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garzweiler - hat's der mensch nicht weit gebracht ... ???

aus: taz vom 29.06.2019 - seite 2


dazu fiel mir spontan dieser song aus der deutschen fassung des musicals "hair" ein - "haare" - aber hör selbst:



übrigens: HAIR/HAARE wurde 1968 - vor 51 jahren (!) - bereits mit diesem deutschen text uraufgeführt - da kann man beim anblick des bildes oben aus der taz nur ausrufen: "hat's der mensch nicht weit gebracht ...???"

Hat's der Mensch nicht weit gebracht
und von seinem Wissen
nicht wunderbar Gebrauch gemacht,
und immer forscht er weiter und wird noch gescheiter!
Ist er nicht gütig wie ein Engel?
Ist er nicht weise - fast wie Gott?
So schön ist diese Welt,
ein Paradies für Tiere!
Wie kommt es nur,
dass ich an dieser Welt den Spaß verlor?
Warum kommt sie mir plötzlich vor
wie ein ödes Felsgebirge?
Der herrlich blaue Baldachin,
hoch über uns - das Firmament,
das selbst sich trägt,
das himmelhohe Dach
bestickt mit Sternenglanz.
Warum ist es nichts anderes mehr für mich
als ein Meer von faulen Dämpfen,
die das Leben verpesten?
Hat's der Mensch nicht weit gebracht?-

Ja, das kann man sagen!


und beim abhören der songs fand ich auch folgendes sehr aktuell - wie gesagt - vor 51 jahren bereits - die deutsche uraufführung:





AIR - LUFT

Hallo Schwefeldioxyd
Hallo Kohlenmonoxyd 
herein herein 
ich atme euch ein 
tagaus
und tagein herein

Hallo, Teer und Ruß und Rauch, 
alle Auspuffgase auch 
o fein, o fein
wir atmen euch ein
tagaus und tagein, o fein

Cataclysmen, Ectoplasmen 
atomare Weltorgasmen
und wenn die viele Giftluft dann
nicht mehr in meine Lunge kann
frisst sie noch meinen Grabstein an

Hallo Schwefeldioxyd
Hallo Kohlenmonoxyd 
herein herein 
ich atme euch ein 

Holt Luft -
einmal noch ganz tief
tief
tief - ganz tief

(hust hust...)

da waren sie nur noch ein schatten ihrer selbst - sinedi.art



das gefühlserbteil

Soweit ich mich zurückerinnere, fühle ich eine Schwere in mir. Eine Traurigkeit, die schon immer Teil von mir ist, sich gleichzeitig anfühlt, als gehöre sie gar nicht zu mir,
als sei sie mir auferlegt worden. Eine dunkle Melancholie, die nicht greifbar ist und mich vom Leben zurückhält, es manchmal kaum ertragbar macht.

das sind sehr selbstehrliche und tiefreichende zeilen der autorin lilli heinemann aus einem bericht über die "dunklen seiten" in ihrer familiengeschichte - abgedruckt im  "ZEIT-MAGAZIN" 27/2019 vom 27.06.2019:

aus: ZEIT-MAGAZIN | 27/2019 | vom 27.06.2019 | S. 27

frau heinemann beschreibt ausführlich und authentisch, wie sie die dunklen wolken innerhalb ihres geteilten mehrpersonalen familienverbandes immer mal wieder einholten und belasteten - dieses "stille erbe", diese erbschaft von gefühlen - von gefühlen, die die jeweiligen altvorderen zumeist unbewusst oft als reflex und hilfe entwickelten, um erlebte persönliche katastrophen zu bewältigen, zu überwinden oder auch nur zu verdrängen - und die nun epigenetisch in der nachkommenschaft über mehrere generationen mehr oder weniger stark ausgebildet oder gar zyklisch weitergereicht oder "abgeguckt" und "abgespürt" wurden mit den dafür hoch sensibilisierten antennen im heranreifen.

mit hilfe ihres berichts über die von ihr recherchierten tatsächlichen traumatischen ereignisse besonders auch im leben ihres großvaters kurz nach ende des krieges hat frau heinemann diese belastungen bearbeitet und tatsächlich damit eine ent-lastung erfahren, eine verarbeitung durch einordnung und durch die allmähliche offenlegung dieser familientabus mit allmählicher integration und bewältigung.

gerade "wir deutschen" - aber auch sicherlich all die "aus"-länder, die am schrecken des krieges miteinbezogen wurden - haben sich wahrscheinlich alle mehr oder weniger in ihren beteiligten familiengeschichten mit solchen "dunklen aspekten" bewusst oder unbewusst auseinanderzusetzen. das problem ist, dass durch verschweigen, durch scham - und schlicht aus unwissenheit und unsensibilität - es oft zu einer vernünftigen aufarbeitung der eigenen herkunfts-familiengeschichte durch schonungslose recherche erst gar nicht kommt.

ich habe von einem gestalttherapeuten vor jahren bereits seine definition des wortes: "ge-schichte" gehört: ge-schichte ist das - wie das wort schon andeutet - in uns aufgetürmte, ge-schichtete selbst erfahrene und überkommene, vererbte, weitergegebene, erspürte erleben in uns, das sich als ureigene "erfahrung" wie jahresringe über- und durcheinander "schichtet" und uns individuell prägt und unser verhalten bestimmt - "bis ins 3. und 4. generationsglied" - wie die bibel in 2. mose 20 feststellt - eine zeitspanne, die in psychologischen studien zur "trans-generationalen übertragung" in den heutigen zeiten voll bestätigt wird (click = bundestags-drucksache der 'wissenschaftlichen dienste' zu diesem thema). 

und genauso gibt es diesen begriff für "ge-schichte" sicherlich auch für länder und nationen und regionen, der sich immer aus den individuellen erleben und erfahren seiner bewohner zusammenpuzzelt und speist.

wir operieren mit solchen hehren begriffen wie "nationalstolz" und "national-bewusstsein" und "nationale identität" in den narrativen unserer alltäglichen diskurse - und diese begriffsumschreibungen sind ja nur abgeleitet und übertragen von innerpsychisch spezifischen emotionalen individual-persönlichen empfindungen, denn "eine nation" als ein unpersönliches abstraktes gebilde und eher geografisch-politisches hilfskonstrukt kann nicht stolz sein - oder tatsächlich ein bewusstsein entwickeln - und auch keine quasi persönliche identität ausbilden. 

aber schon in der bibel wird die "gemeinde", die gemeinschaft mit einem "leib" verglichen: "denkt zum vergleich an den ´menschlichen` körper! er stellt eine einheit dar, die aus vielen teilen besteht; oder andersherum betrachtet: er setzt sich aus vielen teilen zusammen, die alle miteinander ein zusammenhängendes ganzes bilden"... heißt es in 1. kor. 12 in der neuen genfer übersetzung.

das fühlen, denken und das daraus resultierende jeweilige handeln sind aufeinanderbezogene aspekte von körper, geist und seele, die in diesen reflexiven abläufen als eine "einheit" funktionieren.

dieser begriff der "nation" oder der gesellschaft/gemeinschaft - also um in dem biblischen gleichnis zu bleiben: des "leibes" - setzt sich aus seinen "teilen", seinen "gliedern", den bewohnern, zusammen. und wenn alle bewohner in ihrem bewusstsein zu ganz bestimmten ge-schichts-epochen blinde flecken im inneren wissen und erspüren aufweisen und sich in "verschweigen" und "ignorieren" üben oder von einer posttraumatischen belastung bestimmt werden, dann ist das in der summe im lande "draußen" sicherlich ebenso.

und ich behaupte inzwischen, dass die zerrissenheit im bewusstsein der menschen hier, 30 jahre nach dem mauerfall, auch auf solche "blinden flecken" und bewussten oder unbewussten verdrängungen in den jeweiligen familienbiografien zurückzuführen sind: in ost und in west gleichermaßen, denn das aufgepfropfte und aus weltmarkt-ökonomisch neo-liberalen gründen gesponserte "wirtschaftswunder" im westen und die ebenso aufgepfropften das vakuum füllenden "sozialistischen staats-eskapaden" im osten erstickten - auch "von oben" gewollt ("der rubel musste ja rollen") - einen notwendigen individuellen "kassensturz" in den einzelnen herkunfts-familien und damit eine kollektive "aufrechnung" all der verstricktheiten und der schuld oder eine befreiung der unterdrückten opferrolle auch in den regionen und nationen.

und das führt dann zu den extremistischen weil unbearbeiteten entgleisungen - z.b. der raf, des nsu und der einzel(?)-attentäter und -mörder wie breivik in norwegen und jetzt stephan ernst in kassel - und zu dem herumschwadronieren von unreflektiertem rechten getöse im politischen alltag. 

um mit lebensfreude, spontaneität und enthusiasmus im „hier und jetzt" zu leben, ist es notwendig, diese z.b. von der gestalttherapie so genannten „unerledigten geschäfte" (fritz perls) schonungslos aufzuarbeiten, um damit (im übertragenen sinn) offene "rechnungen" und nichtbearbeitete ereignisse endlich abzuschliessen und "abzurunden" - und so zu bearbeiten und zu integrieren und positiv zu "verdauen", sich zu befreien von der last.

der familienbericht von frau heinemann unterstreicht da die fähigkeit jeder person bei sich selbst und in den familien - und damit auch in den ländern - zur "selbstheilung" - zu dieser ent-lastung und be-freiung, wobei körper, geist und gefühle, die sich im "leib" aus verschiedenen quellen reproduzieren, zur einübung einer "ver-änderung" genutzt werden können.

so wird dem wahrgenommenen "un-wohlsein" eine antwort entgegengesetzt: man übernimmt "ver-antwort-ung" für sich, für die familie, für die gesellschaft.


wir machen uns auf die suche, wie wir uns selbst beim erkennen und verwirklichen eigener lebensziele im wege stehen und erfahren uns schließlich selbst, als brücke und dem "weg hindurch": vom aktuellen sein zu dem zu werden „der wir wirklich sind", um ver-antwort-ung für ein selbstbestimmtes, glücklicheres leben zu übernehmen.

und persönliches und "(inter)nationales" gesellschaftliches wachstum ist wohl hier das richtigere wort für eine solche entwicklung und einen solchen "fort-schritt" - anstatt therapie ...




den aufsatz dazu von 

stelen aus beton...

Foto: Silas Stein DPA


Historische Sitzung 

So erbittert stritten die Parteien um das Holocaust-Mahnmal

Von Bernhard Schulz | Tagesspiegel


Vor 20 Jahren wurde der Bau des Holocaust-Mahnmals beschlossen. Vorausging eine der bemerkenswertesten Debatten in der Bundestagsgeschichte.

Das historische Urteil fällt immer erst in weitem Abstand. Nur in seltenen Augenblick können die Beteiligten sagen – wie Goethe es in seinem unsterblichen Wort ausgedrückt hat –, sie seien „dabei gewesen“. An den SPD-Bundestagsabgeordneten Gert Weisskirchen wird man sich vielleicht nicht erinnern, aber er sagte etwas für die Ewigkeit, als er fand, dass „dies eine Debatte ist, die in der Geschichte unseres Parlaments einen historischen Rang einnehmen wird“. Diese Debatte – das war die 48. Sitzung der 14. Wahlperiode am 25. Juni 1999. Kurz: die Debatte über das Berliner Holocaust-Mahnmal. Nicht weniger als 66 Druckseiten füllt der „Stenographische Bericht“, und in der Tat: Mag man auch im zeitlichen Abstand über manche Äußerung den Kopf schütteln, insgesamt war es tatsächlich eine historische Debatte. Und mit rühmlichem Ausgang: Nach einer Reihe von Änderungsanträgen votierten 324 Abgeordnete für den Entwurf des New Yorker Architekten Peter Eisenman, 209 dagegen; 14 enthielten sich. Aber nur zwei – zwei! – der zahllosen Rednerinnen und Redner hatten sich zuvor für den gänzlichen Verzicht auf ein Mahnmal gleich welcher Gestaltung ausgesprochen.

"Scham ist ein Moment unserer menschlichen Würde"

Die Debatte, so hatte sie Wolfgang Thierse (SPD) ausdrücklich in der Rolle als Abgeordneter, nicht als Präsident des Hohen Hauses eingeleitet, sollte „Auskunft darüber geben, ob wir Deutsche uns mit Anstand aus diesem Jahrhundert verabschieden“, und um die politische Dimension dieses Tages zu veranschaulichen, schloss er mit den Worten: „Scham ist ein Moment unserer menschlichen Würde. Aus dem politisch-praktischen Gedenken unserer mit unfassbarem Unrecht verknüpften Geschichte erwächst moralische Gegenwartsverpflichtung und Zukunftsfähigkeit.“ Norbert Lammert (CDU) rekapitulierte im Anschluss noch einmal die kontroverse Diskussion, die es um das Denkmal überhaupt und sodann über seine Gestaltung gegeben hatte. Das im Einzelnen nachzulesen, ist erhellend und gibt teils zum Schmunzeln, teils zum Kopfschütteln Anlass. Aber das steht im zeitlichen Abstand nicht mehr im Vordergrund, sondern das, was Lammert betonte: Für ihn sei „die grundsätzliche Entscheidung, dass ein solches Denkmal gebaut wird, mit Abstand wichtiger als die Festlegung, welche Gestaltungsform es haben soll.“ Es ginge darum, so Lammert weiter, „im Jahre des Umzugs von Parlament und Regierung von Bonn in die alte und neue Hauptstadt ein unübersehbares Zeichen der Entschlossenheit des wiedervereinigten Deutschland zu setzen, sich seiner eigenen Geschichte in diesem Jahrhundert bewusst zu sein und die besondere Verantwortung wahrzunehmen, die sich daraus für die Zukunft ergibt“.


Die Fronten verliefen quer durch die Fraktionen

In Einzelfragen verliefen die Fronten nicht zwischen den Fraktionen – damals vier an der Zahl –, sondern quer durch sie hindurch; wie übrigens schon bei der Abstimmung über die Hauptstadt des vereinten Deutschland fast auf den Tag genau acht Jahre zuvor. Dies war im Übrigen kein bloß kalendarischer Zusammenhang, wie schon Lammert zum Ausdruck brachte: Die Hauptstadtwerdung Berlins erforderte geradezu das „sichtbare Zeichen“, das mit dem Mahnmal gesetzt werden sollte und auch wurde.

Nicht ganz zufällig war der „Förderkreis für die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ in den Tagen des Mauerfalls gegründet worden, genauer: zwei Tage vor dem 9. November, als sich erstmals die Möglichkeit abzeichnete, auf dem Gelände der früheren Reichskanzlei – damals weitgehend im mauerstreifen gelegen – an die Verbrechen des NS-Regimes zu erinnern. 1992 entschied der Bundestag erstmals über ein Mahnmal, gewidmet allein den ermordeten Juden und nicht auch anderen Opfergruppen, um die Besonderheit des NS-Völkermords zu unterstreichen. Am 28. Juni 1995, also vor 24 Jahren, wurde der erste Wettbewerb zu dessen Gestaltung zugunsten der Berliner Künstlerin Christine Jakob-Marcks entschieden, die eine schräg stehende Platte mit den eingravierten Namen aller sechs Millionen Mordopfer vorsah. Darüber entbrannte heftiger Streit, der schließlich in einen zweiten, nunmehr auf 25 ausgewählte Teilnehmer beschränkten Wettbewerb mündete. Daraus schälte sich der Eisenman-Entwurf als Favorit heraus – auch als Favorit des noch amtierenden Bundeskanzlers Helmut Kohl, auf dessen Anregung Eisenman einen verkleinerten Entwurf in der dann auch realisierten Größe vorlegte. Nachdem der regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, diesen Entwurf – wie auch schon die vorangehenden ablehnte -, zog der Bundestag das Verfahren an sich. So kam es zu der Debatte und Abstimmung am 25. Juni 1999.

Mit dem Entwurf von Eisenman konnten sich viele Beteiligte nicht anfreunden; auch unter den unermüdlichen Protagonisten des „Förderkreises“ um Lea Rosh nicht. Das ging bis zum Vergleich mit den Bauten Albert Speers, den der designierte Kulturbeauftragte einer SPD-geführten Bundesregierung, Michael Naumann, 1998 glaubte ziehen zu müssen – er sprach sich stattdessen für ein Holocaust-Museum aus, das dann, vom Bundestag in der nämlichen Sitzung beschlossen, in Gestalt des „Ortes der Information“ unterhalb einer Teilfläche des Mahnmals realisiert wird und heute so unangefochten ist, wie das Mahnmal selbst. Damals sahen viele Beteiligte und Beobachter darin noch den „Keim künftiger Kontroversen“, zumal sich der Verbund der NS-Gedenkstätten in einem Offenen Brief gegen die Errichtung eines zusätzlichen Dokumentationszentrums ausgesprochen hatte (die Topographie des Terrors besaß damals noch nicht ihr heutiges Gebäude). Nein – Berlin wie auch seine Millionen Besucher benötigen beides, den Ort des Gedenkens wie den der Aufklärung. Und andersherum ebenso.

„Man relativiert dieses Votum des Bundestages nicht“, schrieb Hermann Rudolph am Tag danach in seinem Leitartikel im Tagesspiegel, „wenn man darin vor allem die Entschlossenheit sieht, mit einem klaren Vorsatz nach Berlin zu gehen: in der Mitte der deutschen Hauptstadt ein Denkmal zur Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden zu sehen. Es ist auch ein richtiger, produktiver Gedanke, (…) darin ein Vermächtnis Bonns an Berlin zu erkennen, der Republik der vergangenen fünfzig Jahre an die künftige.“ Diese Worte haben bis heute und darüber hinaus Bestand. Die Zögerlichkeit, anfangs gar jahrzehntelange Weigerung der Bonner Republik, sich mit dem vorangegangenen, fürchterlichen Kapitel der deutschen Geschichte auch nur zu beschäftigen, hinterließ der Berliner Republik eine schwere Hypothek. Sie wurde nicht allein, aber auch mit der Errichtung des Mahnmals abgetragen. Die Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland ist seit damals stark gewachsen, die Befürchtung, die Berliner Republik könnte geschichtsvergessen werden, hat sich ganz und gar nicht bewahrheitet, im Gegenteil. Die Debatte über das Holocaust-Mahnmal war übrigens – was für ein symbolischer Umstand! – eine der allerletzten, die noch in Bonn stattfanden, bevor die deutsche Volksvertretung ihr altes, erneuertes Berliner Haus in Besitz nehmen konnte.

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ja - das war vor 20 jahren ein ringen um die moral von schuld und sühne und einem irgendwie "gestalteten" kollektiven sichtbaren ausdruck für das unsägliche, was dann in der debatte auch zwischen "monumentalismus" und "symbolkitsch" kritisiert wurde.

schuld und sühne bekennen heißt auch, gräuel zu "begreifen", anzufassen, ein inneres bild zu bekommen und dann im positiven sinne "mitzuschleppen" als eine virtuelle bürde, als last - und nicht nur im "schlechten gewissen" oder "im herzen", sondern sichtbar durch reihen von klotzigen betonstelen, mitten in berlin, gleich neben dem reichstag, auf dem früheren todesstreifen der mauer zwischen west und ost.

und die juden haben mitten in jerusalem die historischen reste der klagemauer, um etwas "vor gott zu bringen" ...

sich dem gräuel des holocaust persönlich zu stellen hat auch etwas von "verantwortung" übernehmen, sich zu bekennen - und eben nicht nur bei fußball-weltmeisterschaften den schwarz-rot-goldenen flatterwimpel ans auto zu peppen (was man jetzt bei der frauen-wm ja schon fast vermisst...).

heute fahren manche abschluss-schulklassen nach berlin - um dort die schulzeit fröhlich im feiern ausklingen zu lassen - aber tagsüber wird dann oft staatsräson eingeübt mit dem besuch der "topographie des terrors"-ausstellungen und eben dem besuch des stelenfelds des holocaust-mahnmals.

da gibt es fotos im netz von müden schuler*innen, die wohl die nacht durchgefeiert hatten - und die sich jetzt auf eine der betonstelen niederlassen, um sich auszuruhen.

manche nennen das dann das "annehmen" des stelenfelds durch die junge "bevölkerung" - ich bin da wesentlich kritischer - und man sollte den stelenfeld-besuch nicht mit den abschlussfeierlichkeiten zur schulzeit als rudelveranstaltung koppeln.

überhaupt - ein alleiniger, nicht gruppengebundener rundgang zwischen den betonklötzen - und ein individuelles "erspüren" und "begreifen" wäre meines erachtens "sinnvoller" und angemessener - um seine ganz eigentümliche haltung zu all dem zu bekommen - und zu der schuld und dem mitmachen oder dem opfer und den entbehrungen der großeltern und ur-großeltern, die ja in irgendeiner weise die familienbande immer noch - "bis ins dritte und vierte glied" (= die bibel) - durchziehen, weil sie nicht "gesund" integriert und charakterlich angemessen verarbeitet wurden (siehe dazu z.b. auch hier)...

ein verleugnen dieses kapitels kommt immer einem verdrängen nahe - und ein andauernder innerpsychischer verdrängungsprozess führt oft zu allerlei psychosomatischen macken - eine echte auseinandersetzung und ein "annehmen" der last schaffen da physikalisch tatsächlich etwas paradoxes: sie erleichtern und beugen vor ...

und "scham ist ein moment unserer menschlichen würde" ... - und eine prophylaxe gegen erneute rechte nationalistische und rassistische entgleisungen...


auf dem rechten auge blind



Was den Mord an Herrn Lübcke, an dem Regierungspräsidenten, anbelangt, so ist das nicht nur eine furchtbare Tat, sondern für uns auch eine große Aufforderung, in allen Ebenen noch einmal zu schauen, wo es rechtextreme Tendenzen oder Verwebungen geben könnte. Wir müssen hier ganz klar hingucken. Und ich bin schon bedrückt – ich habe mich sehr viel mit dem NSU-Verrechen auseinandergesetzt. Wir haben den Betroffenen damals Versprechungen gegeben. Und manches zeigt jetzt wieder, dass eben auch wir genau hingucken müssen. Ich sage das in aller Vorsicht, weil ja die Ermittlungen noch laufen. Gibt es eben aus diesen Zeiten auch hier Verbindungen? Und es muss in den Anfängen bekämpft werden und ohne jedes Tabu, sonst haben wir einen vollkommenen Verlust der Glaubwürdigkeit. Und der ist natürlich das Gegenteil von dem, was wir brauchen: Vertrauen. Deshalb ist der Staat hier auf allen Ebenen gefordert. Und die Bundesregierung nimmt das sehr, sehr ernst.” - quelle: reuters




heute hat also der rechtsradikale stephan ernst endlich die ausführung des kaltblütigen politmord-attentats auf den liberal gesinnten cdu-regierungspräsidenten lübcke gestanden - und immer mehr indizien bestätigen dieses geständnis. stephan ernst ist in der rechten gewaltbereiten scene bestens vernetzt - den die polizei und die verfassungsschützer aber einfach mal "aus den augen verloren" hatten, obwohl er bereits zuvor einige einschlägige taten ausgeführt hatte - und obwohl der hessische verfassungsschutz einige männer aus dem direkten umfeld von stephan ernst als v-männer "beschäftigte" und entlohnte... (click)

auch die fahndung nach dem mörder von walter lübcke begann nach meinem empfinden zunächst recht zögerlich und unter großen vorbehalten. 

zunächst dachte man wohl eher an einen suizid, dann an eine tat aus einem dubiosen umfeld mit zumeist "jungen männern", die u.a. die originalen tatort-spuren verändert haben sollen, an eine "beziehungstat" - und man suchte in diesem zusammenhang auch nach motiven aus dem familiären umfeld - ehe dann eine winzige schuppe von stephan ernst die richtige spur legte. jedoch fand in unmittelbarer nähe zum tatort ein volksfest statt - und zeugen meinten, einen caddy und ein weiteres fahrzeug nach einem schussgeräusch wahrgenommen zu haben.

und nicht nur die sicherheitsbehörden haben ja schon seit mindestens 80 bis 100 jahren bereits eine starke sehschwäche auf ihrem rechten auge - auch die union insgesamt hat sich immer schwer getan in ihrer geschichte mit der abgrenzung nach rechts: erst heute lese ich in der "zeit": "nach dem mord an walter lübcke grenzt sich die unionsführung mit neuer härte ab. doch nicht alle wollen folgen – besonders im osten nähern sich die christdemokraten den rechtsaußen" ...

und das alte strauß-credo: "rechts von der union darf es keine demokratisch legitimierte partei geben" führte ja auch noch dazu, eine ganze reihe von rechtem gedankengut in die eigenen reihen zu integrieren und aufzusaugen, was ja auch jahrelang ganz selbstverständlich gang und gäbe war. 

erst recht fand das direkt in der aufbauphase der bundesrepublik unter konrad adenauer statt, was diese unsägliche "tradition" geradezu begründet hat: da ist - als nur ein beispiel - der staatssekretär hans globke zu nennen. wikipedia schreibt unwidersprochen dazu:
Hans Josef Maria Globke (* 10. September 1898 in Düsseldorf; † 13. Februar 1973 in Bonn) war Verwaltungsjurist im preußischen und im Reichsinnenministerium, Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und Hauptverantwortlicher für die judenfeindliche Namensänderungsverordnung in der Zeit des Nationalsozialismus sowie von 1953 bis 1963 Chef des Bundeskanzleramts unter Bundeskanzler Konrad Adenauer.
Globke ist das prominenteste Beispiel für die Kontinuität der Verwaltungseliten vom „Dritten Reich“ zur frühen Bundesrepublik Deutschland. In der Adenauer-Ära war er als „graue Eminenz“ und engster Vertrauter des Kanzlers verantwortlich für Personalpolitik, Kabinettsarbeit, die Einrichtung und Kontrolle von BND und Verfassungsschutz sowie für Fragen der CDU-Parteiführung. Zu seinen Lebzeiten wurde sein Einsatz für die nationalsozialistische Diktatur nur teilweise bekannt. Im In- und Ausland immer wieder scharf angegriffen, wurde er von der Regierung, dem BND und der CIA aber immer geschützt.

und auch der landtags-wahlkampf in bayern zeigte ja, dass man die rechts außen anwachsende popularität der afd dort mit noch stringenteren rechten inhalten besonders im flüchtlingsdilemma kleinhalten wollte: man nannte das dann verschämt "die union muss sich breiter aufstellen" ... - und so wollte man diese afd eben an die wand drücken: mit kompromissen und augen-zu-und-durch gegenüber der rechten denke.

da war eben nichts von der jetzt von frau merkel apostrophierten "tabulosigkeit" bei der aufdeckung rechter gräueltaten zu spüren - auch nicht schon direkt nach dem krieg bei der aufklärung der nazi-verbrechen. erst jetzt zerrt man 95-jährige unmaßgebliche mitläufer in den kz-wachmannschaften vor den kadi, die sich nun nach 80 jahren als kriegsverbrecher bekennen sollen.

auch im nsu-prozess gibt es nach wie vor viele blinde angeblich unaufgeklärte flecken und geschwärzte verfassungsschützer-dokumente und dunkle schatten, die mit vereinten kräften verschwiegen werden. 

und die abservierung des verfassungsschützers maaßen - nach wie vor cdu-genosse und dort mitglied des sogenannten "wert-konservativen" flügels, der "werte-union" - geschah ja auch erst nach vielen winkelzügen des ministers seehofers: "rin inne karturbeln - rut ut de karturbeln", wie man früher gern bei einem solchen hin und her auf platt sagte.

frau merkel spricht ja noch davon "sonst (!) haben wir einen vollkommenen verlust der glaubwürdigkeit"... und ich finde, dazu ist mein bonus bereits zerschlissen: die glaubwürdigkeit wurde bereits in die tonne getreten. auch frau akk beschäftigt sich lieber recht fragwürdig mit der rezo-kritik und lässt die "neuen besen" zum auskehren in der ecke stehen ... 


karikatur: reiner schwalme - tagesspiegel



von oktopussen & fake news: "die route wird neu berechnet"





da liegt die abgebrochene kuppel des "capitols" vor dem gerade zusammengebrochenen 7 meter hohen "turm zu babel" - hier eine sinedi-montage von der "nord-art" in rendsburg-büdelsdorf: "babylonian" - ein werk des chinesischen künstlers xi jianjun 奚建军: 通天塔, 2017 – 2018

ja - das ist die allgemeine verunsicherung, die die menschheit ergriffen hat in diesen breitengraden: "die route wird neu berechnet", so lautete der titel eines alljährlich stattfindenden "kultur-symposiums" der goethe-gesellschaft in weimar (click), auf dem 80 internationale experten und expertinnen ihre jeweilige sicht auf die (digitale) zukunft werfen.

und bei der frage, wer oder was denn diese route (der menschheit) neu berechnet, bin ich schon für mich mit einem schlag beim motto des diesjährigen kirchentages in dortmund: "was für ein vertrauen" (click) - denn ich benutze die metapher des "navis" mit der neu berechneten route, das den autofahrer per algorithmen und "gps" durch den feinbestäubten straßenverkehr lotst, ja auch gern für ein von mir behauptetes und wahrnehmbares inneres "navi", dass mir per gutem oder schlechtem "gewissen" meinen weg durch die fährnisse und wiggeligkeiten des alltags weist. und bei diesem inneren wegweiser weiß bzw. ahne ich, dass hier gott in seinen verschiedenen attributen und seiner all-überall umfassenden omnipräsenz und dreieinigkeit den weg und den ton angibt - mit dem erspüren von "richtig" & "falsch" und "gut" & "schlecht".

und dieses "zurechtfinden" in dieser jetzigen lebensspanne und vielleicht auch darüber hinaus, diese urgefühle von liebe, sicherheit und geborgenheit überlasse ich lieber nicht irgendwelchen in silicon valley ersonnenen digital-gesteuerten algorithmen - sondern ich vergewissere mich meiner gewissheit im trauten "gott-vertrauen": also weniger ständige "neu-routenberechnung", sondern (an)leitung und führung: für die menschheit in ihrer entwicklung und ihrem jeweils individuellen sosein durch all die jahre und epochen und zeitalter - bis hierhin, wo ich diese zeilen hier in die computer-tastatur hacke, die du jetzt - in diesem einzigartigen und unwiederholbaren jetzigen original-moment - liest.

hierbei begegnen sich absender*in und empfänger*in ganz anonym im jeweiligen impuls des erlebens.

und dabei fällt mir immer ein alter sinnspruch ein, den ich in der "brockensammlung" in bethel entdeckte: "gott hat uns keine sturmfreie fahrt über die meere verheißen - wohl aber ein sicheres landen" ...

wir haben etwas hinter uns gelassen - aber wir sind noch nicht angekommen: wir leben in umbruchzeiten: das "alte" trägt nicht mehr - und das "neue" haben wir noch nicht gefunden ...

und was predigte die pastorin sandra bils im schlussgottesdienst beim kirchentag im borussia-dortmund-stadion über uns? - ja, sie hat uns als "gurkentruppe" bezeichnet: "gottes geliebte gurkentruppe" ... (siehe predigt-video) - in all unserem unvermögen - in all unserer angst und verzagtheit - und unserem "pfeifen im wald" ...

auch die werke auf der kunst-ausstellung "nord-art" (click) in rendsburg-büdelsdorf hatten diese aktuell wahrgenommenen übergangszeiten zum thema, die derzeit weltweit die diskurse beherrschen: das zweiteilige oben abgebildete werk des chinesen xi jianjun mit der abgebrochenen kuppel des "capitols" und dem aufgesprengten "turm zu babylon" bilden für mich diese "halbzeit-spanne" zwischen den "spielhälften" ab - und wer genau hinschaut erkennt an den säulen des babylon-turms die buddhistischen pagodenhaftigkeiten neben den klassischen griechischen säulen: wir sind zwar - aber im glück - und im unglück - sind wir vereint... 

der wissenschaftler des weimarer symposiums, toby walsh, will nie wieder oktopus-salat zu sich nehmen, weil er plötzlich respekt bekommen hat bei der erkundung dieser eigentlich als hässlich geltenden "einfachen" kopffüßler aus der tiefsee, wo intakte hirnneuronen den ganzen körper durchziehen, vom geräumigen kugelkopf bis in die äußerlich glibberigen fangarmfingerspitzen - was einige forscher sogar veranlasst hat anzunehmen, die wiege dieser spezies läge vielleicht außerhalb der terristischen gewässer vielleicht irgendwo im weltall und sie wären vielleicht als blinde passagiere mit einem kometen auf die erde gelangt - und diese oktopusse sind sogar reflexiv in der lage, uns als menschen aus einer anderen lebens- und umwelthemisphäre wahrzunehmen.

ich musste bei meiner lektüre des allgemein profanen oktopus-soseins an meine aufsätze hier im blog über das "bauchhirn" ("durchzogen von hirn"...) und den jahrmillionen alten winzigen aber milliardenschweren stämmen der erst jetzt allmählich erforschten mikrobiom-organismen in diesem "bauchhirn"-bereich denken, die in gegenseitigen (!) impulsen mit dem nervengeflecht im haupthirn im kopf kommunizieren und in verbindung stehen. gefühlt scheint mir das also durchaus verwandt zu sein mit den attributen zum werdegang der oktopusse.

auf diese uralte fragestellung der menschheit
  • woher kommen wir - 
  • wo sind wir im all verortet - 
  • wohin gehen wir - 
  • wie verbleiben oder vergehen wir -
werden wir zu dieser eigentlich ja die ganze menschheitsentwicklung begleitenden und durchziehenden übergangs- oder zwischenzeit wohl niemals abschließende antworten finden. immer wieder - quasi zyklisch - bringen sich "typen" und neuerdings auch "typinnen" in stellung, um deutungs- und meinungshoheit zu gewinnen. und diese zyklen wiederholen sich in immer neuen rollenspielen und tragödien in unterschiedlichen zeitabfolgen und epochen.

und der croupier am spieltisch des lebens-roulette fordert immer wieder neu dazu auf: „faites votre jeux!“ („machen sie ihr spiel!“) - und im vertrauen auf gott setzen wir (uns ein) - und schauen gebannt auf die rundherum rotierende kugel dieser welt ... - deren route immer wieder neu berechnet wird: keine "sturmfreie fahrt" - wohl aber ein "sicheres landen" ... 

und chuat choan - und nix für ungut ...




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Digitale Revolution 
Die Zukunft ist jetzt

Christiane Peitz | Tagesspiegel

Toby Walsh verzehrt keinen Oktopus mehr. Der australische A.I.-Forscher stieß bei seinen Studien über künstliche Intelligenz auf die Jahrmillionen alten Kopffüßler, deren immense Gehirnmasse in den Krakenarmen steckt und die beweisen, dass nicht nur der Mensch ziemlich schlau ist und Intelligenz anders aussehen kann, als unsereins sie sich vorstellt.

Wer sich mit der Zukunft befasst, der stößt schnell auf die Vergangenheit. Was lehren uns Tintenfische über das selbstständige Denken? Können wir von der industriellen Revolution etwas für die digitale Revolution lernen? Und von den 1920er Jahren über den Populismus und den jetzt wieder propagierten neuen Menschen? Es passt jedenfalls gut, dass das dreitägige Symposium des Goethe-Instituts „Die Route wird neu berechnet“ über die aktuellen Umbrüche in der Stadt angesiedelt war, wo vor 100 Jahren die Weimarer Republik ausgerufen und das Bauhaus gegründet wurde.

Der Mensch liebt lebendige Interaktion

Wie orientieren wir uns angesichts der grassierenden Verunsicherungen? Wie verändert sich die menschliche Autonomie durch die künstliche Intelligenz? Wie sieht die digitalisierte Arbeitswelt von morgen aus? Was tun angesichts der erstarkenden Nationalismen und sich spaltender Gesellschaften? Rund 70 Expertinnen und Experten aus der ganzen Welt diskutierten in Weimar, praktisch alles außer dem Klimawandel, der aus Gründen der schieren Themenmenge nicht explizit auf der Agenda stand und dennoch omnipräsent war. Und am Abend tanzte Huang Yi aus Taiwan mit dem Industrieroboter KUKA einen pas de deux – was einem die beruhigende Erkenntnis bescherte, dass eine noch so raffiniert programmierte Maschine es mit der Anmut eines Menschen so schnell nicht aufnehmen kann.

Toby Walsh hatte zunächst eher fröhliche Aussichten skizziert, von der Vier-Tage-Woche dank automatisierter Arbeit bis zur Tatsache, dass unsere Fahrräder weiter von Menschen repariert werden, weil der Homo sapiens die lebendige Interaktion liebt und bislang kein A.I.-Labor weltweit die zeitintensive Entwicklung eines Radreparatur-Roboters auch nur angedacht hat. Gleichzeitig gehört er jedoch zu den Mahnern seiner Zunft.


Viele werden ihre Arbeit verlieren

„2062“ heißt Walshs kürzlich auch auf Deutsch erschienenes Buch, in dem die Risiken des Homo digitalis ebenso ausführlich verhandelt werden wie die Chancen. Es wird hart, sagt er im Gespräch am Rande des Symposiums, viele werden ihre Arbeit verlieren. Und schon jetzt sei es mittels Deepfake und Stimmcomputern möglich, dass etwa Donald Trump jeden einzelnen US-Bürger „anruft“ und mit ihm ein persönliches Gespräch führt. Walsh ist sich sicher, dass in sehr naher Zeit wichtige Wahlen durch Deepfakes manipuliert werden und die Täuschung zu spät auffliegt, um am Wahlausgang noch etwas zu ändern. Gleichzeitig ist er skeptischer als die 300 von ihm befragten Kollegen. Deren Durchschnittsprognose, wann die Intelligenz digitaler Maschinen der menschlichen ebenbürtig ist, läuft auf das Jahr 2062 hinaus. Er glaubt, es dauert eher noch 100 Jahre. Die Zukunft ist weit weg – und gefährlich nahe.

Am anderen Morgen sitzt Walsh auf dem Panel zum Thema Killerroboter und wird wütend, als Kara Frederick vom CNAS, einem US-Thinktank für nationale Sicherheit, ein weltweites Verbot autonomer Waffensysteme für schwierig hält, weil es keinen Konsens über deren Definition gebe. Bislang scheitert ein Bann in der UN am Veto von vier Ländern: USA, Russland, Israel, Australien. Kontroversen sind selten auf diesem Symposium, auf den Podien sitzen meist Gleichgesinnte. Dabei gilt es doch eigentlich, sich dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ zu beugen, wie Thüringens Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff (Linke) bei der Eröffnung den Jubilar Habermas zitierte.

Der britische Robotik-Experte Noel Sharkey ist ein Meister dieses „zwanglosen Zwangs“. In Sachen Killerroboter reist er durch die Welt und versucht die auf sanftere Diplomatie setzenden Politiker auch in Deutschland von der Gefährlichkeit der immer schnelleren, billigeren Waffen zu überzeugen. Maschinen, die per Algorithmus über Leben und Tod entscheiden und auch Grenzen sichern sollen, verstoßen massiv gegen die Würde des Menschen, fügt der südafrikanische Anwalt Thompson Chengeta mit beeindruckender Präzision hinzu. Alleine das Werbevideo eines Waffenherstellers mit Schwärmen von Mini-Drohnen, die zielsicher Dutzende vermeintliche bad guys niedermähen, war die Reise nach Weimar wert. Ein Horrorszenario? Diese Zukunft ist jetzt. Toby Walsh hat 30 000 Experten- Unterschriften dagegen gesammelt.

Die Männer reden, die Frauen reden schneller – und handeln. Dankenswerterweise hat das Goethe-Institut nicht nur Diskurs-Stars wie den Inder Pankaj Mishra („Zeitalter des Zorns“) oder den US-Historiker Timothy Snyder („Der Weg in die Unfreiheit“) eingeladen, sondern auch zahlreiche Gäste, deren Namen zu Unrecht weniger geläufig sind. Kulturschaffende, die in Polen, Brasilien oder auf den Philippinen schikaniert werden und weitermachen, Exil und Gefängnis riskieren. Energische, mutige, gewitzte Frauen, die so manchen der Männer alt aussehen lassen.

Es lohnt sich zu kämpfen

Zum Beispiel Sarah Chen, die in Amerika den „Billion Dollar Fund“ für Start-ups von Frauen ins Leben gerufen hat. Geld ist Macht, Frauen brauchen Geld: Nicht der Gender Pay Gap ist das größte Übel, sondern die Tatsache, dass Frauen in den USA nur zwei Prozent des Risikokapitals bekommen. Das ändert sie nun. Oder die Schriftstellerin Panashe Chigumadzi aus Zimbabwe. Mit nur einem Satz erhellt sie den komplexen Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Migration: „Die Flüchtlinge sind hier, weil ihr dort wart.“

Die griechische Politologin Daphne Halikiopoulou kritisiert die fatalistische Geschichtsblindheit angesichts des Rechtspopulismus. Dessen Vertreter haben in den letzten Jahren Wahlen durchaus wieder verloren, siehe FPÖ, siehe Jean-Marie Le Pen. Ende Gelände bei der Rettung der Demokratie? Es lohnt sich zu kämpfen. Halikiopoulou glaubt nicht an die schlichte These von den abgehängten Globalisierungsverlierern. Sie will wissen, warum die Narrative der Rechtspopulisten auch für den Mainstream attraktiv sind. Und warum so wenig andere attraktive Narrative kursieren.

Oder die Journalistinnen Olga Yurkova und Lina Attalah, aus der Ukraine und Ägypten. Yurkova hat mit der regierungsunabhängigen Website stopfake.org in fünf Jahren mehr als 3000 russische Fake News enttarnt, die Seite erscheint inzwischen in elf Sprachen. Attalah trotzt als Chefredakteurin der Online-Zeitung „Mada Masr“ dem Schweigen in ihrem Land, dem Verschwinden der Öffentlichkeit. Jüngstes Beispiel: die kurze Meldung über den mysteriösen Tod von Ex-Präsident Mursi im Gerichtssaal.

Zuvor hatte der Historiker und Bestseller-Autor Timothy Snyder über die Kolonisierung der Zeit gesprochen. Ob Putin, Trump oder Bolsonaro, sie kapern die Zukunft, indem sie ihren autokratischen Status Quo verewigen wollen. Snyder verneigt sich vor der Kärrnerarbeit der Frauen. „Flutet die Zone mit Fakten“, ruft er und fordert die demokratischen Gesellschaften auf, den Preis dafür zu bezahlen. Fiktionen gibt es umsonst, Fakten kosten Zeit, Arbeit, Geld, Leidenschaft.

Snyder hat ein paar praktische Vorschläge, wie die Zukunft sich befreien ließe. Er möchte die kognitive Dissonanz auflösen, die Tatsache, dass der Mensch sich so leicht von Algorithmen täuschen lässt und sich ihnen zunehmend anpasst, mit binärem Denken und der Verwechslung von Quantität mit Qualität. Alle Schulkinder sollen in der dritten Klasse ein Jahr lang nichts anderes machen, als investigativ zu recherchieren. Dort wo sie leben, in der analogen Welt, ohne Internet. Einmal im Jahr ist Hammer-Tag. Dann dürfen alle elektronischen Geräte in der Klasse kurz und klein geschlagen werden. Es wäre die anarchische Methode zur Wiederherstellung der Autonomie. Kassandrarufe können auch heiter sein.

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und dazu:

Oktopoden

Acht Arme, drei Herzen und Gehirn im ganzen Körper


Der eiförmige Mantel und die großen Saugnäpfe dieses Oktopus sind typisch für den Zirrenkraken. (Foto: mauritius images)




Oktopoden, Kraken und Kalmare sind so bizarr, als wären sie Wesen von einem anderen Stern. Zugleich beeindrucken sie durch Feinfühligkeit und Intelligenz.

Von Patrick Illinger | SZ



Acht Arme, manchmal auch zehn, dazu drei Herzen und ein Gehirn, das nicht nur im Kopf steckt, sondern bis in die äußersten Extremitäten verästelt ist. Farbe und Musterung der Haut passen sich in Sekundenbruchteilen der Umgebung an. Knochen haben sie keine, aber ein knackiges Gebiss. Und für die Fortbewegung steht ein Düsentriebwerk zur Verfügung. Braucht es noch mehr anatomische Details, um solche Wesen zweifelsfrei als Aliens zu identifizieren? Als nicht von dieser Welt?

Tatsächlich sind Cephalopoden, zu Deutsch Kopffüßler, und unter ihnen besonders der Oktopus, seit Millionen Jahren feste Bewohner der irdischen Biosphäre. Wer diese Kreaturen nur als Salat beim Griechen kennt oder als Monster aus alten Seefahrergeschichten, wird dem biologischen und philosophischen Phänomen Oktopus nicht gerecht. Es ist, als hätte die Evolution vor Urzeiten zwei Experimente gestartet, das eine führte zum Menschen, das andere zum Tintenfisch. Der letzte gemeinsame Vorfahr beider Spezies muss ein wurmartiger Glibber gewesen sein, der vor 600 oder 700 Millionen Jahren lebte - lange vor der kambrischen Explosion, die erdgeschichtlich als Urknall der Artenvielfalt gilt. Heute existieren Oktopoden in allen Größen, Farben und Formen. Von wenigen Zentimetern bis zu den sieben Metern Spannweite des Pazifischen Oktopus reicht ihre Größenskala. Noch größere Cousins, oft fälschlich als "Riesenkraken" betitelt, sind tatsächlich Kalmare, deren Anatomie sich vom Oktopus unterscheidet.

Während sich an Mäusen, Primaten oder anderen Wirbeltieren neue Wirkstoffe oder Verhaltensmuster erforschen und auf den Menschen übertragen lassen, versagen beim Tintenfisch die Analogien. Schon die übliche Trennung von Körper und Geist verliert ihren Sinn: Beim Oktopus ist unklar, wo das Gehirn anfängt oder endet. Das Netzwerk der Neuronen zieht sich durch den gesamten Körper, und das ist nur eine der Eigenschaften, die den Kontakt mitdiese Wesen so spannend macht: Sie stellen eine real existierende Lebensform dar, die sich auf einem anderen Planeten entwickelt haben könnte. Dass sie wirbellos wie eine Schnecke sind, sollte keinesfalls über ihre herausragenden Fähigkeiten hinwegtäuschen. In seinem Buch "Other Minds", schreibt der Philosoph und passionierte Taucher Peter Godfrey-Smith: "Kopffüßler - Oktopoden, Kalmare und Nautilusse - sind eine Insel geistiger Komplexität inmitten des Ozeans wirbelloser Tiere." Der Philosoph und Oktopus-Forscher Stefan Linquist von der kanadischen University of Guelph sagt: "Wenn du mit Fischen arbeitest, haben diese keine Ahnung, dass sie in einem unnatürlichen Behälter herumschwimmen. Mit Oktopoden ist das völlig anders. Sie wissen, dass sie in dieser seltsamen Umgebung sind, und du, Mensch, außerhalb."

Trotz des komplett anderen Körperbaus gibt es Gemeinsamkeiten mit Menschen und anderen Wirbeltieren: Kurz- und Langzeitgedächtnis, Schlaf, das spielerische Erkunden von Gegenständen und die Fähigkeit, Individuen einer anderen Spezies zu erkennen. Experten haben keinen Zweifel, dass die Saugnapfträger verschiedene Menschen voneinander unterscheiden können und diese "mögen" oder eben nicht. Unbeliebten Tierpflegern spritzen sie zum Beispiel gerne mal einen Wasserstrahl ins Gesicht. So gesehen ist ein auf Hawaii verbreiteter Volksglaube gar nicht so abwegig, wie er zunächst klingt: Demnach ist der Oktopus das Überbleibsel einer Welt, die vor der heutigen existiert hat. Oktopoden wären dann, wenn nicht extraterrestrische, so doch prototerrestrische Wesen.

Schlau bis in die Glieder

Den größten Teil ihres ungewöhnlichen Gehirns haben Kopffüßler nicht im Kopf. Das neuronale Gewebe ist auch um die Speiseröhre herum bis in sämtliche Arme verbreitet. Es funktioniert wie ein körpereigenes Internet. Insgesamt 500 Millionen Nervenzellen, von denen zwei Drittel in den Extremitäten stecken, machen die Tiere erstaunlich beweglich und verleihen ihnen ein gehöriges Maß Intelligenz. Jeder Arm hat seine eigene Sensorik und Steuerung. Auch können die Gliedmaßen Chemikalien und Licht erkennen. Jeder Saugnapf hat 10 000 Neuronen. Bienen zum Beispiel, die immerhin eine Landkarte ihrer Umgebung im Kopf behalten können und ihr Wissen anderen Artgenossen mitteilen, kommen mit insgesamt einer Million Neuronen aus. Das Hunderte Mal so komplexe Denkorgan von Oktopoden macht die Tintenfische zwar nicht klug nach konventionellen menschlichen Maßstäben. Doch sie sind zu enormen kognitiven Leistungen fähig, die sie als Einzelgänger nicht von anderen erlernen können. Die Kopffüßler erschließen sich ihre Welt und die Objekte darin mit unzähligen tastenden Bewegungen. Auch zeigen die Tiere bei längerer Beobachtung individuelle Charaktere: Manche sind abenteuerlustiger als andere. Dass die beteiligten Arme zugleich Hirnareale sind, ist dabei sicher hilfreich.

Inky, der Ausbrecher

Ob er genug hatte vom Leben im Glaskasten? Nein, meinten die Tierpfleger des National-Aquariums von Neuseeland an der Hawke's Bay im Osten des Landes. Der Oktopus namens Inky sei einfach immer schon neugierig gewesen. Immer für die eine oder andere Überraschung gut, habe Inky wohl nur herausfinden wollen, was die Welt noch so zu bieten hat. Dass er entwendet oder von anderen Tieren gefressen wurde, könne man ausschließen, beteuerte der Aquariumleiter. Inky hat vielmehr eines Nachts eine Lücke im Deckel seines Beckens gefunden, ist an der Glaswand hinabgerutscht und einige Meter weit über den Fußboden geglitscht, bis zu einem 50 Meter langen Abwasserrohr, das ins offene Meer führte. Sein weniger abenteuerlustiger Artgenosse namens Blotchy blieb zurück. Der im April des vergangenen Jahres bekannt gewordene Ausbruch erinnert an die spektakulären Fluchtgeschichten mexikanischer Drogenbarone. "Ungewöhnlich intelligent" beschrieben die Aquariummitarbeiter den entkommenen Tintenfisch. Und seine Geschichte ist nicht die einzige solche Anekdote: In einem anderen Aquarium Neuseelands zeigte sich, dass ein Oktopus nachts regelmäßig andere Becken aufsuchte, um die dortigen Krabben zu verspeisen und dann in sein eigenes Gehege zurückzukehren.

Mit der Haut sehen

Für das Sehen benutzen Oktopoden nicht nur ihre Augen. Eine im Journal Evolutionary Biology veröffentlichte Studie zeigte, dass die Haut der Tintenfische auch ohne eine Verbindung zum Gehirn lichtempfindlich ist. Die Haut enthält Proteine namens Opsin, wie es auch in Sehpigmenten von Augen enthalten ist. Zwar können die Oktopusse mit ihrer Haut keine Details erblicken, doch ermöglicht ihnen die unabhängige "Sehfähigkeit" der Haut, ihre Tarnung in Rekordgeschwindigkeit an die Struktur und Farbe der Umgebung anzupassen. Das Tier könne keine Kontraste oder Kanten wahrnehmen, wohl aber Wechsel der Lichtintensität, schrieben die Studienautoren. In anderen Laborexperimenten wurden Tintenfische beobachtet, die ihr Aussehen 177-mal in einer Minute veränderten. Trickreich sind dabei die sogenannten Chromatophoren, kleine Farbpunkte in der Haut, die je nach Lichteinfall vergrößert oder verkleinert werden. Es ist die biologische Version eines Flachbildschirms, wo Farben ebenfalls durch die Kombination einiger Grundfarben erzeugt werden. Die Forscher konnten zudem feststellen, dass sich die Chromatophoren auch mit elektrischen Impulsen vergrößern und verkleinern lassen. Die verblüffende Tarnfähigkeit der Oktopoden ist offenbar keine Kopfsache, folgern die Tintenfisch-Forscher.

Alle Arme an die Arbeit!

Wie kontrolliert man acht gleichberechtigte und gleich gebaute Extremitäten, ohne dass sich die Körperteile ständig in die Quere kommen? Das ist eine Frage, die Neurobiologen wie auch Computerwissenschaftler an ihre Grenzen bringt. Wollte man einen Roboter mit den Fähigkeiten eines Oktopus bauen, bräuchte es unvorstellbare Rechenkraft für die Koordination der Arme. Der Tintenfisch aktiviert nach Erkenntnissen israelischer Wissenschaftler mit seinem Kopf mehrere autonome Programme im Nervengeflecht der Arme. Wie die Steuerung im Detail abläuft, ist jedoch noch unbekannt. Die Forscher aus Rehovot und Jerusalem untersuchten die Kinematik des Krabbelns und waren verblüfft: Trotz seines grundsätzlich bilateralen Körperbaus (zwei Augen) kann der Tintenfisch aus dem Stand gleich gut in jede Richtung krabbeln. Anders als bei jedem anderen krabbelnden (oder laufenden) Lebewesen, gibt es keinen wiederkehrenden Rhythmus in den Gliedmaßen. Es werde offenbar von Moment zu Moment spontan und arhythmisch entschieden, welcher Arm nun auf welche Weise bewegt werden soll, schließen die Forscher. Andererseits können Oktopusse durchaus mit ihren Augen Gegenstände wahrnehmen und mit einem einzelnen Arm danach greifen.

Riesenkalmare, Tintenfisch-Bewusstsein, Dosenöffner
Die XXL-Version

La Coruña, Nordspanien, Oktober 2016. Ein 105 Kilogramm schwerer Riesenkalmar lag plötzlich verletzt am Strand. 2015, in der Nähe von Tokio: Ein junger Riesenkalmar schwamm plötzlich in einem Hafenbecken herum. Es gibt sie, die ominösen Riesentintenfische, wobei zwischen Kalmar und Krake (Oktopus) zu unterscheiden ist. 2004 hatte der Japaner Tsunemi Kubodera erstmals Riesenkalmare mit Unterwasserkameras fotografiert. Sie sind die XXL-Ausführung der Kopffüßler, wenngleich mittelalterliche Geschichten von in die Tiefe gerissenen Schiffen damit nicht bewiesen sind. Über das Leben der real existierenden Riesentintenfische, deren Augen bis zu 40 Zentimeter groß sein sollen, ist indes abseits der gelegentlichen Begegnungen mit Menschen wenig bekannt. Erbgutuntersuchungen lassen vermuten, dass es weltweit nur eine Spezies dieser Megakalmare gibt: Architeuthis dux. Womöglich treiben die Jungtiere mit der Meeresströmung um den Globus und siedeln später in die Tiefe der Meere um. Für Calamari fritti taugt diese Spezies übrigens nicht: In seinem Muskelgewebe ist viel Ammoniumchlorid enthalten, was bestialisch stinkt und das zähe Fleisch ungenießbar macht. Pottwale stört das nicht, Riesenkalmare gehören zu ihrer bevorzugten Beute.

Ausdauernde Brutpflege

Viereinhalb Jahre lang hat eine weibliche Krake in der Tiefsee ausgeharrt, um ihre Eier zu bewachen. Eine derart lange Brutzeit sei bei keinem anderen Tier bekannt, berichteten Forscher im Jahr 2014. Die Wissenschaftler um Bruce Robinson vom Monterey Bay Aquarium Research Institute in Kalifornien hatten das knapp zehn Zentimeter lange Exemplar einer Tiefseekrake der Art Graneledone boreopacifica im Frühjahr 2007 mit einem Tauchroboter in 1400 Metern Tiefe entdeckt. Bei insgesamt 18 Tauchgängen in den folgenden Jahren beobachteten sie, wie das Weibchen ein Gelege aus olivengroßen Eiern behütete. Während der Nachwuchs heranwuchs, wurde das Weibchen dünn und bleich. Die Forscher konnten es nie beim Fressen beobachten, stattdessen war es damit beschäftigt, seinen Eiern frisches Wasser zuzufächeln und Feinde zu vertreiben. Zuletzt sahen die Meeresbiologen das Tier im September 2011. Wenige Wochen danach war es verschwunden und wahrscheinlich tot. Die leeren Eikapseln ließen auf etwa 160 geschlüpfte Kraken schließen. Die Forscher vermuten, die Brutphase sei so intensiv, weil die niedrige Temperatur in der Tiefsee die Entwicklung der Eier verlangsame und die Jungtiere bessere Überlebenschancen hätten, wenn sie beim Schlüpfen weit entwickelt seien.

Bei vollem Bewusstsein

Haben Oktopusse ein Bild von sich selbst? Können sie sich zumindest eine rudimentäre Vorstellung machen von ihrem Platz in der Welt und der Endlichkeit des eigenen Daseins? Ja, sagte eine Gruppe anerkannter Neurowissenschaftler 2012 in ihrer "Cambridge-Erklärung über Bewusstsein". Darin hieß es: "Die Beweislast deutet darauf hin, dass nicht nur Menschen neuronale Substrate besitzen, die Bewusstsein erzeugen." Aus der Tierwelt sei ihrer Ansicht nach neben Säugern und Vögeln als einziges wirbelloses Tier der Oktopus hinzuzuzählen. Dass die Achtarmigen Meeresbewohner Werkzeuge benutzen, zum Beispiel, wenn sie Kokosnussschalen mitführen, um sich im Notfall damit zu schützen, unterstützt die These vom selbstbewussten Tintenfisch. Dagegen spricht nach Ansicht einiger Fachleute, dass manche Kopffüßler Artgenossen fressen. Widerspricht nicht animalischer Kannibalismus der Idee vom geistigen Selbstbildnis? Tatsächlich darf man hier womöglich nicht vom menschlichen Wertesystem ausgehen, argumentieren manche Forscher (abgesehen davon, dass es auch in der Menschheitsgeschichte Kannibalismus gab). Fast alle Oktopus-Arten sind radikale Einzelgänger und als solche sozialisiert, was das Mitgefühl womöglich einschränkt.

Dosenöffner und Pingpong-Spieler

Das Öffnen eines Schraubverschlusses gehört zu den bekanntesten Fähigkeiten der Oktopoden. In unzählbaren Experimenten haben die Tiere verschlossene Behälter geöffnet. Dabei stellten Forscher zwei Dinge fest: Erfahrung macht den Meister. Je öfter die Tiere die Übung absolvierten, desto schneller wurden wie. Und die Aussicht auf Belohnung beschleunigte ihre Mechaniker-Lehre: Ist eine Krabbe in einem Glasgefäß zu sehen, geht das Öffnen deutlich schneller vonstatten. Gleiches konnten Biologen feststellen, indem sie den Deckelrand einer verschließbaren Dose mit einem Stück Hering einrieben. Die Forscher vermuten, dass der Geruchseindruck die Tiere sozusagen zum intensiveren Experimentieren ermuntert, während sie an einer neutralen Dose schneller das Interesse verlieren. Doch nicht nur, wenn sie Essbares vermuten, sind unbekannte Objekte für Oktopusse eine spannende Sache. Jennifer Mather von der kanadischen University of Lethbridge hat beobachtet, wie manche Oktopusse ausgiebig mit einer leeren Pillendose spielen, indem sie diese mit ihrer körpereigenen Wasserdüse quer durch das Aquarium schießen. Einmal spielten sie sogar Pingpong, indem sie den Sprudler ihres Beckens als Gegenspieler nutzten, der die Dose immer wieder zurückbugsierte.

Auge um Auge

Evolutionsbiologen wissen seit einer Weile, dass die Natur komplexe Körperteile mehrmals "erfunden" hat. So zum Beispiel die Flügel von Vogel und Fledermaus. Ähnlich ist es mit den Augen von Mensch und Kopffüßler. In Nature Scientific Reports berichteten Biologen vor drei Jahren, dass zwar ein Gen namens Pax6 in allen sehenden Lebewesen eine bedeutende Rolle spielt. Womöglich hat dieses Gen vor Urzeiten irgendwelche Glibberwesen in die Lage versetzt, zumindest hell und dunkel zu unterscheiden. Wenn heutige Lebewesen heranreifen, fungiert dieses Gen wie eine Art Vorarbeiter im Herstellungsbetrieb: Es instruiert andere Gene, die jeweils Teile zum entstehende Auge beitragen. Das Pax6-Gen ist Biologen zufolge älter als 500 Millionen Jahre und hat schon vor der kambrischen Explosion, bei der eine Vielzahl neuer Lebewesen entstand, eine Rolle gespielt. Doch weil sich die Entwicklungslinien von Mensch und Oktopus vor 600 oder vielleicht 700 Millionen getrennt haben, ist es höchst erstaunlich, dass sich die Augen beider Lebewesen heute dennoch stärker gleichen als etwa die Facettenaugen aus dem Insektenreich. Oktopoden, Kalmare und andere Cephalopoden haben so wie der Mensch sogenannte Kameraaugen, die aus einer Art Gehäuse mit Augenflüssigkeit bestehen.

bis 25.06. bin ich offline - schöne pfingsten

nach dem durchzug eines unwetters - teutoburger wald bei bielefeld, 07.06.2019, 21.01 uhr

Pfrohe Pfingsten


Ein begeisterndes Pfingstfest

sinedi.art|montage: pfingsten in symbol und immerwährender realität

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt 
mit immer neuer und zunehmender 
Bewunderung und Ehrfurcht, 
je öfter und anhaltender
sich das Nachdenken damit beschäftigt:
Der bestirnte Himmel über mir, 
und das moralische Gesetz in mir.“

Immanuel Kant | „Kritik der praktischen Vernunft“


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der zahn der zeit - gezogen


so ähnlich wird es sein:
wenn die zeit in feuer & flamme aufgeht
wenn es anfängt zu knistern 
zu schäumen zu brausen
wenn feuerfunken toben und wirbeln

feuer & flamme sein
begeistert sein
brennen und beben vor lust ...

wenn der lauf der zeit
einfach innehält und verschmort:
zu asche zerbröselt im hier & jetzt

die zeit ist nur eine idee
die mit der zeit vergeht
tempus fugit: heureka

wenn der lauf der zeit
nicht mehr als zeitachse läuft
von links - nach rechts:

sondern wenn sie sich zu einem
strahl auftürmt: vertikal
von unten nach oben - und 
von oben nach unten
das ende und der anfang sind im nu
immer wieder neu ...
von oben bis unten ...

der zahn der zeit -  gezogen:
forever young - forever 

sinedi



sinedi.art: reflecting water

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