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in "gallery" steckt auch das wörtchen "galle"

Ermittlungen um Michael Schultz 

Wie der Berliner Galerist mit einem gefälschten Gemälde Gerhard Richters getrickst haben soll

Von Christiane Meixner | Tagesspiegel

Schon lange stand es finanziell schlecht um Galerist Michael Schultz. Die Kopie eines Richter-Werks sollte ihm womöglich wieder zum Wohlstand verhelfen.


„Die Gier trieb ihn zum Betrug“, schrieb der Berliner Galerist Michael Schultz 2012 über Wolfgang Beltracchi und sparte nicht mit Kritik am letztlich milden Gerichtsurteil für den dreisten Fälscher. Nun steht Schultz selbst im Zentrum eines Skandals um gefälschte Werke, von dem sich der Kunsthändler aller Voraussicht nach nicht wieder erholen wird.

Vergangene Woche wurde er verhaftet, wegen seines gesundheitlichen Zustands aber bald wieder freigelassen. Der Haftbefehl ist das Ergebnis umfangreicher Ermittlungen, die im August begonnen haben – ausgelöst durch ein angebliches Gemälde von Gerhard Richter, das Schultz im Gegenzug für einen privaten Kredit aus der Hand gegeben haben soll.

Als der neue Besitzer das Bild im Frühjahr 2019 im New Yorker Auktionshaus Christie’s einlieferte, um es zu Geld zu machen, flog der Schwindel auf: Eine routinemäßige Nachfrage beim Gerhard Richter Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ergab, dass es sich bei dem abstrakten Motiv um eine Kopie handelt.
Kopie

Original - © Gerhard Richter 2019, Gerhard Richter Archiv

Dietmar Elger, der Leiter des Archivs, kennt nicht nur das Original aus dem Jahr 1989. Er hat das Werk mit dem Titel „Abstraktes Bild (705-2)“ selbst vor fünf Jahren in einer Galerie hängen sehen: in der Ausstellung „Abstract Illusion“ bei Michael Schultz in der Charlottenburger Mommsenstraße. Im Frühjahr 2015 nahm die Galerie es dann mit auf die Kölner Kunstmesse Art Cologne und verkaufte es dort an einen bis heute unbekannten Sammler.

„Mit großem Erfolg konnten wir gestern unsere Messeteilnahme beenden“, notierte Schultz damals in seinem täglichen Newsletter an alle, die sich auf der Website dafür angemeldet hatten. „Platziert werden konnten mehrere Werke von Cornelia Schleime, zwei Arbeiten von SEO, ein Großformat von A. R. Penck, Andy Denzler, Georg Baselitz, Sigmar Polke und Gerhard Richter.“

Ex-Kanzler Schröder war sein Duzfreund

Solche Namen und Verkäufe spiegeln die Bedeutung der Galerie Schultz. Gegründet wurde sie Mitte der achtziger Jahre in Charlottenburg, Künstler wie Penck, Norbert Bisky und Cornelia Schleime hatten oder haben hier ihren festen Platz. Schultz zählte zu den Großen der Branche, unterhielt Dependancen in Peking und Seoul und gilt als einer, der Künstler groß rausbringen kann.

Weil er weiß, wie man Aufmerksamkeit erzeugt und die Nachfrage ankurbelt. Zum 60. Geburtstag des Galeristen hielt Ex-Kanzler Gerhard Schröder die Rede auf seinen Duzfreund, zum 30-jährigen Jubiläum der Galerie schaute Kulturstaatsministerin Monika Grütters vorbei. Fotos zeigen ihn mit Wolfgang Joop und Ai Weiwei.

Umso tiefer wirkt nun der Fall eines lange maßgeblichen Händlers und Vermittlers, gegen den das Amtsgericht Charlottenburg im September ein vorläufiges Insolvenzverfahren eröffnet hat. Das Landeskriminalamt hat inzwischen mehrere Adressen in Berlin und Brandenburg durchsucht, Vermögenswerte gepfändet und Beweismittel gesichert.

Die Räume in der Mommsenstraße sind verwaist, der länger geplante Umzug in die Kantstraße ist offenbar geplatzt. Einige Künstler haben die Zusammenarbeit mit der Galerie Schultz beendet, andere wie Norbert Bisky oder Rebecca Raue sind aus persönlichen Gründen schon vorher gegangen.

Die Folgen sind noch nicht abzusehen

Die Malerin Cornelia Schleime erreichten die „Hiobsbotschaften“ der vergangenen Tage im Urlaub. Noch zum Gallery Weekend im Frühjahr dieses Jahres war sie mit einer großen Soloausstellung bei Schultz vertreten, seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie mit dem Galeristen zusammen. Schultz verhalf der Ostberliner Malerin und Performerin, die 1984 in den Westen ging, zu Bekanntheit, nahm ihre Bilder oft zu Messen mit.

Sie könne es „noch gar nicht fassen“, sagte Schleime nun, die Folgen für sie und andere Künstler der Galerie seien noch nicht abzusehen. Man wolle sich im November deshalb treffen. Auch andere Künstler aus Schultz’ Programm zeigen sich erschrocken und betroffen. Zwar sei bekannt gewesen, dass die Galerie neue Räume suche, aber von finanziellen Problemen oder gar unlauteren Geschäften hätten sie nichts geahnt. Dabei gab es Zeichen.

Schultz, so sagen andere Galeristen, habe an vielen, vielleicht zu vielen Messen teilgenommen. Immer mit einem großen Stand, aber zunehmend mit eher unbekannten Künstlern, deren Werke sich nicht zu Spitzenpreisen verkaufen. Eine gefährliche Rechnung, denn die Kosten für die Messeteilnahmen in Miami, New York oder auch Karlsruhe sind hoch.

Schultz zahlte schon mal 15.000 Euro Strafe

Schon 2015 wurde gegen Schultz prozessiert, ebenfalls wegen eines Bildes von Gerhard Richter. Damals hatte sich umgekehrt ein befreundeter Kunsthändler Geld vom Galeristen geliehen und ein Richter-Original als Pfand gegeben. Als er um einen Aufschub für die Rückzahlung bat, verkaufte Schultz das Werk auf eigene Rechnung für 300.000 Euro. Weil es aber der Frau des Schuldners gehörte, musste Schultz sich wegen Unterschlagung verantworten und 15.000 Euro Strafe bezahlen.

Um welche Summe es diesmal zwischen dem Galeristen und seinem Darlehensgeber ging, ist nicht bekannt. Wohl aber, dass der Betrogene sich von der Auktion bis zu einer Million Euro für sein Pfand versprach, das angebliche Richter-Original. Archiv-Leiter Dietmar Elger schöpfte jedoch schnell Verdacht, auch wenn ihm die Kopie einer abstrakten Farbkomposition bislang nicht untergekommen war. Dass ein Fälscher ein konkretes Motiv von Richter nachmalt, hat Elger noch nicht erlebt. „Ich habe das Bild immer wieder verwundert betrachtet“, erzählt er, „denn eine exakte Fälschung kann bei noch so großer Mühe nicht gelingen“. Richter selbst habe die Nachricht von der Fälschung eher amüsiert aufgenommen.

Die Fälschungen häufen sich

Der Kunsthistoriker Hubertus Butin, der für das überarbeitete Werkverzeichnis von Richters Editionen aus dem Jahr 2014 verantwortlich ist, sieht seit knapp 20 Jahren immer mehr Fälschungen auf dem Markt. Papierarbeiten ebenso wie Gemälde, bei denen es sich meist um Neuschöpfungen handle. Denn die Originale, für die Richter Rakel anstelle von Pinseln verwendet, mit denen er die Farbe über die Leinwand schiebt, sind kaum zu fälschen. „Richter lässt in seinen Bildern den Zufall zu“, so Butin. Wer das Gemälde mit denselben Mitteln kopiere, müsse selbst mit Zufällen rechnen, die das Motiv am Ende anders aussehen lassen. Wer es nachmalt, statt zu rakeln – was auf der Oberfläche sichtbare Spuren hinterlässt –, sei noch schneller als Fälscher zu entlarven.

Michael Schultz hat es dennoch versucht. Damit hat er seine Galeriearbeit der vergangenen Jahrzehnte irreparabel beschädigt. Weil die Abstraktion Gerhard Richters Signatur trägt, wird er sich auch wegen Urkundenfälschung verantworten müssen. Das gefälschte Bild, das jetzt in einem Berliner Kunstlager deponiert ist, wird zum Symbol seiner eigenen Gier – oder jener finanziellen Schwierigkeiten, die die Galerie zu kaschieren versuchte.

„Insgeheim träumt jeder mal davon, mit einer genialen Fälschung ein sorgenfreies Leben zu führen“, verriet der Galerist ebenfalls in einem Newsletter und wetterte gegen Beltracchi: „Heutzutage wagt man sich an die genialen Bildeinfälle berühmter Künstler, kopiert diese und bewundert sich dabei selbst.“ Dem Traum ist offenbar auch Michael Schultz erlegen.


Mitarbeit: Birgit Rieger und Christiane Peitz

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"wenn's dem esel zu wohl ist, geht er aufs eis" war spontan meine erste reaktion, nachdem ich diesen artikel gelesen hatte - oder auch: "je mehr er hat - je mehr er will - nie schweigen seine klagen still"...

aber dass nun ein galerist mit dem renomee und freundes- und bekanntenkreis derartig tief fällt, ist schon erstaunlich und lässt auf verschiedene "brüche" im umfeld und in der gesundheit schließen.

ansonsten kann man ein solch plumpes vorgehen kaum erklären - denn das "original" und "kopie" zwei verschiedene "werke" sind, sieht doch "ein blinder mit dem krückstock"...

aber dieses dilemma des herrn schultz wirft auch ein grelles licht hinter die kulissen in diesem "geschäft" mit der "kunst" und dem "kunst"handel quasi an aktien statt.

da wird gezockt und spekuliert und geramscht und verhökert was das zeug hält und manchmal das konto übersteigt - und nach außen wird "seriosität" zelebriert und ein briefbogen und ein internetauftritt und eine homepage vom besten designbureaux am ort oder gar im land.

ich schau mir diese auftritte der großen agenturen und galerien immer gern an, um anregungen zu bekommen zur selbstgestaltung. ich muss wohl zugeben, dass ich dabei wohl oft genug aber nicht eben nicht genug sand in die augen gestreut bekam - es ist eben nicht alles gold was glänzt.

aber das tut ja den internet-auftritten und der gestaltung dort einer website rein äußerlich erstmal keinen abbruch.

screenshut des internet-auftritts von michael schultz - vom 24.10. - 09.23 uhr






aber ich lehne mich auch getrost zurück und freue mich, auf der einen seite daran teilzuhaben und zu sehen, wie korrupt dort die "geschäfte" ablaufen und wohin sie führen - aber auf der anderen seite ja auch selbst "bescheiden" meine website als meinen dauerbrenner gestalte und meine völlig unkommerzielle kleine online-gallery und meine a_r_t-channels als digitaler "art"- und photo-bastler bewerkstellige und bespiele - einfach aus lust & spaß an der freud - und weil ich dich, wenn du magst, daran teilhaben lassen möchte...

aber verkaufen will ich nicht - ich hab aber für meine "werke" auch noch nie ernsthafte angebote bekommen...😉




einmal hat mir eine design-agentur für dieses photo-arbeit ein "honorar" von 10 (i.w.: zehn) uro angeboten... - das hab ich aber großzügig abgelehnt...



und spende meine arbeiten und meine "kunst" deshalb "bedürftigen" - und wieviel meiner werke durch download inzwischen eventuell verfremdet sich im world wide web herumtreiben ist mir dabei völlig schnurz - ich achte höchstens noch darauf, dass gegebenenfalls meine signatur noch erscheint oder kenntlich gemacht wird - aber nachhalten kann ich das auch nicht.



und diese photo-graphic wurde mal für ein lungenfacharzt-symposium in wien oder graz verwendet - für lau...



das ist meine umsetzung des satzes, der ja joseph beuys untergejubel wird: "jede(r) ist künstler - alles ist kunst" - und das wäre bei voller und allseitiger befolgung dieses "gebotes" ja die totale inflation des kunstmarktes und der niedergang all der galerien, besonders die, die sowieso schon vor sich hindümpeln - und das scheinen nicht zu wenige zu sein...

klopf auf holz - und chuat choan - wird schon wieder - mach das beste draus ...

... und dazu schau auch hier

buchpreis: ist der ruf erst ruiniert - lebt es sich ganz ungeniert


Deutscher Buchpreis 
Fehl am Platz

Von Gerrit Bartels - Tagesspiegel

Am Montag wird der Deutsche Buchpreis verliehen - die Jury aber hat sich vorab diskreditiert. Ihre Devise: Bücher verhindern - oder gut verkaufen.

Die Jury für den Deutschen Buchpreis, der am Montag zum fünfzehnten Mal vergeben wird, hat es noch nie leicht gehabt. Sie setzt sich jedes Jahr aufs Neue aus Kritikerinnen, Buchhändlern und anderweitigen Literaturvermittlern zusammen, und jedes Jahr gibt es von der Literaturkritik und manchmal dem Buchhandel Gemosere an den nominierten Romanen.

Das gehört sich so, das ist schon Ritual, das macht ein bisschen den Reiz dieses Preises aus, der den Anspruch hat, den „besten Roman des Jahres“ zu küren.

In diesem Jahr sorgen jedoch nicht nur Longlist- und Shortlist-Auswahl für Stirnrunzeln und noch mehr Bedenken hinsichtlich der Bedeutung dieses Preises. Da waren einfach zu viele gute und wichtige Romane übergangen worden.

Am vergangenen Wochenende hat dann auch noch eins der Jury-Mitglieder, die Wiener Buchhändlerin und Schriftstellerin Petra Hartlieb, in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ einen Text über ihre Arbeit als Jurorin des Deutschen Buchpreises veröffentlicht.

Literarische Qualität scheint Hartlieb egal zu sein

Und der lässt leider tief blicken und die Frage stellen, ob Hartlieb und womöglich gleich die gesamte diesjährige Jury sich ihrer Verantwortung, diesen Preis angemessen zu repräsentieren, bewusst ist.

Schon dass dieser Text vor der Preisverleihung und sogar der letzten Jury-Sitzung erschienen ist, macht keinen guten Eindruck. Wie es in einer Jury zugeht, ist danach noch interessant genug.

Doch was Hartlieb schreibt, weckt genau die Zweifel an ihrer Befähigung, Mitglied der Buchpreis-Jury zu sein, die sie selbst artikuliert. „Bin ich deswegen in einer so wichtigen Jury fehl am Platz?“ fragt sie, weil sie als Buchhändlerin eine andere Herangehensweise als Germanisten oder Literaturkritikerinnen habe, ihr Referenztitel, Bezüge zu Klassikern oder gar Selbstbewusstsein fehlen würden.

Nur gut, beruhigt sie sich, und da wird es problematisch, „dass es hier um den Preis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels geht, nicht um den Büchner- oder Bachmannpreis.“ Schließlich solle der Roman, der hier gekürt wird, „in großen Mengen über den Ladentisch“ gehen.

So etwas wie literarische Qualität oder gar literarische Kühnheit, scheint ihr egal zu sein.
Sie gesteht offen, manches Buch nicht lesen zu können, „ich kann das nicht verstehen, ich kann das vermutlich nicht verkaufen“ – und zitiert zu allem problematischen Überfluss aus einer Mail des anderen Buchhändlers in der Jury an sie, Björn Lauer: „Wir müssen das verhindern“.

Das sei ein „rettender Anker“ für sie gewesen, so Hartlieb. Ihre Freude ist dann auch groß darüber, dass vor allem ihre Kollegen und Kolleginnen im Buchhandel die Longlist mit ihren „gut verkäuflichen“ Titeln loben.

Der Buchhandel freute sich über „gut verkäufliche“ Titel der Longlist

Aus all dem lässt sich ableiten, dass für Börsenverein und Jury der beste Roman des Jahres nur der potentiell am besten zu verkaufende Roman sein kann. Und dass alle anderen Kriterien eine, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielen, literaturkritische zumal.

Es wird am Montagabend also Saša Stanišics Buch „Herkunft“ gewinnen, das verkauft sich gut. Oder nein, das hat sich schon viel zu gut verkauft, wir wollen doch noch einen zweiten kommerzielle erfolgreichen Roman des Jahres haben – so dürften die Diskussionen in der diesjährigen Jury mitunter verlaufen sein.

Dem Renommee des Deutschen Buchpreises ist Hartliebs öffentliche Offenbarung nicht förderlich. Ein Segen für die Buchhändlerin, dass sie, wie sie ebenfalls schrieb, vor ihrer Juryarbeit wenigstens noch schnell T.C. Boyles jüngsten Roman „verschlingen“ konnte – und der neue von Stephen King schon auf sie wartet.

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dass in einer neoliberalen kapitalismusgesellschaft der buchhandel keine insel ist, und es offensichtlich um verkauf und knete geht, statt um literatur oder gar poetik oder linguistik oder gar kunst, war ja eigentlich zu erwarten. 

aber ich hatte mir 2015 auch den romen vom preisträger frank witzel erstanden mit dem gar nicht so verkaufsträchtigen "68-er"-titel:
  • Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969.
voll großer und stolzer erwartungshaltung (...ich lese hier das beste in deutscher sprache - das was derzeitig "in" ist...) begann ich heißhungrig mit der lektüre in der hoffnung, dass es eine arbeit ist über meine lebenszeit (ich bin jahrgang 1947 - war 1968 folglich 21 jahre alt - und hatte ja die raf und rudi dutschke von ferne aber manch "manisch-depressiven teenager" leibhaftig kennengelernt.

aber nach ca. 168 seiten habe ich dann aufgegeben - und festgestellt, dass "hohe literatur" doch etwas komplizierter ist, um es einfach so wegzulesen oder mal gerade "echt reinzuziehen"...

von daher kann ich die einlassungen im kern wenigstens hier und da von petra hartlieb in der "presse" durchaus verstehen ("wir müssen das verhindern") - aber: vor vier jahren war also scheinbar im börsenverband eine jury für den buchpreis berufen, die durchaus linguistisch-poetisch verschwurbelte sprachpurzelbäume und verästelungen und fast beatliteraturmäßige cut-up storyinszenierungsschritte zu schätzen wussten.

insgesamt wird aber ein spitzenverband des deutschen buchhandels heutzutage schon auf verkaufsauflagen blinzeln müssen - für seine einzahlenden migliedsverlage. denn er betreibt ja in frankfurt zur buchmesse mit das geschäft der international zu vergebenen lizenzen für verlage, film, funk und fernsehen, hinter denen ja auch wieder weltweite wirtschaftliche interessen stehen - und die werbeindustrie und amazon und thalia und und und.

wenn ich heutzutage eine buchhandlung betrete, finde ich - egal wo - auf den angebotstischen auch nur den derzeitigen "mainstream" einer "bewährten" gängigen überall gleichen angebots-kollektion, die dadurch aber ihre auflagen immer mehr steigern kann. die wirklichen und tatsächlichen "entdeckungen" und "schmankerl" sind nicht mal mehr unter dem ladentisch oder hinter dem thresen oder in der leseecke zu finden, die finde ich vielleicht zufällig im netz, oder noch in den kleinen ums überleben kämpfenden wohlsortierten buchhandlungen, die sich um den verlags-"mainstream" nicht scheren, aber dafür auf lockrabatte der großen verlagsvertriebe verzichten müssen.

die bestseller, preisträger und der verlags-"mainstream" insgesamt wird aus markttechnischen überlegungen heraus "gemacht" und werbemäßig hochgepowert und gesponsert in die feuilletons - und auch die besprechungen sind auftragsarbeiten und werden gegen honorar geschrieben und werden nicht etwa "selbstlos" veröffentlicht.

aber auf die diesjährige preisjury zurückzukommen: mir scheint ganz ehrlich die lesbarkeit für ein großes otto-und-liesel-normalverbraucher-publikum schon auch ein qualitätsmerkmal für "große literatur" sein zu dürfen - ob ich das nun vorab auf einer ganzen seite als jurymitglied aber der österreichischen "presse" frank und frei "stecken" muss - das sei mal dahingestellt.

mit der abgebildeten aber ehrlichen grundmeinung von petra hartlieb hätte sie vielleicht die berufung in das hehre bewertungsgremium für den deutschen buchpreis 2019 ablehnen sollen - oder es war bewusst eine ihr zugeschriebene marketing-rolle, die sie damit ausgefüllt und mit bravour erfüllt hat: denn seit trump wissen wir ja - auch negative schlagzeilen sind schlagzeilen und füllen den raum: und alle bedeutenden feuilletons in diesem unserem lande haben ja pünktlich zur preisverleihung von diesem vielleicht nur vermeintlichen lapsus der frau hartlieb berichtet ... das wertet den preis insgesamt nicht nur ab, sondern untermauert die freien und hehren aspekte einer jury - vielleicht gibt im nächsten jahr ein top-linguist irgendeiner uni aus der jury ein vorab-interview, vielleicht besser der f.a.z. vielleicht auch der literaturbeilage in der "welt", wo dann auch gleichzeitig der siegerroman als fortsetzung mit abgedruckt wird - oder so...

wenn die zeit uns von der decke tropft

an manchen samstagen ist blog-mäßig - also ich meine text-mäßig - irgendwie "tote hose". da blättere ich in allen möglichen publikationen, um anregungen zu bekommen, meinen senf dazuzugeben: aber da finde ich kein pack-ende, keinen ansatzpunkt, in den ich einhaken könnte.
es ist nicht so, dass mir die sprache verschlagen wäre ob der internationalen und nationalen ereignisse... - nee - ich freu mich auch, dass es zwischen russland und der ukraine zum gefangenaustausch gekommen ist - aber all dieses getöse von johnsontrump bin ich so leid, diese winkelzüge in ihrem zockergehabe, um irgendwie und irgendwomit knete zu machen... und um ihrer ego-selbstdarstellung willen ...- und alle medien starren wie die kaninchen auf die beiden schlangen - und vermelden jeden rülpser und jeden furz ... - ach - ich bin das sooo leid ...
und just in solchen augeblicken küsst mich meistens die muse wach: im "tagesspiegel" fand ich nämlich diese seite -
Im Labyrinth der Erinnerung. Grundlage der Collagen von Susa Templin sind kleine Raummodelle und Fotografien von Architektur, in denen die Künstlerin gelebt hat. Foto: Dorothée Nilsson Gallery

mit folgenden erläuterungs-texten:

DIE KUNST 
Sites and Constructions. Susa Templin ist eine Reisende. Egal, ob sie sich in fremden Regionen der Welt aufhält oder zuhause in Berlin, die Räume, in denen sie sich bewegt, nimmt sie mit besonderer Aufmerksamkeit wahr, sieht sie als Speichermedien für Erlebnisse und Gefühle und macht sie zum Ausgangspunkt ihrer subjektiven fotografischen Arbeiten. Ein Treppenhaus in dem Gebäude, das sie bewohnt, ein Geländer, ein Vorhang, ein Fenster, alles kann von Bedeutung sein. Die architektonischen Details hält Templin mit der Kamera fest, arrangiert sie in Modellen aus Papier und Karton, die sie wiederum erneut abfotografiert, alles analog. So werden ihre Fotoskulpturen gleichzeitig wieder zum Motiv. Im letzten Schritt vergrößert Templin die so gewonnenen Bilder auf raumhohe Displays, arrangiert sie zueinander oder verschmilzt sie mit dem Ausstellungsraum. So beobachtet sie, wie Räume und persönliche Erinnerungen sich durchdringen, nutzt ihre fragilen, pastellfarbenen Collagen wie ein Tagebuch, das immer wieder neue, zeitlose Geschichten produziert.

DIE KÜNSTLERIN
Susa Templin, 54, ist in Hamburg geboren und studierte an der Hochschule für Bildende Kunst (heute UdK) in Berlin und an der Städelschule in Frankfurt. Während eines Atelierstipendiums in New York entwickelte sie ihren Umgang mit Fotografie weiter, indem sie ihre Architekturaufnahmen in den Raum hineinwachsen ließ. Heute lebt und arbeitet Susa Templin in Berlin und Frankfurt. 2018 waren ihre Fotocollagen in der Einzelausstellung „Sites and Constructions“ in der Dorothée Nilsson Gallery in Berlin zu sehen. Zuvor auch in der Kunsthalle Nürnberg, im Museum für Photographie Braunschweig und in Ausstellungen in den USA und Brasilien. Seit Juli 2019 ist Susa Templin Stipendiatin des „AArtist in Residence“-Programms des Auswärtigen Amts und hat das spektakuläre Studio auf dem Dach der Behörde bezogen. Dort entwickelt sie ihr Projekt „Sites and Constructions“ weiter. Am 10. September findet um 18 Uhr ein Künstlergespräch statt (Kurstr. 36). Anmeldung unter aartist@diplo.de. rieg

und schwupps - hat mich diese seite aufs äußerste inspiriert - und mich zu dieser digitalen arbeit angeregt mit übereinandergelegten smartphone-fotos aus der hüfte - und dann weiterverarbeitet mit einigen graphic-filtern aus der bildbearbeitungs-software - der nachmittag war wenigstenhs gerettet:


sinedi|art: wenn die zeit uns von der decke tropft...



und hier sind die original ausgangs-fotos vom smartphone zu der arbeit oben:






ein rechts - ein links: das deutsch-deutsche strickmuster im kopf




Eine kleine Psychoanalyse der AfD

Was die Rechten in Ostdeutschland so erfolgreich macht

Von Caroline Fetscher | Tagesspiegel



Aus der rechten Rhetorik im Osten spricht auch das Unbewusste der Ex-DDR: Von Schuld und Scham, von verschobener Wut und nachgeholtem Aufstand. Ein Essay.

Was ist passiert? Was ist das für ein politischer Klimawandel? Wie kann es sein, dass Groll und Aversion, Verdruss und Hass weite Teile der politischen Landschaft in den neuen Bundesländern prägen?

Jetzt, vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, werden rationale Erklärungen gesucht, es wird erinnert an die enormen Anstrengungen auf beiden Seiten der einstigen Mauer. Im Osten mussten sich fast alle und fast über Nacht in neue Gesetze, Behörden und Regularien einfinden. Aus dem Westen flossen, je nach Schätzung, 1200 bis 1400 Milliarden Euro in den Aufbau Ost. Es war und ist das wohl monumentalste Programm einer ökonomischen Entwicklungshilfe seit dem Marshall-Plan, mit dem Amerika den Aufbau in der Bundesrepublik und ganz Europa nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte, nach einem heißen Krieg. Der Kalte Krieg endete glücklich, ohne in einen heißen zu münden.

Doch offenbar wird das Glück im Osten des Landes von großen Gruppen nicht honoriert, deren Unmut die AfD politisch bündelt. Selten ist dabei noch die Rede von realen Ungerechtigkeiten, etwa den durch die „Treuhand“ entstandenen Verwerfungen. Auch die Dominanz von Leitfiguren aus dem Westen wie Alice Weidel, Alexander Gauland oder Thilo Sarrazin stört nicht, denn AfD, Pegida und Co bewirtschaften inzwischen ganz andere Äcker.

Nahezu verzweifelte Gegenwehr

Auf selbstgepflügter Scholle säen sie xenophobe, europafeindliche und antidemokratische Ressentiments, und an ihren rechtesten Rändern siedeln agrarische Öko-Gruppen mit völkischer Rasseideologie.

Unlängst haben Ehemalige der DDR-Bürgerbewegung einen Offenen Brief wider die „Alternative für Deutschland“ verfasst, ein Dokument der Klarstellung, des Zorns und auch des perplexen Entsetzens: „Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf“.

Der Brief, gezeichnet unter anderem von Marianne Birthler, Wolfgang Thierse und Gerd Poppe, beklagt die „absurden Gleichsetzungen und Aneignungsversuche der Revolution von 1989“. Nahezu verzweifelt wehren sie sich gegen behauptete Parallelen zwischen der DDR und der Bundesrepublik, gegen das neurechte Argument, wonach ein vollendender Aufstand „des Volkes“ noch ausstünde – eine „Geschichtslüge“, wie die Unterzeichner zu Recht schreiben: „Die DDR war eine kommunistische Diktatur, und die Bundesrepublik ist eine freiheitliche Demokratie.“

Psychoanalytisch gesehen ist gerade „das Absurde“ besonders ergiebig, da hier das Unbewusste spricht. Es lässt sich lesen nach den von Freud für die Traumdeutung erkannten Dynamiken der Verschiebung, Verdichtung und Verdrängung.

Epochenreste der DDR und auch der NS-Zeit

Jede Verschwörungstheorie spiegelt in den Alltag hineinkatapultiertes Material aus Alpträumen, die ihrerseits Ursachen haben, und so verhält es sich mit dem reichhaltigen „Traummaterial“, das die Aussagen der AfD darbieten. Durchschaubar ummanteln inzwischen pragmatisch realpolitisch klingende Konzepte die wirksamen Partikel, den „absurden“ Kern der Aussagen. 

Die  Binnenlogiken des Absurden, seine Phantasmen und Widersprüche sind aufschlussreich, leuchtet man in das Assoziationsgeflecht hinein, das aus Reizvokabeln besteht wie „Flüchtlinge“, „Asylbetrüger“ „Grenzöffnung“, „Umvolkung“, „Gleichschaltung“ „Wölfe“, „Nation“, „System“, Identität“ oder „Lügenpresse“.

Ambivalenzen und Inkonsistenzen, halb verarbeitete Epochenreste der DDR und auch der NS-Zeit sind, samt Scham, Schuldgefühlen und Ängsten, prägend für das Absurde in der AfD, für ihre Wunschträume wie Alpträume. Träume gilt es zu entschlüsseln. Sie reden nicht über die Kanzlerin, wenn sie über „Merkel“ reden, nicht über heutige Flüchtlinge, wenn sie über „Grenzen“ reden.

Sie reden nicht über die heutigen Medien, wenn sie von „Lügenpresse“ reden und von „Gleichschaltung“. Vielmehr geht es um unverarbeitetes Material aus der Vergangenheit.  In Leserbriefen zu Kritik an rechter Politik sind Aussagen zu lesen wie: „Ihre Zeitung ist das Neue Deutschland“, oder: „Ich habe in der DDR gelernt was es heißt, dem Staat hörig zu sein. „Nun muss ich heute erleben welche Ergebenheit viele Journalisten diesem BRD-Regime zollen.“ Oder: „Ohne das eigene Gehirn zu benutzen wird alles nachgebetet, was Frau Merkel vorgibt. Das ist an Duckmäusertum kaum zu überbieten.“ Er denke da, schrieb einer, an seinen „Opa, der von Honecker nicht lassen wollte“.

Der Schriftsteller Uwe Tellkamp schrieb, Kritik an rechter Politik erinnere daran wie „Funktionäre des Schriftstellerverbands gegen missliebige Kollegen“ gesprochen hätten, an „gleichgeschaltete Presseorgane“, und er warnte vor einer „Gesinnungsdiktatur“.

Den Protest aus vollem Herzen nachholen

Tatsächlich hatte in der DDR keine Pressefreiheit existiert und erzwungen wurde der dauernde Kotau vor der Staatsführung. Jetzt darf jeder frei reden, und oft scheinen gerade die, die damals nicht fähig oder willens zu Widerstand waren, den Protest aus vollem Herzen nachzuholen, wie um die Scham über das frühere Schweigen zu überdecken. Jetzt darf man öffentlich und namentlich klagen, beanstanden, sich empören, demonstrieren, aufbegehren und das im weiten Rahmen des Rechts an jede Zeitung schicken, öffentlich und mit eigenem Namen, ohne Repressalien zu befürchten.

Allerdings haben in der Demokratie auch die Anderen das Recht auf freie Meinung, auf Kritik. Diese wiederum wird attackiert wie von missachteten Zensoren, als sei die demokratische Freiheit der Feind. Im nachgereichten Protest wird am falschen, am verschobenen Objekt, ausagiert, was nicht verarbeitet ist, und das ist Beleg für dafür, dass bei einem Teil der Bevölkerung die Wende tatsächlich noch nicht vollendet ist – die Wende zur Demokratie.

Sie reden nicht über Wölfe, wenn sie über „Wölfe“ reden. Im Januar 2018 hatte die AfD in einer Anfrage an den Bundestag vor der Zunahme von Wölfen gewarnt, die die Tiere zur „artfremden Lebensweise“ brächte. Unterschieden werden müsse in Deutschland zwischen echten Wölfen und „Unterarten bzw. Mischlingen, die keinen Schutzstatus haben“.

Kaum codiert ist in der Rede vom Totemtier des NS der Rassismus, auf dem die verschiebende Erzählung fußt. Beim Kyffhäusertreffen der AfD im Juni 2018 lud Bernd Höcke ein zur Identifikation mit der mächtigen Märchenfigur: „Heute lautet die Frage Schaf oder Wolf. Und ich, liebe Freunde, meine hier, wir entscheiden uns in dieser Frage: Wolf.“

Sie reden nicht von heutigen Grenzen, wenn sie von „Grenzen“ reden. Extreme Empörung rief bei der AfD die „Grenzöffnung“ hervor, die „illegale“ von Ende 2015. Im Dauerrufen nach Grenzschließung und Absperrungen offenbart sich auch ein hochambivalentes Verhältnis zur einstigen Mauer. Deren Durchbrechen sollte den Weg zu den Konsumpalästen des Westens bahnen, und es kam so.

Offene Grenzen, freie Mobilität - ein Wunschtraum der eingezäunten Bevölkerung war in Erfüllung gegangen. Dass Grenzsperren einfach eingerannt werden konnten, wie beim „Europäischen Picknick“ in Ungarn oder in der sagenhaften Nacht mit dem Schabowski-Ausspruch „Das gilt ab sofort…. unverzüglich...“, das war wie ein Wunder und der Jubel war laut.

Doch das Fehlen der Mauer brachte dann Unruhe, Risse und Brüche, eine Lawine von Veränderungen. Keiner kontrollierte das. Keine schützende Wand mehr hegte das Geschehen ein. Das löste Ängste aus. Und ein Teil des DDR-Selbst wird, bewusst oder unbewusst, ein schlechtes Gewissen gehabt haben.



Argwohn gegen die Demokratie überhaupt

Von klein auf erzogen, den Staat zu preisen, das einen ernährte, hatte man ihn schnöde verraten und war dem Klassenfeind in die Arme geflüchtet. Übertönt wurden Schuldgefühl und Ängste vom Stolz auf die gezügelte Kühnheit, mit der Tausende die Implosion der DDR beschleunigten. Warm war außerdem das Willkommen, es gab Umarmungen, Geschenke, Begrüßungsgeld. Not und Armut würden ein Ende haben!   

2015 wiederholt sich das Szenario einer Grenzöffnung. Diesmal durchbrachen andere Gruppen die Absperrzäune, andere Flüchtende drängten aus Not und Armut ins bessere Leben. Jetzt waren diese Leute willkommen und jetzt wurden deren Leidenswege erzählt. Die laufen ihrem Land davon und kassieren unverdient Staatsgelder - wie damals die Ex-DDR-Bürger. Und jetzt konnten Illoyalität und Übertretung am verdrängten Anderen geahndet und  bestraft werden, am „Fremden“.

Bejubelte man damals die humanitäre Lücke im Zaun, beschimpft man nun die skandalöse Lücke im Rechtsstaat, vom Verlust an Souveränität, der dem „System Merkel“ ebenso angelastet wird, wie „Brüssel“, der Europäischen Union. Argwohn richtet sich gegen vermeintlichen „kollektiven Rechts- und Verfassungsbruch auf breiter Basis“, Argwohn gegen die Demokratie überhaupt.

Rechte reden nicht von Migranten, wenn sie „Umvolkung“ sagen. Doch eine tatsächliche „Umvolkung“ hatte es nach der Wende gegeben, als Abertausende, vor allem Frauen und gut Ausgebildete, in den Westen eilten, und als von dort Funktionseliten kamen, um zentrale Posten im Osten zu beziehen.

Die Wende attackierte Selbstbewusstsein und Selbstverständnis

Wer älter war, fester verankert oder weniger alert, dem konnte schwindlig werden bei diesem rasanten „Bevölkerungsaustausch“, einem traumatischen Angriff auf das gewohnte Gefüge. Man war „nicht Herr im eigenen Haus“, wie Freuds Metapher für das Unbewusste lautet. Wie beim Träumen verschiebt sich auch dieser Inhalt heute auf „die Fremden“. Aus dem Schock durch die Verwestlichung des Ostens wurde Hass auf die fantasierte „Islamisierung des Abendlands“.

Es geht nicht um den Osten, wenn die Ost-AfD „Identität“ sagt. Angeblich bedroht wird  die Identität des gesamten „deutschen Volkes“ aktuell durch unkontrollierte Zuwanderung. „Den Prozessen, die auf die Zerstörung unserer Identität abzielen, ist entgegenzutreten“, verkündet die AfD Thüringen im Aufruf „gegen ein multikulturelles Deutschland.“

Nachgerade eliminiert worden war in der Tat eine deutsche Identität, und zwar die ostdeutsche Identität der einstigen DDR. Die Wende attackierte Selbstbewusstsein und Selbstverständnis vor allem der Mehrheit, die sich mit der DDR arrangiert hatte. Wofür Bürgerinnen und Bürger gestern noch die Winkelemente geschwenkt und die Straßenränder gesäumt hatten, das besaß heute keinen Wert mehr. 

Kein Wunder, dass sich die Bürgerrechtler von damals wundern.

Ratlos stehen sie vor den Ressentiments der neuen Rechten im Osten, denn sie teilen sie nicht. Warum? Weil sie aktiv waren, Widerstand leisteten, wussten, was Demokratie bedeutet und sich nicht mit der DDR identifiziert hatten. Daher müssen sie heute nicht mit Scham und Schuldgefühlen hadern, mit Wut, Strafangst und Hass auf eigene Passivität und Mitläufertum in der Gesinnungsdiktatur der Vergangenheit.

Das Paradox der Putin-Verehrung im Osten

Das größte Paradoxon, und ein starkes Symptom für die ambivalente Verarbeitung der DDR-Epoche ihrer Biographien, ist die Zuneigung der AfD-Getreuen vor allem im Osten für die „gelenkte Demokratie“ unter Vladimir Putin. Während der auf dem Grundgesetz basierende demokratische Konsens als „BRD-Regime“ denunziert wird, scheint der teilautoritären Willkürherrschaft in Russland eine gewisse Nostalgie zu gelten: Das riecht vertraut nach dem behüteten Früher.   

In einem Text, den die Philosophin Agnes Heller kurz vor ihrem Tod am 19. Juli für das Europäische Forum Alpbach 2019 verfasst hatte, ging es um Freiheit und Demokratie.

Illusionslos warnte Heller, Holocaust-Überlebende aus Ungarn: „Freie Menschen können ihre eigene Unfreiheit wählen“. Menschen seien auch „frei, sich Diktatoren, Tyrannen, Oligarchen und totalitären Regimen zu unterwerfen“. Wenn sie das wollen und wählen, hat es Ursachen. Die zu erkennen kann ein Schutz sein für die Demokratie.

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natürlich ist dies auch nur wieder ein kleines puzzle-teilchen dazu, dieses deutsch-deutsche verhältnis zueinander und durcheinander von heute verstehbar zu machen.

und doch ist dieser versuch, mit freudscher psycho-traumdeutung einmal an die sache heranzugehen so verkehrt nicht und aller ehren wert.

zumal ich ja auch den psycho-theorien nachhänge einer transgenerationalen weitervererbung "bis in die 3. und 4. generation", und der oftmals verdrängten pathologischen folgen verdrängter und beschwiegener familiengeheimnisse - fast überall. und früher seufzten dann die alten etwas resigniert den spruch: "unter jedem dach ein ach"...

ich bin davon überzeugt, dass unverarbeitete kollektive "volks"erlebnisse und traumatische nationale "zusammenbrüche" - oder auf der anderen seite gleichzeitig die von anderen dabei wahrgenommene "befreiung von der unterjochung" - ihre innerpsychischen und körperlichen folgen zeitigt: in jedem einzelnen genauso wie im "kollektiv" - in einem von den nazis so genannten "volkskörper".

und bei vielen ist das ganze dann ein leben lang oder  sogar ein paar nachfolgende generationen lang oft zuerst die stumme hinnahme die in verdrängung mündet, abgelöst vielleicht dann bei manchen durch eine emsige und manchmal lautstarke aufarbeitung - und die erinnerungskultur über alle individuellen empfindungen hinweg - und damit vielleicht die erfolgreiche adaption, integration und bearbeitung - oft sogar die von eingefangenen handfesten abgespaltenen posttraumatischen belastungsstörungen.

insofern sind die einwohner und bewohner in diesem unserem lande eigentlich auch alle mehr oder weniger in einem innerpsychischen sich verschiedenartig luftmachenden "patientenstatus". und doch glaube ich daran, dass fast alle "völker" dieser erde und damit wohl alle menschen irgendwie ja beeinflusst sind vom be- und verschweigen erlebter traumatischer entwicklungen ihrer eltern und großeltern oder ihrer umgebung, oder von der "geschichte" des staates, dem sie sich zugehörig fühlen. in israel wird das wahrscheinlich beispielsweise ganz anders erlebbar als in ägypten nach dem sogenennaten "arabischen frühling" - und die kurden erleben das anders als die bewohner der krim.

und individuell scheiden sich dabei dann ja die geister: die einen sagen so und die anderen so... - "watt den eenen sin uhl, is den annern sin nachtijall" - was der eine als unschätzbaren vorteil genießen lernt, verdrießt den anderen - und die gesellschaft scheidet sich in deutschland z.b. in wiedervereinigungs-gewinnler und -verlierer - in flucht-geeinner und -verlierer - weil ein jeder eine andere erwartungshaltung eingepflanzt bekommen hat oder sich mit seinen realen erlebnissen auf dem boden der vorgeformten "vor"urteile heranzüchtet - je nachdem...

und jeder verbraucht sich so gut wie er kann - der eine so, der andere so - 

und chuat choan und nix für ungut



tödliche verstrickungen

click here = ausriss aus dem sinedi-blog 31.05./01.06.2019



direkt in den ersten juni-tagen dieses sommers nahm ich hier in diesem blog stellung zu einem "spiegel"-beitrag über die in dublin/irland wohnende deutsche bloggerin marie-sophie hingst, die in ihrem blog seinerzeit von identitäten berichtete, wobei sie jüdische familienmitglieder und verwandte aus dem nichts erfand, die angeblich alle im holocaust umgebracht wurden - und sie hat sogar ein paar dieser erfundenen identitäten ins jüdische dokumentationszentrum yad vashem eingereicht, um sie als holocaust-opfer zu benennen und beurkunden zu lassen.

all diese angaben waren falsch und erdacht, wohl nur um eindruck zu schinden, wie die recherchen des spiegels zweifelsfrei ergaben.

frau hingst stritt das aber gegenüber dem spiegelredakteur martin doerry vehement ab - und sprach davon, sich einen anwalt zu nehmen, um all diese "story's" richtigzustellen, die maßgeblich ihren blog füllten und von vielen followern geteilt wurden - und die ihr mitgefühl aussprachen.

über diesen anwalt ließ frau hingst dann erklären, sie habe in ihrem blog "erhebliche schriftstellerische freiheiten" walten lassen.

dass sie damit aber menschen verletzt habe, die tatsächlich als nachfahren der ermordeten ns-opfer noch litten und trauerten, täte ihr leid...

schon damals schwante mir nichts gutes und das alles klang doch sehr pathologisch - und ich schrieb u.a. in meinem post dazu:
doch im spiel mit (er- und gefundenen) identitäten balanciert man auch gemeinhin immer auf dem drahtseilakt zwischen "genie & wahnsinn" entlang: wenn das rollenspiel pathologisch ausartet und man wie in der schizophrenie den inneren identitätshalt ganz verliert oder vergisst und nicht mehr aufgefangen wird - und nicht mehr weiß, wer man ist: so lässt sich in den psychiatrie-diagnosen zum verhalten von frau hingst auch eine "artifizielle störung" ausmachen, die man treffend mit "münchhausen-syndrom" bezeichnet - aber ein solches verhalten gibt es ansatzweise auch bei der "borderline"-persönlichkeitsstörung (bps). doch ich will hier nun nicht laienhaft herumstochern - denn mit einer einschlägigen diagnose würde ja frau hingst sogar noch entlastet - etwa im sinne von "sie konnte ja gar nicht anders"...
heute lese ich nun im berliner "tagesspiegel" folgende nachricht:
Umstrittene Historikerin  
Bloggerin Marie Sophie Hingst offenbar tot 
Sie gab sich als Nachfahrin von Holocaust-Opfern aus – obwohl sie keine jüdischen Verwandten hatte. Sie schickte Shoah-Akten an die israelische Gedenkstätte Yad Vashem – doch die hatte sie gefälscht. Hunderttausende lasen ihre Texte – und hielten sie für real. Für ihren besonderen literarischen Stil wurde sie zur Bloggerin des Jahres gewählt, bis der Preis ihr wieder aberkannt wurde. Marie Sophie Hingst schuf sich eine eigene Wahrheit. Sie flog auf. Nun ist sie mit nur 31 Jahren gestorben. Über die genaue Ursache ihres Todes gibt es von offizieller Seite bisher keine Angaben. Darüber berichtet hatte die „Irish Times“ in einem ausführlichen Porträt.

Der Autor der „Irish Times“ zeichnet darin das Bild einer Frau, die schwere psychische Probleme hatte. Bei einem Treffen am Wannsee habe Hingst ihm gegenüber trotz allem an ihrer Version der Geschichte festgehalten, sie habe sogar einen Judenstern aus Stoff präsentiert, der angeblich von ihrer Großmutter stammt, die in Auschwitz gewesen sein soll. Als der Reporter bei Hingsts Mutter angerufen habe, widersprach diese ihrer Tochter. Es gebe keine jüdische Vergangenheit in der Familie. Von den 22 Biografien, die Hingst an Yad Vashem geschickt hatte, existierten 19 überhaupt nicht.

Herausgefunden hatte das im Mai ein Journalist des „Spiegel“. Der Reporter hatte Hingst für seine Recherche in Dublin getroffen, wo sie lebte, und sie mit den Vorwürfen konfrontiert. An der Recherche war auch die Berliner Historikerin Gabriele Bergner beteiligt, die auf Unstimmigkeiten in Hingsts Blog aufmerksam geworden war. Die Bloggerin stritt die Vorwürfe zunächst ab, nahm sich später jedoch einen Anwalt und berief sich auf die Freiheit der Literatur. Sie habe „ein erhebliches Maß an künstlerischer Freiheit für sich in Anspruch genommen“. Zahlreiche Medien, darunter auch der Tagesspiegel, hatten im Anschluss über den Fall berichtet und Hingst für ihr Handeln kritisiert. „Sie scheint den Nimbus der Opferrolle gesucht zu haben“, hieß es in dieser Zeitung. Bei Twitter wurde der Hashtag #readonmyfake populär. Das Erfinden falscher jüdischer Identitäten sei eine Beleidigung und eine Respektlosigkeit gegenüber denen, die die Judenverfolgung wirklich erleben mussten, lautete der Tenor.

Hingst hatte "mehrere Realitäten

Hingst schien die Aufmerksamkeit fast zwanghaft zu suchen. So hatte sie in den vergangenen Jahren Artikel veröffentlicht, wonach sie angeblich eine indische Klinik aufgebaut und in Deutschland als Sexualtherapeutin für Flüchtlinge gearbeitet hatte. Das stellte sich ebenfalls als erfunden heraus. Hingsts Mutter wird in der „Irish Times“ zitiert, ihre Tochter habe „mehrere Realitäten. Ich habe nur zu einer Zugang“. Auch der „Spiegel“-Journalist hatte nach einer Begegnung mit der Bloggerin im Mai befunden: „Marie Sophie Hingst hat sich in eine Parallelwelt hineinfantasiert“, an die sie zuweilen sogar selbst geglaubt habe.

Während des Treffens mit dem Reporter der „Irish Times“ hatte Hingst gesagt, sie fühle sich, als sei sie vom „Spiegel“ „lebendig gehäutet“ worden. Auf Nachfrage des Tagesspiegels teilte der Verlag mit, man bedauere den Tod der Bloggerin, beim Gespräch in Dublin habe sie jedoch „einen konzentrierten, souveränen und keineswegs psychisch angegriffenen Eindruck“ gemacht. Hingst habe dem Magazin zwar mit rechtlichen Schritten gedroht, die aber offenbar nicht eingeleitet. Weiter hieß es in der Stellungnahme, man werde sich an „einer öffentlichen Diskussion über die Ursachen und Hintergründe des Tods“ nicht beteiligen.

Wie weit geht die journalistische Pflicht zur Aufklärung?

Hingsts Arbeitgeber in ihrer Wahlheimat Irland, die Computerfirma Intel, hatte sie laut dem Bericht der „Irish Times“ nach Bekanntwerden der Vorwürfe nicht entlassen, sondern ihr angeboten, sich hausintern psychologische Hilfe zu holen. Diese habe sie wohl auch angenommen. Die „Irish Times“ berichtet, die 31-Jährige habe sich vermutlich das Leben genommen. Sie wurde am 17. Juli tot in ihrem Bett gefunden, ein Autopsiebericht steht noch aus, es habe jedoch keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung gegeben. Sophies Mutter habe laut dem Bericht sofort Selbstmord vermutet.

Der Fall warf schnell die Frage auf, wie weit die journalistische Pflicht zur Aufklärung geht. Erste Kommentatoren im Internet schrieben, für psychisch Kranke müsse es besondere Sorgfalt geben. Eine Frage, die schon einmal aufgekommen war, vor nicht allzu langer Zeit. Ende 2018 war öffentlich geworden, dass „Spiegel“-Reporter Claas Relotius systematisch Geschichten gefälscht hatte. Ein notorischer Schwindler, der die Glaubwürdigkeit nicht bloß des Magazins, sondern des Journalismus insgesamt beschädigte. Auch damals wiesen viele Kommentatoren auf die Fürsorgepflicht hin, die gegenüber dem Beschuldigten gelten müsse. Kann jemand, der so labil ist, dass er sein gesamtes Umfeld täuscht, derart massive Kritik aushalten?

Doch was wäre die Alternative gewesen? Nicht aufklären, aus Rücksicht auf die junge Autorin? Hingsts Mutter warf dem „Spiegel“-Reporter vor, er habe „hinter den Fakten die Person nicht gesehen“.
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als "konsument" und leser des "spiegel"-berichtes über frau hingst damals ende mai/anfang juni war ich natürlich zunächst wütend über so viel unverfrorene flunkerei und irreführung - aber menschen, die frau hingst näher kannten - und die von ihren realitätsverschiebungen wussten oder sie ahnten, haben hier doch wohl eine eigentlich angezeigte hilfeleistung unterlassen.

warum man von seiten ihrer familie und ihrer angehörigen und freunde nun nicht professionellerseits bei dieser hanebüchenen geschichte maßnahmen ergriff, um sie offensichtlich hilfsbedürftig nun therapeutisch wieder aufs "rechte gleis" zu setzen - in ihren verirrungen und offensichtlichen verwirrungen von erdachten fakes - ist mir insgesamt ein rätsel. eigentlich sind solche pathologischen realitätsverschiebungen durchaus therapierbar, schreibt "irish times" - und nur ihr arbeitgeber hatte ihre eine interne hilfe angeboten, die sie nun aber nicht mehr abgeschlossen hat.

dann hätte nämlich nach einer therapie der behandelnde therapeut und der anwalt auch eine richtigstellung mit dem einverständnis von frau hingst veröffentlichen können - und das leben wäre ja irgendwie weitergegangen...

aber: "hätte - hätte - fahrradkette" ...

dem redakteur des nun sehr einfühlsamen porträts der "irish times", derek scally, hat frau hingst kurz vor ihrem ableben offenbart:
"Ich bin etwas eifersüchtig auf alle Menschen, die wussten, was sie tun wollten, die wussten, dass Wörter zu ihnen gehören", schrieb sie. „Ich bin immer nur ein gieriger Dieb, voller Hunger nach Worten. Und wie Sie und die ganze Welt sehen können, ist es nicht gut gelaufen.“ 
"irish times" berichtet, frau hingst würde am 31.07.2019 in wittenberg beigesetzt.

mir tut das tragische ende dieser entwicklung und dieser allseitigen verirrung leid.

„In der Kunst wird Obsession Gott sei Dank honoriert“ - photo-kunst von michael wolf


M I C H A E L   W O L F  1954-2019

 

click here zu michael wolf photography - website


In der urbanen Pendlerhölle

Die Urania Berlin debütiert als Kunstausstellungsort. Mit der Retrospektive „Life in Cities“ samt Bildern aus Hongkong und Tokio würdigt sie den jüngst verstorbenen Fotografen Michael Wolf

Von Gunda Bartels | Tagesspiegel


Durch das Foyer, über den Hof und hinauf in den zweiten Stock. Ein Leitsystem in leuchtendem Orange weist in der Urania Berlin den zuvor nie beschrittenen Weg. Sie führen in lichte, mit Parkett ausgelegte Räume. Jahrelang vermietet an ein Konsulat, werden sie jetzt erstmalig bespielt. Mit künstlerischer Fotografie, genauer: mit einer Werkschau des im April verstorbenen Michael Wolf.



Kunst in der Urania? Das ist neu in der ehrwürdigen, 1888 als Verein zur wissenschaftlich-technischen Laienbildung gegründeten Institution. Die Idee stammt von Direktor Ulrich Weigand, der vor seinem Amtsantritt im letzten Jahr am Bauhaus-Archiv beschäftigt war, und neue Sitten ins Traditionshaus bringt.

Die Fotografien von Michael Wolf seien die erste Wahl für die Premiere gewesen, sagt Kuratorin Lena Lucander, die vor Wolfs plötzlichen Tod im Alter von 64 Jahren noch mit ihm zusammen an der Retrospektive gearbeitet hat. „Er hat sich spontan dafür begeistert, dass seine Bilder bei freiem Eintritt an einem ohne Hemmschwelle für jedermann zugänglichen Ort gezeigt werden sollen.“ Nicht im üblichen Kunst- oder Museumskontext also, in dem der zweimalige Gewinner des World Press Photo Awards mit seinen Bildern vom Metropolitan Museum of Art in New York bis zum Rijksmuseum Amsterdam sonst vertreten ist.

Die Serie „Tokyo Compression“ (2010-2013) hat Michael Wolf von außen auf einem U-Bahnhof fotografiert.© MICHAEL WOLF, COURTESY WOUTER VON LEEUWEN GALLERY, NETHERLANDS



Tatsächlich sind Michael Wolfs Bilder aus Megastädten wie Hongkong oder Tokio das ideale Bindeglied zwischen der Kunst und der Funktion der Urania als Bürgerforum und interdisziplinärer Wissensvermittlungsstätte. Über Urbanität wird genau hier diskutiert. Und die angestammten Berliner Ausstellungsorte für künstlerische Fotografie wie C/O Berlin, das Haus am Kleistpark und andere kommunale Galerien werden die Erweiterung im Veranstaltungsspektrum der Urania mit Fassung tragen.

Dort pressen Pusher die Pendler in gestopft volle Züge.
© MICHAEL WOLF, COURTESY WOUTER VON LEEUWEN GALLERY, NETHERLANDS



Das glaubt jedenfalls Lena Lucander, die für „Life in Cities“ eng mit dem Fotomuseum Den Haag und den Hamburger Deichtorhallen zusammengearbeitet hat, wo die Schau zuvor zu sehen war. Allein aus Budgetgründen sei es der Urania gar nicht im Alleingang möglich, ständig kostenlos zugängliche Ausstellungen dieser Größenordnung zu zeigen, sagt sie. Das Zauberwort der Zukunft heißt Kooperation. „Life in Cities“ hat die Lotto-Stiftung möglich gemacht.

Ein Hochhaus in Hongkong, wo die Serie „Architectur of Density“ (2003-2014) entstand. Von 1994 an hat der Fotograf dort gelebt und lange für Magazine wie „Stern“ und „Geo“ fotografiert.
© MICHAEL WOLF, COURTESY WOUTER VON LEEUWEN GALLERY, NETHERLANDS



Und natürlich nehmen zwei berühmte Serien des 1954 in München geborenen, in Kalifornien aufgewachsenen und an der Folkwang-Hochschule in Essen beim Fotografie-Doyen Otto Steinert ausgebildete Wolf breiten Raum ein: „Architecture of Density“ (2003-2014), in der er die Fassaden der Hochhäuser in seiner Wahlheimat Hongkong zu Ornamenten und von Piet Mondrians Malerei inspirierten Farbflächen verdichtet. Und die peinigende Serie „Tokyo Compression“ (2010-2015), die die vom Bahnsteig aus fotografierten, eingequetschten Passagiere der gestopft vollen Tokioter U-Bahn zeigt. Einige kleben wortwörtlich an den Scheiben, andere haben noch einige Zentimeter Luft. Das von Michael Wolf als Weichzeichner eingesetzte Kondenswasser des Monsuns und die Demutshaltung der Menschen verleiht den Bildern die Kraft eines religiösen Freskos. Da stehen sie, die Märtyrer der urbanen Pendlerhölle.

Die Ausweg- und Endlosigkeit dieser menschengemachten Umgebung findet sich auch in Michael Wolfs Hongkonger Hochhaus-Panoramen wieder. Sie folgen einem Konzept: Wolf „plättet“ die Fassade, in dem er Erde und Himmel abschneidet. Das schafft den schön-schaurigen abstrakten Sog, der von den großformatigen, einzeln im Raum verteilten Fotografien ausgeht. Dass in der Urania der Blick durch die offenen Fenster schweifen und sich am Grün der Bäume und dem Blau des Himmels erfreuen kann, hinterfragt den auf maximale Verdichtung angelegten Städtebau der Megacitys noch zusätzlich.

Michael Wolf hat sein Fotoreporterleben als Dokumentarist sozialer Zustände erst spät, nämlich 2003 aufgegeben, um sich anschließend nur noch eigenen Serien und Fotobüchern zu widmen. Dass das so nahtlos geklappt hat, ist seiner raffinierten Bildsprache und seiner Arbeitswut zuzuschreiben. „In der Kunst wird Obsession Gott sei Dank honoriert“, war eins seiner Lieblingszitate. Dass Wolf auch ein leidenschaftlicher Sammler kurioser, vom Einfallsreichtum der Armen erzählender Gegenstände war, ist den „Bastard Chairs“ anzusehen.

Das sind ulkige selbst gebastelte Sitzgelegenheiten, die Wolf gefunden oder ihren darüber oft stark erstaunten chinesischen Besitzern abgekauft hat. Im Gegensatz zu den in Paris oder Chicago entstandenen Serien könnte man bei denen in Hongkong und Tokyo fotografierten auf die Idee kommen, dass Wolf das Klischee „asiatischer Ameisen in ihren Wohnsilos“ ausbeutet. Doch der Blick auf seine neben die kauzigen Stühle gehängten Ansichten der „Back Alleys“ genannten Gassen von Hongkong reicht, um das zu widerlegen. Da tanzen aufgehängte Gummihandschuhe im Wind, Wischmopps und Schirme verwandeln sich in wunderliche Skulpturen. Witzig sind diese Bilder, dazu poetisch und eine Verbeugung vor dem menschlichen Einfallsreichtum.


  • Urania Berlin, bis 14. August, tgl. 12-20 Uhr, jeden So 16 Uhr Führung. Das Katalogbuch „Works“ (Peperoni) kostet 60 €.

Michael Wolfs Serie "Transparent City" (2006) bietet Einblicke in Chicago bei Nacht. Einer schaut zufällig Hitchcocks "Fenster zum Hof".
© MICHAEL WOLF, GALERIE WOUTER VON LEEUWEN, NETHERLANDS







VIDEO MICHAEL WOLF ÜBER THE REAL TOY STORY




ich habe leider erst jetzt - nach seinem plötzlichen tod - diese bilder von michael wolf im tagesspiegel entdeckt - und bin natürlich gleich dieser entdeckung etwas nachgegangen - was du hier auch mit den links und den arbeiten und videos mit verfolgen kannst.

mich haben diese frontalen entlarvenden blicke und themen all dieser arbeiten sehr angesprochen - und es ist eigentlich schade, jetzt nach dem ableben vor einem fertig vollendeten oeuvre zu stehen, denn in seiner postmodernen diversität hätte uns wolf sicherlich noch einiges zu zeigen und näherzubringen - zumal er als kosmopolit auch seinen photographischen blick über alle grenzen schicken konnte - und uns diese ein- und umblicke und diese im wahrsten sinne der bedeutung zusammengepferchten "im-pressionen" zum beispiel in der serie "tokyo-compression" mitteilen konnte:

der an die scheibe verpresste fahr"gast" an der von innen beschlagenen fensterscheibe der vollgepressten u-bahn zeigt ja im augenblick des schnappschusses mit dem sich niedergeschlagenen atem und oder den ungefilterten ausdünstungen der vielen mitfahrenden menschen, warum er nun einen atemschutz trägt - nämlich um sich genau davor zu bewahren. 

und die staubbelastungen in tokyo und anderen asiatischen großstädten ist sicherlich höher als bei uns - und damit die ozon- und co²-belastung jedes einzelnen.

wenn also ein photograph diesem abgenudelten satz: "ein bild sagt mehr als 1000 worte" nun alle ehre macht, dann ist das sicherlich michael wolf, der ja auch schon einige bedeutende kunst-awards für seine arbeiten einsammeln durfte.


  • video-teaser zu eine ausstellung noch zu wolfs lebzeiten in den hamburger deichtorhallen: