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erbgerichts-akte zur zwangssterilisation

eine arbeits-kopie der original erbgesundheitsgerichtsakte von 1943 zur zwangssterilisation meiner tante erna kronshage habe ich ende der 80er jahre ad-hoc kopiert im "stadtarchiv bielefeld" aus dem bestand "gesundheitsamt" - und hier nun wiederum als kopie ins netz gestellt - als blätter-magazin bei yumpu: zur einschlägigen information - und für unterricht und studium ... 


wann bekommt frau/man schon mal einen eindruck vom authentischen inhalt einer solchen "erb'gesundheits'gerichts-akte"... - bei der erstellung hab ich mir alle mühe gegeben - vielleicht kann die/der ein oder andere etwas damit anfangen ...

Neue Erkenntnisse zur Diagnose Schizophrenie


dies sind die seiten 47 u. 48 aus meinem 114-seitigen yumpu-bildmagazin: "Nazi-Euthanasiemord: Erna's Leidensporträt", 2018, das die komplexe vielschichtige leidensgeschichte meiner tante erna kronshage von 1942-1944 versucht, zusammenzufassen.


  • 1942 stellte der damalige ns-anstalts-oberarzt dr. werner norda die heute fragwürdige ruck-zuck diagnose "schizophrenie" für seine gerade zuvor eingelieferte patientin erna kronshage in der provinzialheilanstalt gütersloh, aus der sich dann in der folge die kettenreaktionen einer zwangssterilisation im august 1943 ergab ("schizophrenie" galt als erbkrankheit) - und dann eben auch die deportation im november 1943 in die deutsche vernichtungsanstalt "tiegenhof" bei gnesen/giezno im damals besetzten polen -  dort schließlich erna's ermordung nach 100 tagen im februar 1944.
  • beachte besonders mein resümee: ... Aber Schizophrenie unterscheidet sich schon damals ausdrücklich von all den vorübergehenden manchmal eigenartig wirkenden Zuständen, die „psycho-somatisch“, reflexartig ohne eigenes Zutun, als Schutz-Re-Aktionen körperlich ausgelöst werden, wenn sich für die Seele äußere Ereignisse als bedrohlich oder einschneidend darstellen ...
     
80 jahre später las ich nun dazu im "spiegel" folgenden aufsatz über "gefährliche infektionen" von 2019 - in der auch interessante neue erkenntnisse zur "schizophrenie" diskutiert werden:


Gefährliche Infektionen

Wie Entzündungen im Körper zu Depressionen führen können

Lange rätselten Forscher darüber, wie große seelische Leiden entstehen. Das klärt sich nun auf – im Fokus der Forscher: das Immunsystem.

Von Veronika Hackenbroch • 21.06.2019 - Spiegel + /Wissenschaft

Manche Krankheitsgeschichten sind so verrückt, dass man alle medizinischen Wahrheiten über Bord werfen muss, um sie zu verstehen. So auch die Geschichte jenes 67-jährigen Mannes, der an Leukämie erkrankte und deshalb eine Stammzelltransplantation brauchte, ein neues Immunsystem mithin, das das alte, kaputte ersetzen sollte. Eine Routineprozedur eigentlich. Ein jüngerer Bruder, der an Schizophrenie litt, war bereit, die Stammzellen zu spenden.

Nachdem dem Älteren die Zellen des Jüngeren übertragen worden waren, lief zunächst alles glatt. Die Leukämie war geheilt. Aber dann wurde das Medikament, mit dem das neue Immunsystem zunächst noch unterdrückt worden war, abgesetzt. Und plötzlich fing der 67-Jährige an, Stimmen zu hören. Stimmen, die ihm drohten, die kommentierten, was er erlebte. Er entwickelte bizarre Wahnvorstellungen, war überzeugt, andere könnten seine Gedanken lesen. Am Ende hegte er Selbstmord- und Mordgedanken.

Ärzte konnten alle naheliegenden Ursachen für diese psychotischen Symptome ausschließen. Der Mann hatte keinen Tumor im Kopf und keine Virusinfektion, keine Borreliose und kein Delir. Und obwohl er als Bruder eines an Schizophrenie Erkrankten selbst ein erhöhtes Risiko hatte, Opfer dieses psychiatrischen Leidens zu werden, wäre es extrem untypisch gewesen, wenn es ihn in seinem fortgeschrittenen Alter noch erwischt hätte.

Wurde dem Mann mit dem Immunsystem seines Bruders auch dessen Schizophrenie übertragen?

"Ich finde das plausibel", sagt Norbert Müller, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er beschäftigt sich schon rund 30 Jahre lang mit dem Zusammenspiel von Immunsystem und psychischen Erkrankungen. Lange Zeit war er damit ein wissenschaftlicher Außenseiter.

Jetzt sieht es so aus, als wenn Müller seiner Zeit voraus gewesen war: Die Immunoneuropsychiatrie, die Wissenschaft, die die vielfältigen Verflechtungen zwischen Immunsystem, Gehirn und Psyche erkundet, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der spannendsten Forschungsgebiete in der Medizin entwickelt.

"Die Sicht auf Krankheiten wie Schizophrenie, Depression und Autismus ändert sich gerade", sagt Marion Leboyer, Professorin für Psychiatrie an der französischen Université Paris-Est Créteil. 20 Jahre lang habe sie die Genetik der psychischen Erkrankungen erforscht, erzählt sie, durchaus mit Erfolg, "aber ohne große Hoffnung, daraus einmal Therapien entwickeln zu können". Deshalb sei sie vor rund zehn Jahren auf das Gebiet der Immunologie gewechselt.

Die große Hoffnung lautet: psychische Leiden mit Immuntherapien behandeln zu können – wie Krebs oder Rheuma.

Dass Immunsystem und Psyche irgendwie zusammenhängen, ahnte man schon zu Zeiten von Hippokrates (etwa 460 bis circa 370 vor Christus). Damals wurde erkannt, dass Fieber – Zeichen einer Immunreaktion – Psychosen lindern kann. Der Mediziner Galen, der im 2. Jahrhundert nach Christus in Rom praktizierte, beschrieb einen Fall der Melancholie, der durch Malaria geheilt wurde. Und aus dem 18. Jahrhundert stammt ein Bericht über die Heilung "Tobsüchtiger" nach Pockeninfektion.

Doch die moderne Medizin verpasste sich lange Zeit selbst ein Denkverbot. Das Gehirn, so das Dogma, sei "immunprivilegiert", also dem Zugriff des Immunsystems weitgehend entzogen. Die Blut-Hirn-Schranke schotte es gegen Immunzellen ab. Inzwischen weiß man: Ohne die regulierende Funktion des Immunsystems kann der Mensch gar nicht denken.

Eine tätige Rolle dabei spielt eine Klasse von Immunzellen, die im Gehirn ansässig sind und die Forscher lange unterschätzt haben: sogenannte Mikroglia. Sie erspüren mithilfe von Rezeptoren, welche Nervenzellen des Gehirns gerade arbeiten. Durch direkten Kontakt und über Botenstoffe können sie Einfluss auf die neuronalen Übertragungswege nehmen – die Basis für Lernen, Gedächtnis und soziales Verhalten.

In den winzigen Lymphgefäßen der Hirnhäute umfließen auch Körper-Immunzellen das Gehirn. So erhalten sie ständig Informationen über dessen Zustand. Bei Bedarf überwinden sie von den Blutgefäßen aus die Blut-Hirn-Schranke und beeinflussen zudem mittels Botenstoffen die Aktivität von Nervenzellen.

"Es wird immer klarer, dass Immunmechanismen für die normalen, gesunden Funktionen des Gehirns wesentlich sind", sagt Frauke Zipp, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie an der Universitätsmedizin Mainz. "Immunsystem und Gehirn kommunizieren ständig miteinander."

Wichtig für das seelische Wohlergehen ist das richtige Gleichgewicht in dieser Kommunikation. Wird dies gestört, durch Entzündungen oder Autoimmunreaktionen, können psychiatrische Erkrankungen entstehen.

Mittlerweile haben Forscher jede Menge solcher Gefahren für die Hirngesundheit ausgemacht. Infektionen mit Viren und Bakterien gehören dazu; so zeigte eine Kohortenstudie mit mehr als einer Million Menschen, dass Infektionen, die einen Krankenhausaufenthalt nötig machten, das Risiko für eine spätere Schizophrenie oder Depression etwa verdoppelten. Eine Infektion der werdenden Mutter während der Schwangerschaft führt dazu, dass das Kind mit einer größeren Wahrscheinlichkeit als andere autistisch wird.

Ein defektes Darmmikrobiom, also eine falsche Zusammensetzung der dort heimischen Bakterien, trägt wahrscheinlich ebenfalls via Immunsystem zur Entstehung seelischer Krankheiten bei.

Und auch genetische Studien bestätigen die wichtige Rolle der Immunabwehr: Viele der Genvarianten, die das Risiko für eine Depression, Schizophrenie, für Autismus oder andere psychiatrische Störungen erhöhen, beeinflussen die Funktion des Immunsystems.

Stück für Stück setzen Forscher ihre Erkenntnisse zu einem völlig neuen Bild psychischer Störungen zusammen, das zwar noch lückenhaft ist, aber Anlass zur Hoffnung auf neue Therapieansätze gibt – vor allem für die drei großen seelischen Leiden: Depression, Autismus und Schizophrenie.

Für Depressionen gibt es bekannte Risikofaktoren, psychosozialer Stress gehört dazu, psychische Traumata können dazu führen. Solche Geschehnisse fachen Entzündungen im Gehirn und im restlichen Körper regelrecht an. Stress macht zudem die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger, sodass bestimmte Botenstoffe leichter ins Gehirn gelangen können. Dort entsteht – zumindest bei einem Teil der depressiven Patienten – offenbar eine Art Schwelbrand, eine chronische Entzündung, die die Funktion der Nervenzellen beeinträchtigen kann.

Vieles, was die Stimmung aufhellt, hat hingegen eine antientzündliche Wirkung: Sport und Bewegung, aber auch Entspannungsübungen und eine Psychotherapie, die hilft, mit Stress besser umzugehen.

Erste Untersuchungen mit antientzündlichen Medikamenten waren bereits erfolgreich. So konnte schlichtes Aspirin die Wirkung des Antidepressivums Sertralin in einer Studie mit 100 Patienten signifikant verbessern. Das Arthrosemittel Celecoxib kann die Wirkung eines Antidepressivums verstärken, ebenso wird Infliximab bei Depressionen erprobt, ein Mittel, das beispielsweise bei entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt wird, weil es das Immunsystem unterdrückt. Nun hoffen Forscher, Therapien auch für jene depressiven Patienten entwickeln zu können, denen bislang nicht geholfen werden kann.

Zahlreiche Indizien deuten darauf hin, dass auch beim Autismus, zumindest in einem Teil der Fälle, das Abwehrsystem aus dem Gleichgewicht geraten ist. So leiden überproportional viele Autisten an typischen Krankheiten: In einer kleinen Studie an Patienten mit Asperger, einer milden Form des Autismus, waren 70 Prozent von Allergien, Neurodermitis, Asthma oder ähnlichen Leiden betroffen – im Vergleich zu 7 Prozent in der nicht autistischen Vergleichsgruppe.

Marion Leboyer entdeckte im Blut erwachsener Autisten Immunzellen, die "überstimuliert und völlig dysfunktional" waren. "Es sah aus, als trügen diese Menschen eine Dauerinfektion in sich", sagt sie, "nur dass wir keine Infektion finden konnten."

Überdies scheint das für die Funktion des Immunsystems so wichtige Darmmikrobiom bei einigen Betroffenen gestört zu sein. Als Forscher Stuhl von Autisten auf Mäuse übertrugen, zeigten die Nachkommen der Tiere plötzlich autistische Verhaltensweisen. Umgekehrt konnten in einer Pilotstudie die Symptome einiger autistischer Kinder durch eine Transplantation eines gesunden Stuhlbakterienmixes erheblich verbessert werden. Von den 18 behandelten autistischen Kindern waren vor Behandlungsbeginn 15 als "schwer" betroffen eingestuft worden – zwei Jahre nach der Stuhltransplantation waren es nur noch 3. Die Symptome von 8 der behandelten Kinder hatten sich so stark verbessert, dass sie nicht mehr als Autisten galten.

"Eine Stuhltransplantation bei Autismus klingt völlig verrückt, oder?", fragt Hanna Stevens, Direktorin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Carver College of Medicine der University of Iowa. "Aber es ist wirklich eine sehr interessante Idee." Dringend müssten jetzt weitere Studien gemacht werden.

Bei manchen Menschen, die wie Schizophreniekranke unter Halluzinationen und Wahnvorstellungen leiden, werden diese Symptome durch Autoimmunreaktionen hervorgerufen, wie inzwischen bekannt ist. Dabei attackieren sogenannte Autoantikörper das Gehirn. Lassen diese sich nachweisen, behandeln Ärzte schon heute mit einer Immuntherapie: mit Cortison, Immunglobulinen oder einer Blutwäsche, bei der die Antikörper herausgefiltert werden. "Dass die Betroffenen inzwischen erfolgreich therapiert werden können, ist wirklich bahnbrechend", sagt Neurologin Frauke Zipp.

Auch bei tatsächlichen Schizophreniepatienten, die diese Autoantikörper nicht haben, finden sich häufig entzündliche Veränderungen, die darauf hinweisen, dass das Abwehrsystem entgleist ist. Fieberhaft suchen Forscher nun nach Biomarkern, die ihnen verraten könnten, welche Erkrankten auf eine Immuntherapie ansprechen würden – und welche Art von Therapie jeweils besonders gut geeignet wäre. Noch steht die Forschung am Anfang. "Aber es ist durchaus realistisch, solche Therapien zu finden", sagt der Münchner Psychiater Norbert Müller.
  • Eine der spektakulärsten Heilungen der Schizophrenie verdanken Ärzte allerdings dem Zufall. Einen jungen Mann befielen mit 23 Jahren, kurz nachdem er seinen Universitätsabschluss gemacht hatte, plötzlich Verfolgungswahn und Halluzinationen. Die Ärzte stellten die Diagnose "paranoide Schizophrenie". Die Therapie mit üblichen Medikamenten gegen dieses Leiden schlug nicht an.
  • Dann, mit 24 Jahren, bekam der Mann eine Leukämie. Seine einzige Hoffnung war eine Knochenmarktransplantation. Die gefährliche Prozedur heilte nicht nur seinen Blutkrebs: Nach 30 Tagen waren auch seine Schizophreniesymptome so gut wie verschwunden. Acht Jahre nach der Knochenmarktransplantation, berichteten die Ärzte, ging es dem Mann hervorragend – er war körperlich und psychisch gesund und arbeitete erfolgreich in einem bekannten Unternehmen. 

Der Schoß, aus dem es kroch, ist fruchtbar noch.

Cover-Illustration eines Nachdrucks des Original-Buches - in einigen Bibliotheken steht das Buch in deutscher Übersetzung, wie es Hitler wohl gelesen hat (bei Interesse: googeln)


Hitlers Bibel

In den Vereinigten Staaten wurde die Idee populär, eine überlegene weiße Rasse zu züchten. Später arbeiteten amerikanische Eugeniker eng mit Nazi-Wissenschaftlern zusammen.

Von Markus Günther | FAS

Nachdem der 36-Jährige das Buch gelesen hatte, kannte seine Begeisterung keine Grenzen. Er zitierte unentwegt wichtige Passagen und schrieb dem amerikanischen Autor einen enthusiastischen Brief, in dem er bekannte, für ihn sei die Lektüre eine Offenbarung gewesen und das Buch viel mehr als nur ein Text: "Es ist meine Bibel." Madison Grant, der Autor, hatte den Namen seines Fans zu diesem Zeitpunkt gewiss schon einmal gehört, doch konnte er 1925 noch nicht ahnen, welche Rolle der begeisterte Leser bald in Deutschland und der Welt spielen sollte. Er schickte dem Bewunderer als Dank für die Fanpost ein Exemplar mit persönlicher Widmung, das heute in der Library of Congress in Washington steht und die verhängnisvolle Verbindung zwischen amerikanischer Erblehre und deutscher Rassenpolitik andeutet. "Der Untergang der großen Rasse" heißt das Buch von Madison Grant; sein begeisterter Leser war Adolf Hitler.

Das Buch, das amerikanische Soldaten 1945 in der Bibliothek Hitlers im ersten Stock des "Berghofes" fanden, hatte Hitler nicht nur auf die Liste jener Bücher gesetzt, "die jeder Nationalsozialist gelesen haben sollte", er zitierte auch in "Mein Kampf" und in vielen Reden aus Grants Buch. Manches kommt Plagiaten nahe, so unmittelbar übernahm Hitler die Argumente Grants für die Unterdrückung "minderwertigen" Erbmaterials und den Schutz der weißen Rasse. In dem Machwerk, das 1916 in den Vereinigten Staaten erschien, schnell ein Bestseller wurde und bald eine Millionenauflage erreichte, heißt es: "Wir haben fünfzig Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass die englische Sprache und ordentliche Kleidung, Schulbesuch und Kirchgang aus einem Neger noch keinen Weißen machen." In Hitlers "Mein Kampf" heißt es: "Es ist ein Denkfehler anzunehmen, dass aus einem Neger oder Chinesen ein Deutscher wird, wenn er nur Deutsch lernt und bereit ist, die deutsche Sprache zu sprechen." Mit Bewunderung und Neid blickt Hitler in "Mein Kampf" auf die in seinen Augen "fortschrittlichen" amerikanischen Gesetze, mit denen der Staat die Fortpflanzung "minderwertiger" Menschen verhindern konnte.

Kalifornien übernahm eine unrühmliche Sonder- und Führungsrolle innerhalb der "eugenischen Bewegung", die Ende des 19. Jahrhunderts aus Großbritannien nach Amerika gekommen war. Dass die neuen Theorien dort besonders populär waren, ist kein Zufall. In kaum einem anderen Bundesstaat zeigte sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine solche Mischung der Sprachen, Hautfarben und Physiognomien. Schwarze, Indianer, Asiaten und Hispanics beflügelten die Ängste von Grant und anderen, die meinten, die weiße Rasse müsse vor der Vermischung mit anderen geschützt werden, notfalls mit staatlichen Zwangsmaßnahmen. Alles andere, so Grant, laufe auf den "Selbstmord der weißen Rasse" hinaus - ein Schlagwort, das bis heute, hundert Jahre später, in rechtsextremen Kreisen überall auf der Welt geläufig ist. Was bei Grant die "nordische Rasse" oder auch die "großartige Rasse" war, wurde in Hitlers Rhetorik mit nur minimaler Akzentverschiebung die "arische Rasse". Während Grant von den "neuen biologischen Möglichkeiten" schwärmte, spitzte Rudolf Hess den Gedanken später weiter zu: "Nationalsozialismus ist angewandte Biologie."

Der deutsche Rassenwahn hat also amerikanische Wurzeln? Hier ist Vorsicht geboten. Im Blick auf die amerikanischen Vorläufer der deutschen Rassenpolitik und Euthanasie liegt eine apologetische Versuchung. Schon die Nazis selbst wussten um diese relativierende Wirkung und starteten 1936 eine Plakatkampagne in deutschen Städten, bei der unter der Überschrift "Wir stehen nicht allein" die deutschen Rassengesetze mit denen anderer Länder verglichen wurden. An erster Stelle standen die Vereinigten Staaten, aber mit einigem Recht konnte man auch auf Japan, England, die Schweiz und die skandinavischen Länder hinweisen, in denen zur Ausmerzung unliebsamer Erbanlagen zum Beispiel Zwangssterilisierungen vorgenommen wurden.

Doch letztlich hinkt der Vergleich. Kein Land hat seine "Rassenpolitik" mit einem solchen Organisationsgrad und so monströser Gewalt in die Tat umgesetzt wie die Deutschen. Und auch die Zielrichtung der nationalsozialistischen Politik war nicht dieselbe, wie der amerikanische Forscher Edwin Black in seinem bahnbrechenden Werk über die amerikanischen "Eugenics" nachgewiesen hat: "Amerikanische Eugeniker hatten die Vorstellung, Rassen zu erhalten und zu schützen. Erst die Deutschen hatten die Idee, andere Rassen vollständig zu vernichten, zu unterwerfen oder sie in Zukunft als Arbeitssklaven zu nutzen." Zwischen den Ideen, Experimenten, Übergriffen und gedanklichen Verirrungen, die es auch anderswo gab, und den monströsen Massenmorden der Nazis liegen Welten.

Dennoch ist es frappierend, welche gedanklichen, praktischen und nicht zuletzt finanziellen Verbindungen zwischen der etwa seit 1900 in Amerika wachsenden Szene der Eugeniker und den Vordenkern der nationalsozialistischen Rassenpolitik bestand. Theodore Roosevelt, Henry Ford, Alexander Graham Bell und John D. Rockefeller gehörten zu den prominenten Anhängern. In wenigen Jahren entstand eine Szene, in der sich wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Ziele zum Schutz des weißen Amerikas verbanden. Sie war inspiriert von den damals populären wissenschaftlichen Theorien von Gregor Mendel und Charles Darwin, die die Bedeutung von Erbanlagen verständlicher machten, und stand zugleich unter dem Eindruck der Masseneinwanderung fremder und fremd aussehender Menschen. Fach- und Publikumszeitschriften, Kongresse und Informationskampagnen machten die "Eugenics" überall in Amerika populär. Mehrere Staaten richteten "Eugenische Ämter" ein, die vor allem erbrelevante Daten über die regionale Bevölkerung und die Einwanderer erheben sollten.


Madison Grant - Wikipedia
1907 war Indiana der erste Staat, der Zwangssterilisierungen von "Schwachsinnigen" legalisierte, 32 Bundesstaaten folgten dem Beispiel, darunter 1909 Kalifornien, wo im Laufe der folgenden Jahre Zehntausende sterilisiert wurden. Die gesetzlich festgeschriebene Indikation wurde in vielen Staaten frei interpretiert: Entweder wurde die "Schwachsinnigkeit" ohne Tests willkürlich festgestellt - oft schon bei Säuglingen und Kleinkindern -, oder Gründe wie "unmoralisches Verhalten, Prostitution, übermäßiger Sexualtrieb, Neigung zum Lügen" wurden als Legitimation für die Zwangssterilisierung herangezogen. So wurde etwa die "Virginia Colony", ein Haus für Epileptiker und psychisch Kranke, zu einer Anstalt ausgebaut, in der praktisch alle Patienten ungeachtet der Diagnose sterilisiert wurden.

Erheblichen Einfluss hatten die Eugeniker auch auf die Einwanderungsgesetzgebung Amerikas, die ab 1907 schrittweise immer restriktiver wurde und die Einwanderung von Südosteuropäern, später auch von Arabern und Asiaten verhindern sollte. Auch der Zuzug von Juden wurde ausdrücklich verboten, was in den 1930er Jahren die Einwanderung von aus Europa geflüchteten Juden erschwerte und in vielen Fällen unmöglich machte. Nicht zuletzt fand die eugenische Bewegung in den Verboten von "Mischehen" zwischen Schwarzen und Weißen ihren Niederschlag, die einige Bundesstaaten erließen. Dass es bei all diesen Gesetzen um einen Schutz der weißen Rasse ging, wurde in den Debatten im Kongress unumwunden so ausgesprochen. Erst 1967 wurde das letzte Verbot einer "Mischehe" aufgehoben.

Neben der "negativen Eugenik", also den Versuchen, die Reproduktion als minderwertig erachteter Menschen zu unterdrücken, gab es auch erhebliche Bestrebungen, in einer "positiven Eugenik" das beste Erbmaterial zu finden und die Fortpflanzung zu fördern. Zum Volkssport entwickelten sich ab 1920 die "Better Baby Contests", bei denen in einem öffentlichen Spektakel das Baby mit dem besten Erbmaterial von einer Fachjury aus Ärzten und Psychiatern ausgesucht wurde. Wettbewerbe, in denen ganze Familien nach Aussehen, Wuchs, Haar- und Hautfarbe, Muskelaufbau, Haltung, Blutdruck und Intelligenz untersucht wurden, waren zwar pseudowissenschaftliche Jahrmarktattraktionen, wurden aber von den Eugenikern gefördert, weil man so das beste Erbmaterial für weitergehende Forschungen identifizieren wollte.

Ihre besten Verbündeten sahen die amerikanischen Eugeniker in den deutschen Wissenschaftlern, die allerdings nach dem Ersten Weltkrieg unter der zerstörten Infrastruktur und der finanziellen Not der Weimarer Jahre litten. Hilfe kam in dieser Lage aus den Vereinigten Staaten. Edwin Black hat den Geldzufluss genau erforscht und Erstaunliches zutage gefördert: Die eugenische Forschung in Deutschland, die wenig später Hitler zu Diensten war, wurde ab 1926 maßgeblich von amerikanischen Geldgebern finanziert. 410 000 (nach heutigem Wert etwa vier Millionen) Dollar stiftete Rockefeller 1926, um die eugenische Forschung des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Berlin zu fördern. Einer der Empfänger war Ernst Rüdin, der später in die NSDAP eintrat und für Hitler das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" ausarbeitete. Ebenfalls in den Genuss der amerikanischen Förderung kam Otmar von Verschuer, der unter Hitler zum führenden deutschen Rassenforscher wurde und seinen Doktoranden Josef Mengele mit medizinischen Experimenten in Konzentrationslagern beauftragte. 1929 half eine weitere Geldspritze aus den Vereinigten Staaten, das Institut für menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin zu gründen. Rockefeller und die amerikanischen Eugeniker hofften, später von den deutschen Forschungsergebnissen zu profitieren.

Nach der Machtergreifung setzte sich die enge transatlantische Zusammenarbeit noch über Jahre fort. Waren die Amerikaner den Deutschen früher in der politischen und praktischen Umsetzung der Eugenik voraus gewesen, bewunderten nun die Amerikaner das forsche Vorgehen der Deutschen unter Hitler. In den "Eugenical News" wurde 1934 ein umfassender Bericht von Hitlers Innenminister Wilhelm Frick über die neue Rassenpolitik veröffentlicht. Charles Goethe, Gründer der Eugenischen Gesellschaft in Kalifornien, bereiste in demselben Jahr Deutschland, um sich ein Bild von den massenhaften Zwangssterilisierungen zu machen. Nach der Rückkehr berichtete er stolz, die amerikanische Vorarbeit habe "die Einstellung der führenden Köpfe, die hinter Hitler stehen, geprägt. Der Einfluss des amerikanischen Denkens ist überall deutlich." Noch 1940 bereiste Tage Ellinger Deutschland, um sich über die Fortschritte der eugenischen Forschung zu vergewissern. Nach der Rückkehr veröffentlichte er einen begeisterten Artikel in der Fachzeitschrift "Journal of Heredity".

Die amerikanische Begeisterung für die "Eugenics" löste sich nach dem Zweiten Weltkrieg rasch in Luft auf. Im Lichte der deutschen Rassen- und Vernichtungspolitik, dem Mord an Millionen Juden und Zehntausenden von Kranken, gab es keine Rechtfertigung mehr für eine Erblehre, die mit Zwangsmaßnahmen die Reinheit der nordischen Rasse verteidigen will. Dass sich führende NS-Ärzte in den Nürnberger Prozessen auf ihre amerikanischen Vorbilder und Forschungspartner beriefen, wurde mit Scham zur Kenntnis genommen. Die Zwangssterilisierungen von Behinderten und Geisteskranken endeten in manchen US-Bundesstaaten aber erst Jahrzehnte später. In Kalifornien wurde das entsprechende Gesetz 1951 abgeschafft, doch zu illegalen Sterilisierungen von Psychiatrieinsassen und Häftlingen kam es noch bis zum Jahr 2010. Erst vor drei Jahren beschloss der Kongress in Washington schließlich, Opfer der Zwangssterilisierungen zu entschädigen.

Dass die Vergangenheit dennoch nicht einfach vergangen ist, sondern weiterlebt, zeigt sich nicht nur darin, dass Madison Grants Buch noch heute in den Vereinigten Staaten verlegt und gelesen wird, dass es in der Bewegung der "White Supremacists" bis heute ein Kultbuch ist oder dass der Attentäter Anders Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete, in seinem Pamphlet Madison Grant als Kronzeugen seiner Rassentheorie zitiert.

Eugenik - das Wort selbst ist heute kaum noch zu hören, doch das Gedankengut der eugenischen Bewegung ist nicht aus der Welt verschwunden. Der Schoß, aus dem es kroch, ist fruchtbar noch. 

Das zeigt sich nicht nur unter Neonazis, sondern auch unter den begeisterten Anhängern einer neuen Gentechnologie, die eine pränatale Analyse des Erbmaterials ermöglicht, von denen die Eugeniker des frühen 20. Jahrhunderts nur träumen konnten. Das Motto, das sich die amerikanischen Eugeniker 1920 gaben, könnte wortgleich von den Vordenkern der heutigen Reproduktionsmedizin stammen: "Wir wollen die Kontrolle über die menschliche Evolution gewinnen." 

Der Historiker Edwin Black erkennt in den neuen Trends der genetischen Optimierung und Selektion erschreckende Parallelen: "Es wird in Zukunft nicht mehr um eine Selektion auf der Basis einer Hautfarbe, Rasse oder Religion gehen", sagt er beim Gespräch in Washington. "Die neue Genforschung bewertet und vernichtet menschliches Leben nach dem Nutzwert."

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Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.10.2018, Nr. 40, S. 9 - Dokumentnummer:
SD1201810075520689
https://www.genios.de/document/FAS__SD1201810075520689%7CFAST__SD1201810075520689

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„I can’t breathe“: Blumen stehen von dem Graffiti des Künstlers Gonz, das den getöteten George Floyd zeigt. - Foto: © Dieter Leder | mannheimer morgen

es ist schon interessant - jetzt auf dem höhepunkt der diskussion und den unruhen nach der hinrichtung von george floyd hier auf einen der ur-väter der rassistischen ideologien aufmerksam gemacht zu werden.

rassistisch verquere ideologien waren ja dem "zeitgeist" der 20er jahre in der ganzen welt schon vor und nach dem 1. weltkrieg geschuldet - und galten eine zeitlang sogar als top-erkenntnisse der wissenschaft, der "biologie" und der "erblehre" und damit auch der medizin - und beeinflussen ja immer noch die "eugeniker", die sich heutzutage allerdings den modischeren namen "gen-techniker" zugelegt haben - wobei "...techniker" ja auch schon wieder veraltet klingt: bald heißen die sicherlich "digital-genetiker" oder so ähnlich ...

und noch immer versuchen menschen ihre nachkommenschaft in besonderem maße auf irgendeinem wege "heranzuzüchten" - oft genug mit sehr erniedrigenden momenten für die werdenwollenden mütter. oder es geht ihnen gar um die intelligenz ihrer kinder, an der sie genetische stellschrauben rechtzeitig im voraus schon justieren wollen.

aber sie befinden sich damit immer noch zumindest in einer ideologischen vettern-linie mit den rassenüberzeugungen eines adolf hitlers und der nationalsozialisten und des großteils des deutschen "volkes" von damals, was diese denke dann ja bis zur fanatischen "ausmerze" aller kränklichen und schwach erscheinenden menschen aus dem "volkskörper" forttrieb - zunächst über das "gesetz zur verhütung erbkranken nachwuchses" und den davon abgeleiteten zwangssterilisationen bestimmter menschen, die dem verblendeten theoretischen idealbild dieser "menschenzucht" einer "arischen rasse" nicht entsprechen konnten - ja bis hin zu den ca. 300.000-fachen massenmorden in den vernichtungsanstalten der "euthanasie", wie hitler dieses kleinteilig industriemäßig durchgetüftelte mordprozedere naseweis getauft hatte.

und dieser hitler und seine volksgenossen lesen dieses buch von madison grant wie ihre bibel und entwickeln daraus ihre verqueren wahnvorstellungen - allerdings flankiert von den eugenikern und psychiatrieärzten der zeit, die diese "erkenntnisse" "aus dem land der möglichkeiten" nachplapperten und dachten, das wäre große wissensachaft, durch nichts zu toppen - und adolf hitler himself schickt dazu dem autor einen begeisterten fan-brief, der bestimmt in gewissen kreisen, sollt er noch existieren, gegen höchstbietungen kopiert wird und zirkuliert und goldgerahmt irgendwo an der wand hängt... 


All co­lors are be­au­ti­ful? So sieht es die Ber­li­ner Ma­le­rin Co­co Berg­holm in ih­rem Werk »Co­lor Bomb«
© Co­co Berg­holm, »Co­lor Bomb«, 100x140 cm, Acryl auf Lein­wand 

Als hätte es sie nie gegeben - Preisgekrönter Film zum Thema Euthanasie



Alternativer Medienpreis für schwieriges Thema
Film von Vanessa Hartmann über NS-Euthanasie in Neuendettelsau und Ansbach überzeugte Jury

Die Autorin Vanessa Hartmann ist mit dem „Alternativen Medienpreis 2020“ ausgezeichnet worden für ihren Film „Als hätte es sie nie gegeben – NS-Euthanasie in Neuendettelsau und Ansbach“.

© Foto: Medienwerkstatt Franken

Als hätte es sie nie gegeben 
Preisgekrönter Film zum Thema Euthanasie



Als hätte es sie nie gegeben from Medienwerkstatt Franken on Vimeo.


Im Dritten Reich wurden aus den sozialen Einrichtungen der Diakonie Neuendettelsau im Landkreis Ansbach über 1200 Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen in staatliche Anstalten deportiert. Mindestens zwei Drittel von ihnen wurden dort getötet, weil sie aus Gründen der „Rassenhygiene“ als „lebensunwert“ galten.

Mitte der 1980er Jahre hat die Diakonie Neuendettelsau zwei Historiker mit der Aufarbeitung der Ereignisse beauftragt. Das daraus resultierende Buch „Warum sie sterben mussten“ (1991) war schnell vergriffen, das öffentliche Interesse enorm. Denn Ärzte und Pfarrer hatten die in ihrer Obhut lebenden Menschen nach anfänglichem Zögern nur allzu bereitwillig ausgeliefert.

Und mehr noch: Unsere neuen Recherchen in den bislang nie gesichteten Patientenakten zeigen, wie unliebsame Bewohner, Erwachsene wie Kinder, auch in der Phase der „dezentralen Euthanasie“ ab 1941 von den damals leitenden Pfarrern in die staatliche Heil- und Pflegeanstalt nach Ansbach verlegt und damit wissentlich dem Tod preis gegeben wurden.

Doch wer sich heute, fast 30 Jahre nach der ersten Aufarbeitung, zum Thema informieren möchte, wird z.B. auf der Homepage von „diakoneo“, wie sich die Diakonie Neuendetttelsau inzwischen nennt, kaum fündig – dort werden zwar die Opferzahlen genannt, die aktive Beteiligung der damals leitenden Pfarrer wird jedoch verschwiegen. Stattdessen sind noch immer Häuser und Straßen nach ihnen benannt.

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Wie tief verstrickt die Verantwortlichen wirklich waren

NS-"Euthanasie" bei der Diakonie Neuendettelsau: Laut Forschern sind viele Fragen bei der Aufarbeitung noch offen

Die Diakonie Neuendettelsau hat 1991 mit dem Buch "Warum sie sterben mussten" ihre Verstrickung in die "Euthanasie"-Verbrechen der Nazis aufgearbeitet. Später hat sie die Zeit bis 1955 in einem zweiten Buch beleuchtet. Doch es gibt immer noch Fragen.

Von Vanessa Hartmann epd - aus: "evangelisch.de" (14.05.2019)

Es war ein Erdbeben, das die Diakonie Neuendettelsau Anfang der 1990er Jahre auslöste. Als erste diakonische Anstalt in Bayern hatte das Sozialwerk seine Verstrickung in die "Euthanasie"-Morde der Nazis von zwei unabhängigen Wissenschaftlern untersuchen lassen. Bundesweit interessierten sich Medien dafür. "Das war für die Öffentlichkeit sehr erschütternd: Es kann doch nicht sein, dass eine kirchliche Einrichtung keinen Deut besser war als eine staatliche", erinnert sich Hans-Ludwig Siemen, einer der Autoren. In mehreren Deportationen waren 1940/41 mehr als 1.200 Bewohner der Diakonissenanstalt in staatliche Heil- und Pflegeanstalten verlegt worden, mindestens zwei Drittel starben.

"Euthanasie", der "schöne Tod", diesen Begriff prägten einst die Griechen für ein leichtes Sterben. Die Nationalsozialisten verschleierten damit die Tötung von Menschen mit geistigen und seelischen Gebrechen, die nicht in ihre Wahnvorstellungen von der "reinen Rasse" und dem "gesunden Volkskörper" passten.

Wandel der Deutung

Die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Diakonie ist für den Wissenschaftler und Psychoanalytiker Siemen bis heute nicht abgeschlossen: "Die Menschen wurden von der damaligen Leitung sehr bereitwillig ausgeliefert, weil man den Fortbestand der Einrichtung sichern und die Gebäude retten wollte." Das damalige Direktorium reagierte dabei nicht nur auf Anordnung, sondern erbat auch selbst die Aufnahme vieler "Pfleglinge" in staatliche Anstalten, in dem Wissen, dass diese Verlegung für sie den Tod bedeuten würde. Seit diesem Buchprojekt in den 1990er Jahren hat sich die Diakonie für ein würdiges Gedenken an die "Euthanasie"-Opfer eingesetzt. Ihre Namen findet man heute sorgfältig aufgelistet in den Gedenkbüchern, die in den Kirchen der Diakonie Neuendettelsau ausliegen.

Es gab Gedenkgottesdienste, Gedenksteine und Ausstellungen. Doch gleichzeitig hat sich die Deutung der Geschehnisse von einst unbemerkt gewandelt. Auf der Internetseite der Diakonie etwa wird der Eindruck erweckt, die damalige Leitung habe allein auf Anordnung des NS-Staats ihre "Pfleglinge" hergegeben. Von "massiven Eingriffen von außen in die Arbeit der Diakonissenanstalt" ist dort die Rede. In einem neueren Buch über die damaligen Ereignisse kommt Autor Hans-Walter Schmuhl gar zu dem Schluss, die Diakonissenanstalt könne für sich in Anspruch nehmen, ein "Raum der Resistenz" gewesen zu sein. Ausführlich werden Rettungsmaßnahmen einzelner Diakonissen geschildert.

Das Schicksal der kleinen Luise

Keine Erwähnung hingegen finden die vielen Einzelverlegungen meist schwieriger Heimbewohner, die es bei der "dezentralen Euthanasie" ab Mitte 1941 gab. Ein Blick in die Patientenakten im Zentralarchiv der Diakonie wirft die Frage auf, ob das Direktorium das "Euthanasie"-Programm nicht sogar befürwortete.  Da ist zum Beispiel die dreijährige Luise Geißbauer, die im Sommer 1943 von ihrer Mutter gebracht wird. Nur während der Sommermonate will sie Luise in Neuendettelsau unterbringen, auf eigene Kosten - um den NS-Staat erst gar nicht auf ihre behinderte Tochter aufmerksam zu machen. Spätestens nach der Erntezeit sollte Luise wieder nach Hause dürfen.

Doch dazu sollte es nicht kommen; das Mädchen stört. Pfarrer Hilmar Ratz, Direktor der Behindertenhilfe, schreibt der Mutter Ende August, dass eine Verlegung nach Ansbach unumgänglich sei. Die Mutter ist unsicher, will ihr Kind nicht "für dauernd" nach Ansbach geben. Doch der Pfarrer antwortet, sie könne Luise "sicher jederzeit wieder herausnehmen". Vom Pfarrer beruhigt, stimmt die Mutter der Verlegung zu. Daraufhin wird Luise nach Ansbach in die Kinderfachabteilung verlegt: "Da das Kind dauernd unruhig ist und seine Umgebung durch Schreien stört, ist seine Verlegung dringend geboten." Keine drei Wochen später stirbt das Kind in Ansbach - angeblich an Lungenentzündung.

Die Kinderfachabteilung in Ansbach gab es vermutlich seit 1942. Insgesamt wurden etwa 30 Kinderfachabteilungen im Reichsgebiet eingerichtet, um gezielt Kinder mit Beeinträchtigung im Rahmen der sogenannten Kinder-Euthanasie zu beseitigen. Leiterin in Ansbach ist die Oberärztin Irene Asam-Bruckmüller. In den 1960er Jahren wird sie wegen Beihilfe zum Mord in 50 Fällen angeklagt, doch dank attestierter Prozessunfähigkeit durch befreundete Ärzte wird das Verfahren gegen die Frührentnerin eingestellt. Heute zweifelt niemand mehr daran, dass sie für den Tod von mindestens 156 Kindern in Ansbach verantwortlich war und übereifrig mit dem Reichsinnenministerium kooperierte.

Historiker Mark Deavin untersucht seit zwei Jahren die Patientenakten aller Ansbacher "Euthanasie"-Opfer und ist sich sicher: "Hunderte von ihnen, auch Erwachsene, wurden von Asam-Bruckmüller ermordet. Sie ist in mindestens 85 Prozent der Todesfälle in Ansbach involviert. Sie ist eine Massenmörderin." Die meisten wurden mit dem Beruhigungsmittel Luminal vergiftet - ein qualvoller Tod: die Opfer entwickelten langsam Atemlähmung. Mark Deavin sieht Asam-Bruckmüller dabei keineswegs als überzeugte Nationalsozialistin. "Menschen mit Beeinträchtigung hielt sie aber für lebensunwert." Sie sah es als ihre Pflicht an, sie zu töten, sagt Deavin, der in Leeds und London Geschichte und Jura studiert hat.

Oberärztin Asam-Bruckmüller ist nicht nur in Ansbach beschäftigt, sie betreut ab 1941 regelmäßig auch in Neuendettelsau die verbliebenen etwa 250 Psychiatriepatienten. Die ihr anvertrauten Menschen nennt sie laut Akten "wertlos", "völlig stumpf" oder "klebrig". Dass sie auch für deren Erfassung in Berlin verantwortlich ist, zeigt ein internes Schreiben der Diakonie, eine "Handreichung". Darin heißt es, man soll dem in Neuendettelsau fest angestellten Arzt Wilhelm Graef mit einer externen Ärztekommission drohen. Graef scheint Skrupel gehabt zu haben, die ihm anvertrauten "Pfleglinge" zu melden. Mit dem Vorgehen nötige man ihn, seine Unterschrift unter die Meldebögen zu setzen.

Hans-Ludwig Siemen hält es für ausgeschlossen, dass die damalige Leitung nichts von Asam-Bruckmüllers Haltung wusste. Er verweist auf ein Schreiben von 1945, das Hilmar Ratz an seinen Pfarrer-Kollegen Bernhard Harleß, ebenfalls Pfarrer in Neuendettelsau, richtete: "Wie ich neulich von Frau Dr. Asam-Bruckmüller hörte, interessieren sich die Amerikaner sehr für die Sache. Da ist es natürlich nötig, dass unsere Angaben über das, was wir taten, übereinstimmen." 32 Erwachsene und 16 Kinder wurden einzeln nach Ansbach verlegt, 20 von ihnen starben, fünf Fälle sind ungeklärt. Alle Akten zeigen, dass neben Ratz oder Harleß auch Asam-Bruckmüller in die Verlegungen involviert war.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Asam-Bruckmüller in beratender Tätigkeit in Neuendettelsau tätig: Bis zum Jahr 1957 war sie betreuende Ärztin dort - als die Kinderfachabteilung längst geschlossen und sie von den Amerikanern ihres Amtes in der Heil- und Pflegeanstalt in Ansbach enthoben worden war. Trotzdem gibt es im Zentralarchiv der Diakonie Neuendettelsau keine Personalakte oder auch nur ein Foto von ihr. Dass sie in Neuendettelsau sogar geschätzt wurde, zeigen die Prozessakten des Verfahrens in den 1960er Jahren: Der Direktor der Behindertenhilfe, Pfarrer Ratz, bescheinigte ihr, sie habe sorgfältig gearbeitet und sich stets "vor unsere Patienten gestellt".

Die kleine Luise Geißbauer hätte verschont werden können, ihre Mutter wollte sie wieder holen. Ratz ließ sie dennoch verlegen. Nach ihrem Tod im September 1943 gibt sich der Pfarrer in einem Brief an die Mutter überrascht: "Wer hätte gedacht, dass das kräftige Kind so schnell dahin gerafft wird?" Zu diesem Zeitpunkt hat er schon Todesmeldungen von Kindern aus Ansbach erhalten, die hohe Sterblichkeit ist ihm bekannt. Weitere Akten zeugen davon, dass man über die Vorgänge in Ansbach Bescheid weiß. Für ein beliebtes Mädchen, das nicht in Neuendettelsau bleiben kann, bemüht sich Ratz um einen Platz in der Inneren Mission und rät den Eltern von der Unterbringung in staatlichen Anstalten ab.

Diese Einzelverlegungen sind der Diakonie seit den 1990er Jahren bekannt, wurden aber nie öffentlich gemacht. Ein Diakonie-Sprecher sagte, die Diakonie öffne ihre Archive für jeden: "Vorgaben zu machen, ist nicht unsere Strategie." So hatte Historiker Hans-Walter Schmuhl keine Kenntnis von den Einzelverlegungen, als er 2014 sein Buch "Im Zeitalter der Weltkriege" veröffentlichte. Für weitere Forschungen sei die Diakonie offen, wolle sie aber nicht beauftragen, so der Sprecher: "Das wäre nicht glaubwürdig. Lücken in der Forschung wird es immer geben." Es sei immer klar gewesen, "dass damals Verantwortliche tief verstrickt in die 'Euthanasiehandlungen' waren".

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diese "einzel-verlegungen" aus den konfessionellen einrichtungen in die ns-staatlichen heilanstalten des deutschen reiches sind insgesamt sicherlich noch einmal ein großes und bisher nicht befriedigend erschlossens umfassendes forschungsgebiet als hintergrund zu den "euthanasie"-morden insgesamt und der "beteiligung" oder dem nicht- bzw. mitwissen konfessioneller institutionen oder deren würdenträger damals. 

auch gegenüber bethel hat jüngst prof. dr. claus melter und seine studenten von der fh bielefeld ja fragen zum schicksal ähnlicher (einzel-)"verlegungen" aus bethel in staatliche ("zwischen-")"heil"anstalten" aufgeworfen - zu denen "offiziellerseits" immer mal wieder gern ge- und verschwiegen wird - oder aber - anstatt offen in den eigenen archiven und unterlagen forschen zu lassen - werden von den konfessionellen institutionen umfängliche "forschungsarbeiten" dazu in auftrag gegeben, die sich dann aber oft recht langwierig ausgestalten in ihrer jeweiligen "performance" - oder in ihren "konkreten" aussagen so verschlüsselt sind, dass man einfach mit semantisch raffinierten "forschungsformulierungen" versucht, neue "schuldfreie" zusammenhänge darzustellen bzw. zu konstruieren (! - "wess brot ich ess, dess lied ich pfeif"...). ich will hier keine namen nennen... - aber das alles lässt sich durchaus auch ergoogeln...

inwieweit die konfessionellen einrichtungen quasi unter druck gesetzt wurden, mit letztlich ja von amts wegen finanzierten wohldifferenzierten pflegesatz-abrechnungsvolten und abrechnungs-"erpressungen" und entsprechenden lebensmittel-zuteilungen und -kürzungen zum ende hin, ist nicht genau auszumachen - und das gestaltete sich ja auch je nach einzel"fall" und privatvermögen der familien der patienten vielleicht unterschiedlich.

fest steht, dass die nsdap in hoch-zeiten fast 8 millionen eingetragene mitglieder hatte - bei rund 80 millionen reichs-einwohnern insgesamt und einem erwachsenen-anteil von über 50 mio. menschen. das nationalsozialistische gedankengut war also mit seinen erbgesundheitlichen ausrichtungen und konsequenzen bis in konfessionelle kreise hinein damals allgemeiner "zeitgeist" und etabliert - man könnte auch sagen: der "zeitgeist" war damit "durchseucht" - was sich ab 1933 bis mindestens 1942 noch verstärkte. insofern haben ja auch zumindest fast alle konessionellen anstalten bei der massenhaften "zwangssterilisation" geradezu bereitwillig mitgemacht.

in der allgemeinen wohlfahrtsfürsorge traten ab 1933 auf einer seite die nsv - die nationasozialistische volksfürsorge - nun frech fordernd mit ihrem totalitären allumfassenden machtanspruch und ihrer ihr immanenten erblehre auf den plan, der "eugenik", mit dem gedanken der "ausmerze" alles schwachen und kranken - und auf anderer seite die seit kaiserreich und weimarer republik etablierten christlich motivierten institutionen von diakonie und caritas - und die sich eben nun nach dem seit der weimarer republik geltenden subsidiaritätsprinzip in der sozialhilfe sozusagen als anbieter-konkurrenten "gegeneinander" gegenüberstanden und auf gegegenseitigen "bettenklau" gingen (= nur ein belegtes bett bringt pflegesatz-einnahmen...).

mit seinem offenen und verstohlenen und später "wilden" "euthanasie"-programm hatte der ns-staat deutsches reich aber auch eine möglichkeit entwickelt, sich der unterbringunskosten in der sozialhilfe zu entledigen - und diese so eingesparten mittel insgesamt mit für die nun dringend benötigte "kriegskasse" zu erschließen. 

inwieweit aber vielleicht in abgesprochenen "deals" der mit der sozialfürsorge befassten stellen und ämter und versicherungen "gehandelt" und "abgesprochen" wurde ("gibst du mir deine - geb ich dir meine"), sei vorerst einmal dahingestellt - bis zu einem neutralen (!) und umfassenden forschungsergebnis. 

ob also einzelne patienten den konfessionellen einrichtungen tatsächlich von den staatlichen nsv-anstalten "entrissen" wurden, quasi von der "tränenbenetzten schürze der ordensschwester" weg - oder ob kräfte in den konfessionellen anstalten sich unliebsamen einzelpatienten "entledigen" wollten - und was die jeweiligen tatsächlichen beweggründe der "verlegungen" bzw. "deportationen" war, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt - und es gab sicherlich auch einzelfälle sowohl in die eine richtung als auch in die andere...

spannend ist also die frage, ob es ein institutionelles wollen dazu gegeben hat - und ob quasi automatismen und anschluss-deportationen jeweils geplant und anberaumt wurden. 

aber vieles spricht dafür, dass so "behütend" und "sorgend" die konfessionellen einrichtungen nicht immer auftraten, wie es direkt nach dem krieg zunächst unisono beteuert wurde.

und die offenen oder heimlichen verantwortungsträger waren dann in den 60er/80er jahren, bei eventuellen prozessen zur klärung dieser sachverhalte zumeist "verhandlungsunfähig" oder unabkömmlich oder bereits verstorben - wie das leben eben so spielt ...