnungen und diagnosen: ungeahnte wortschöpfungen ohne jeden belang.

in wirklichkeit gibt es so viele innere ordnungssysteme und deren ganz individuelle "ver-rückungen" wie es menschen gibt - das wenigstens ist meine quintessenz aus meinen direkten begegnungen und meiner begleitung mit den zeitweise verirrten und irrenden menschen, die froh waren, wenn sie einen "scout" fanden und anschluss fanden, womit sie dann gemeinsam ihr navi neu programmieren lernten.

dabei wusste auch der ausgebildete "scout" nicht immer, wo es langging: das war ein gegenseitiges voneinander lernen und verwerfen und annehmen und ringen und akzeptieren.

verrückte tante ?

durch die inzwischen jahrelange beschäftigung und recherche zum leidensporträt meiner tante erna kronshage und ihrer freiwilligen selbsteinweisung in die provinzialheilanstalt gütersloh 1942 habe ich oft versucht, mich in sie und in ihr umfeld hineinzuversetzen - wie sie versuchte, ihren "burn-out" und die kriegstraumatas in den griff zu bekommen, wie sie ihre körperlichen überforderungen und ihre intellektuellen unterforderungen versucht hat zu kompensieren, einhergehend mit der versuchten allmählichen loslösung von ihren eltern, und als junge frau "vom lande" doch tatsächlich geglaubt hatte, in einer so genannten "heil"anstalt und von studierten menschen könne man auch seelisch-körperliche "heilung" erfahren, um ihren inneren kompass wieder einzunorden.

verheddert
aber dabei geriet sie gesellschaftlich auf einen äußerst unguten, ja tödlichen zeitstrahl, der rutschig und seifig steil nach unten führte.

und auf dieser schiefen ebene kam dann in 484 tagen eins zum anderen - und es gab dann keinen halt mehr - und das so oft in dieser zeit deklamierte "heil" blieb für sie aus und ohne jeden widerhall. sie hatte sich ebenso wie das "deutsche volk" verrannt und verzockt.

sie wurde dann nach ihrer zwangssterilisation (august 1943) am 20. februar 1944 in einer vernichtungsanstalt vom dortigen "pflegepersonal" arbeitsteilig bis aufs letzte logistisch durchorganisiert - ganz allmählich in 100 tagen ermordet... - mit einem eigens dazu vom medizinprofessor nitsche entwickelten genau abgestimmten in kleinen dosen verabreichten gift- und nahrungsentzugs-cocktail. 

wenn - ja wenn ihre landwirtschaftliche betätigung zuhause und dann auch als "arbeitstherapie" und "schizophrenie"-behandlung in gütersloh mit etwas mehr phantasie und langmut und kreativität und auch sicherlich heilsamen und "spinnerten" beschwörungsritualen, wie sie da im film von marie johanna weil - wenigstens im trailer - angedeutet werden, und ohne jeden äußeren drill, damit sich so vielleicht ein pharma- und schocktherapiefreier müßiggang eingestellt hätte - mit dem von erna tatsächlich sicherlich gesuchten und erwarteten "erholungseffekt" - dann - ja dann hätte sie das alles vielleicht auch ohne schaden überwinden können. 

hätte - hätte ...

erna kronshage ist meine tante - die schwester meiner mutter - und damit wird diese vermeintliche psychiatrische "verrückung" und entgleisung auch direkt unserer familie wenigstens teilweise im nachhinein mit vor die füße geworfen und hier auch nach allgemeiner tiefsitzender und überkommener und inzwischen neu belebter "volkes"meinung mit dem prädikat "risikobehaftet" verortet, mit all dem eugenisch-psychiatrischen gelalle und gestammel jahrzehntelanger genetischer und medizinischer "wissenschaftlichkeit".

und ich schreibe hier von daher sicherlich auch wütend aber auch um mich zu schützen - aber ich schreibe zum glück auch "heutzutage" - im hier & jetzt.

vor 80 jahren stand dieses land und alle menschen, die hier lebten - unsere direkten nächsten vorfahren und ahnen eingeschlossen - in einem aus einem kollektiv nationalistischen erbgesundheits-wahn entfachten mehrfronten-krieg - in einem krieg nach innen und nach außen - und damals hat dann diese völlig missverstandene genetik-lehre erna wahrscheinlich falsch einsortiert und so ihr - damals "nach bestem wissen und gewissen" - endgültig den rest geben müssen... - und noch heute wispern ja aus allen ecken dazu irgendwelche selbstzweifler und üben vertuschung und sehnen sich zurück - von wegen: "vogelschiss", herr gauland...

vorm winter muss ich nochmal erna's stolperstein blankputzen mit sidol...